Gewalt gegen Prostituierte: „Während Corona habe ich die übelsten Geschichten gehört“
„Erotisches Date im Auto“ – mit solchen und ähnlichen Texten soll eine 35-jährige Hamburgerin auf einschlägigen Internetseiten ihre Dienstleistungen angeboten haben. Vergangenes Wochenende wurde in einem Wald im Kreis Harburg ihre Leiche gefunden – mutmaßlich wurde sie von einem Freier getötet. Immer wieder kommt es zu Gewalttaten gegen Prostituierte – die Corona-Pandemie hat dieses Problem verstärkt, glaubt Stephanie Klee (59), selbst Sexarbeiterin. Im MOPO-Interview sagt sie, wie gefährlich Prostituierte wirklich leben, welche Probleme der Lockdown verursacht hat und was sie Karl Lauterbach entgegenhält.
MOPO: Frau Klee, was macht das Leben als Prostituierte besonders gefährlich?
- Deutsch (Deutschland)
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Immer wieder werden Prostituierte Opfer von Gewalt. Manche der Frauen werden in ihren Wohnungen getötet, andere an einem einsamen Ort. Erst am vergangenen Samstag wurde die Leiche einer Gelegenheitsprostituierten aus Hamburg in einem Wald bei Stelle (Landkreis Harburg) gefunden. Stephanie Klee (59) kennt die Gefahren dieses Berufes. Die Berlinerin ist selbst Sexarbeiterin, Prostitutions-Aktivistin und Gründerin des Bundesverbandes sexuelle Dienstleistungen (BSD). Mit ihr sprach die MOPO über die Gefahren für Prostituierte – vor allem während der Corona-Pandemie.
MOPO: Frau Klee, was macht das Leben als Prostituierte besonders gefährlich?
Stephanie Klee: Gefährlich ist es in dem Moment, wo ich mich nicht professionalisiere. Es gibt keine Ausbildung. Die meisten Sexarbeiterinnen, die mit dem Job anfangen, denken, es ist wie privater Sex. Das ist ein großes Problem: Wer in den Job einsteigt und nicht durch Kolleginnen professionalisiert wird, hat keine innere Alarmanlage. Man muss ja in wenigen Minuten erkennen, was will der Kunde? Ist der Kunde seriös oder verzichte ich lieber darauf?
Am Samstag wurde eine Hamburgerin tot in einem Wald in Niedersachsen gefunden. Sie hat als Gelegenheitsprostituierte gearbeitet und Sex im Auto angeboten. War das unprofessionell?
Wenn die Kollegin aus Hamburg mich vorher angerufen hätte, hätte ich gefragt: Warum triffst du dich im Auto? Hast du dir überlegt, wo du mit dem Kunden hinfährst? Hast du dir bestimmte Plätze ausgesucht?
Was für Plätze meinen Sie?
Orte, die einigermaßen sicher sind. Straßenprostituierte achten da immer drauf. Dann hätte ich sie gefragt: Hast du sowas wie ein Backup? Heißt: Gibt es jemanden, der genau weiß, wann und mit wem du dich triffst? Von so einem Treffen, wie es anscheinend ablief, hätte ich ihr abgeraten.
Kamen Sie während Ihrer beruflichen Laufbahn selbst einmal in eine brenzlige Situation?
Ich bin diejenige, die einen Kunden – noch vor dem Prostitutionsgesetz 2002 – verklagt hat. Er hat mir das Honorar weggenommen und mich aus der Wohnung rausgeschmissen. Ich stand plötzlich nackt auf dem Flur. Dabei war das ein Stammkunde, den ich schon häufiger besucht hatte. Aufgrund von irgendeiner Situation ist er da plötzlich ausgetickt. Ich habe den Prozess gewonnen. Das war ein Mosaiksteinchen hin zum Prostitutionsgesetz, wonach man uns endlich das Honorar zugesprochen hat.
Während der Corona-Pandemie mussten Bordelle immer wieder schließen. Die Prostituierten waren oft auf sich gestellt. Welche Auswirkungen hatte das?
