Polizei-Experte zum Derby-Einsatz: „Wer nicht so zuschlagen will, muss das nicht tun”
Schläge gegen Kopf und Nieren: Auch Tage nach dem Stadtderby zwischen HSV und dem FC St.Pauli beschäftigt ein Video von einem brutalen Polizeieinsatz Fans und Politik. Gegenüber der MOPO äußern Polizei-Experten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Gewalt.
Schläge gegen Kopf und Nieren: Auch Tage nach dem Stadtderby zwischen HSV und dem FC St.Pauli beschäftigt ein Video von einem brutalen Polizeieinsatz Fans und Politik. Gegenüber der MOPO äußern Polizei-Experten Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Gewalt.
Was ist passiert?
Noch bevor das Derby am Freitag angepfiffen wurde, tauchte auf Twitter ein Video auf, das brutale Szenen vor dem Millerntor zeigt. Auf der eine Minute und sechs Sekunden langen Sequenz sind Beamte der Bundespolizei zu sehen, wie sie mehrere Personen aus dem St. Pauli-Fanlager am Boden fixieren.
Aber die bösen Fußballfans… #ACAB #FCSPHSV pic.twitter.com/s4rjWGditp
— Fussballmafia.de (@fussballmafiade) October 14, 2022
Die Kamera hält vor allem auf eine Fixierung drauf. Zwei Polizisten beugen sich dabei über einen in schwarz gekleideten Mann mit roter Sturmmaske, dessen Hose ein Stück heruntergezogen ist. Einer der Beamten kniet dabei auf dem linken Bein des Mannes, der andere macht sich an Oberkörper und Kopf zu schaffen – auf brachiale Art und Weise. Zunächst legt er sein Knie auf den Nacken und Hinterkopf des St. Pauli-Fans, ehe er ihm drei Mal seitlich in die Nierenregion schlägt. Nach dem dritten Schlag greift sein Kollege ihm zaghaft an die Hand, als würde er versuchen, ihn zu stoppen. Als der St. Pauli-Fan dann kurz seinen Kopf hebt, geht der Bundespolizist dazu über, ihm den Kopf wieder herunterzudrücken und dann zwei Mal mit dem Ellbogen direkt auf den Hinterkopf zu schlagen. Anschließend fixiert er die linke Hand des Mannes auf dem Rücken.
In der Videosequenz ist nicht zu erkennen, dass sich der Fußballfan wehrt. Er versucht lediglich hin und wieder, seinen Kopf mit den Händen zu schützen, ist aber ansonsten von den Polizeibeamten festgesetzt.
Video sorgt für Empörung in den sozialen Netzwerken
Als weitere Polizeibeamte sich vor die Kamera stellen und die Szene abschirmen, läuft die filmende Person weiter zu anderen Fixierungen, anschließend endet das Video. Was genau unmittelbar vor dem Beginn des Videos und danach passierte, ist bislang nicht bekannt.
Nur wenige Minuten nach der Veröffentlichung des Videos bricht dann ein Sturm der Entrüstung im Internet los, später kommentieren Politiker:innen, Polizei-Expert:innen, der FC St. Pauli sowie Fans das Ganze. Der Vorwurf, der im Raum steht: völlig unverhältnismäßige Polizeigewalt.
Wie kam es zu der Szene?
Dazu liegt derzeit nur die Darstellung der Polizei vor. Demnach versuchten rund 150 bis 200 St. Pauli-Fans – nach MOPO-Informationen gehören einige von ihnen zur berüchtigten Gruppierung „Rotsport St. Pauli“ – den mehrere Tausend Menschen zählenden Fanmarsch der HSV-Anhänger am Heiligengeistfeld anzugreifen. Der Angriff „konnte durch die Polizisten verhindert werden. Dabei kam es auch zur Anwendung von unmittelbarem Zwang“, sagte Polizeisprecher Thilo Marxsen der MOPO. Der Mann, auf den der Bundespolizist so brutal einschlägt, gehört also mutmaßlich zu den Angreifern. Allerdings kann die Polizei bislang auf Nachfrage nichts Näheres zu dem Fan und sein Agieren im Vorfeld der Fixierung sagen.
Unrechtmäßige Gewalt oder ganz normale Polizeimethoden?
Wer als Laie das Video sieht, tut sich schwer, bei Schlägen mit dem Ellbogen gegen den Kopf einer wehrlosen Person noch irgendwo eine Verhältnismäßigkeit zu erkennen. Aber auch Polizei-Experten äußern sich kritisch, wie Oliver von Dobrowolski, der Kriminalhauptkommissar und Sprecher der Initiative „BetterPolice”, die die Verbesserung der Polizei zum Ziel hat. Von Dobrowolski zur MOPO: „Ich habe mir die einzelnen Festlegehandlungen angesehen und bewerte sie wie folgt: Das Schlagen gegen die Nieren oder in den Nacken und somit gegen die Kopfregion von Betroffenen/Verdächtigen ist in einer solchen Situation, also wenn die Personen bereits in Bodenlage verbracht wurden und sich nicht aktiv, zum Beispiel durch wildes Schlagen und/oder Treten beziehungsweise Kopfstöße, zur Wehr setzen, meines Erachtens unzulässig und somit auch unrechtmäßig.“ Die Kräfteverhältnisse seien so eindeutig gewesen, dass die Polizisten die Situation auch ohne die Schläge im Griff gehabt haben müssten.