Die Schließung der Bordelle war ein großes Problem. Einige Kolleginnen haben die Kunden zu Hause empfangen. Damit haben sie sich ihnen gegenüber natürlich geoutet. Andere haben Haus- und Hotelbesuche gemacht – die mit ähnlichen Gefahren verbunden sind. Nicht umsonst schließen sich Sexarbeiterinnen ja beispielsweise Agenturen an. Die machen nicht nur die Werbung, sie sind auch ein Stückweit für das Backup verantwortlich.
Wie sieht dieses Backup aus?
Sie fahren die Frauen ins Hotel und überprüfen, dass sie auch in einer gewissen Zeit wieder herauskommen. Das muss gewährleistet werden. Die Frauen auf der Straße machen das ähnlich, wenn sie gut vernetzt sind. Sie merken sich dann die Autonummer von dem Kunden, mit dem eine Kollegin wegfährt. Und wenn sie nach einer gewissen Zeit nicht zurückkommt, wissen sie immerhin das Autokennzeichen und den Treffpunkt.
Die Corona-Maßnahmen haben das Leben für Prostituierte demnach gefährlicher gemacht.
Corona hat viele leichtsinnig gemacht. Als Vorstand des Bundesverbandes sexuelle Dienstleistungen habe ich während der Pandemie die übelsten Geschichten gehört. Auch weil Kunden unberechenbarer waren, selbst die Stammkunden.
Woran lag das?
Die Kunden haben unter der Pandemie teilweise stark gelitten. Sie haben die Isolation nicht ertragen, die ja oft auch mit Existenznöten verbunden war. Das haben sie dann an Sexarbeiterinnen ausgelassen.
Die Kunden wurden durch ihren Corona-Frust gewalttätig?
Es gab beide Seiten: Manche sind großzügiger geworden und haben die Sexarbeiterinnen mehr unterstützt als zuvor. Sie haben für Leistungen mehr Geld bezahlt oder sogar Geld geschickt, ohne dass es zu einem Treffen kam. Andere wurden aggressiver – aber auch depressiver. Kunden, die eh Stimmungsschwankungen unterworfen und zum Teil mit Tabletten eingestellt waren, haben einen guten Ausgleich mit den Kolleginnen in den Bordellen gehabt. Das ist dann während der Pandemie weggefallen. Sie fühlten sich noch isolierter. Wir hatten einen Kunden, der Selbstmord begehen wollte. Die Situation war letztendlich ähnlich wie im Altenheim: Die Kunden hatten plötzlich niemanden mehr. Die Person, die ihnen Intimität und Nähe gegeben hat, war weg.
Sie schildern extreme Auswirkungen auf das Leben sowohl der Prostituierten als auch ihrer Kunden. Dennoch hatte man nicht den Eindruck, dass die Politik sie als systemrelevant eingestuft hat, oder?
Nein. Karl Lauterbach hat uns vorgeworfen, wir seien Superspreader. Offensichtlich hatte die Politik Fantasien, hundert Sexarbeiterinnen und hundert Kunden räkeln sich auf einem Bett. Aber die Regel ist ja ein Eins-zu-Eins-Kontakt. Man vereinbart sich, dann geht die Sexarbeiterin mit dem Kunden auf ein Zimmer – das Treffen ist nur auf diese Personen beschränkt. Wir hätten mindestens so behandelt werden müssen, wie die Kosmetik, die Friseure, die Masseure.
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Lässt sich eine Lehre aus den geschilderten Auswirkungen der Pandemie auf das Sex-Gewerbe ziehen?
Corona hat gezeigt, dass Prostitution nicht verboten werden kann. Kunden und Sexarbeiterinnen finden andere Wege. Die einzige Veränderung ist dann: Sie haben keinen Schutz mehr. Schutz bieten Bordelle, weil da Kolleginnen sind, die professionalisieren und aufeinander aufpassen – genau wie untereinander auf der Straße oder in Agenturen. Wenn eine alleine irgendwo steht, ist das nicht gesund. Und: Sexualität ist eine große Kraft. Darüber machen wir uns in unserer Gesellschaft zu wenig Gedanken – und wir sprechen zu wenig darüber.