Polizei-Experten: Einsatz war nicht verhältnismäßig
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, nach Sichtung des Videomaterials. Er gibt zwar zu bedenken, dass „der Polizist bestimmt getan hat, was er gelernt hat, damit der Mann seine Arme freigibt“, aber „die Schockschläge führen nicht dazu, dass er seine letzte Abwehrmöglichkeit aufgibt. Außerdem weiß man nicht einmal, ob er überhaupt wusste, dass er seine Arme auf den Rücken legen soll“. Dabei sei es für die Beurteilung der Situation unerheblich, was zuvor vorgefallen sei.
Behr bemängelt gegenüber der MOPO, dass der Polizist nicht einmal abgewartet hätte, ob seine Schläge ihre gewünschte Wirkung erzielten. „Das ist aber eigentlich die Voraussetzung für das weitere Handeln.“ Polizeiliche Gewaltanwendung sei nur dann legitim, wenn sie noch mehr Gewalt verhindere oder unmittelbare Gefahr abwende. „Insofern halte ich das Agieren in diesem Fall für überzogen.“ Die Situation hätte sich außerdem laut Behr anders lösen lassen, zum Beispiel indem Verstärkung gerufen worden wäre. „Der Polizist hat sich bewusst dazu entschieden, diese Gewalt anzuwenden. Er ist kein Automat und muss keine Gewalt ausüben. Wer nicht so zuschlagen will, muss das nicht tun“, so Behr. Verhältnismäßig seien die Schläge des Polizisten in seinen Augen nicht gewesen.
Nach Schlägen beim Derby: Polizei will ermitteln
Zurückhaltender äußert sich die Pressechefin der Hamburger Polizei, Sandra Levgrün, gegenüber der MOPO. „Unmittelbarer Zwang wird immer dann ausgeübt, wenn eine Person sich gegen die Maßnahmen sperrt und die Hände etwa unter den Bauch hält und wir nicht sehen können, ob dort Waffen oder spitze Gegenstände sind.“
Kleinreden will man den Vorfall bei der Polizei aber nicht und kündigt Untersuchungen an. „Die in dem Video gezeigte Zwangsanwendung des Beamten wird nun auch auf ihre Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit überprüft“, heißt es.
Auch die sonst für ihre offensive Verteidigung von Polizisten bekannte Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) fordert gegenüber der MOPO, dass der Vorfall aufgeklärt werden müsse. „Die Gewalt ist ursprünglich von den St. Pauli-Fans ausgegangen, aber was dann passiert ist, muss nun aufgeklärt werden“, so der Hamburger Vorsitzende Thomas Jungfer. Auch er verweist darauf, dass ein Arm des Mannes unter dem Körper gelegen habe und „leichte körperliche Gewalt“ legitim sei, um die Arme auf den Rücken zu bekommen. Jungfer gibt zudem zu bedenken, dass „wir nicht wissen, was vorher passiert ist“.
Hamburger Politik fordert Aufklärung
Aus der Politik sind ebenfalls Forderungen nach Aufklärung zu vernehmen. Jennifer Jasberg, Fraktionsvorsitzende der Grünen, sprach gegenüber der MOPO von „schlimmen Bildern“, die lückenlose Aufklärung verlangten. Die Ergebnisse der Ermittlungen gelte es aber abzuwarten. Die Linke um ihren innenpolitischen Sprecher Deniz Celik verlangen bereits, dass der „rechtswidrige Polizeieinsatz geahndet wird“. Es verbiete sich grundsätzlich, „wehrlos auf dem Boden liegende Personen wiederholt mit Schlägen zu traktieren“.
Und auch seitens der Fußballvereine lässt man die Sache nicht unkommentiert. Der FC St. Pauli fragt ganz grundsätzlich, wie es verhältnismäßig sein könne, „auf den Kopf einer am Boden liegenden Person zu schlagen“.
Wie geht es nun weiter?
Mittlerweile ist eine Strafanzeige gegen den Bundespolizisten eingegangen und ein Strafverfahren eröffnet worden. Ob das jedoch zu etwas führt, bezweifelt zumindest Polizeiwissenschaftler Rafael Behr: „Ich bin skeptisch, was die weiteren Ermittlungen angeht. Bei G20 hat die Staatsanwaltschaft ganz andere Sachen nicht angeklagt.“
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Polizeisprecher Thilo Marxsen versichert wiederum: „Seien Sie sich gewiss, dass gerade die in Rede stehende Einsatzsituation nun Teil der intensiven, aber auch üblichen, Nachbereitung des Gesamteinsatzes ist.“
Das Derby mag zwar abgepfiffen sein, vorbei ist es aber noch lange nicht.