Warum es in Harburg immer wieder knallt – und was „Ventilsitten“ damit zu tun haben
Es scheint sich ein Trend abzuzeichnen: Vor allem in sozial schwächeren Stadtteilen Hamburgs neigen Jugendliche offenbar zu Gewalt – zuletzt sorgte die Halloween-Randale in Harburg für Diskussion, auch innerhalb der Politik ist die Entwicklung Thema. Wieso eskaliert es gerade dort immer wieder? Und woher kommt die Zerstörungswut? Die MOPO sprach mit Rafael Behr (65), Professor für Polizeiwissenschaften.
Es scheint sich ein Trend abzuzeichnen: Vor allem in sozial schwächeren Stadtteilen Hamburgs neigen Jugendliche offenbar zu Gewalt – zuletzt sorgte die Halloween-Randale in Harburg für Diskussion, auch innerhalb der Politik ist die Entwicklung Thema. Wieso eskaliert es gerade dort immer wieder? Und woher kommt die Zerstörungswut? Die MOPO sprach mit Rafael Behr (65), Professor für Polizeiwissenschaften.
MOPO: Rund 350 Jugendliche suchten am Halloween-Abend offenbar ganz gezielt die Konfrontation mit der Polizei, warfen mit Böllern, Flaschen, ja sogar mit Verkehrsschildern. Was treibt die Jugendlichen zu solchen Taten an?
Rafael Behr: Destruktive Fantasien gehören zur Grundausstattung des Menschen. Bei Jüngeren geraten diese Fantasien manchmal zu Handlungen, die wir als Zerstörungswut wahrnehmen. Dahinter steht aber nach meinem Dafürhalten eine juvenile Auflehnung gegenüber jeder Form von Ordnung und Anpassung. Das ist bei allen Jugendlichen so, es hat aber sehr unterschiedliche Ausdrucksformen. Wir nennen das auch einen adoleszenten Gewaltrausch.
Wer sind die Täter? Welcher Klientel entstammen sie?
Wir wissen nicht allzu viel von den Menschen, die Silvester oder Halloween auf der Straße waren. Einige Dinge sind aber auffällig: Es sind mehrheitlich junge Männer aus bildungsfernen Milieus, die in „gewaltgeneigten Alltagsvollzügen“ leben. Das heißt, sie kommen nicht nur an einem oder zwei Tagen im Jahr auf die Idee, Gewalt auszuüben, sondern Gewalt ist ihr täglicher Begleiter, lediglich die Ausdrucksformen sind andere. Kommen dann sogenannte Signal-Anlässe hinzu – Fußball, Silvester, Halloween oder der Nahost-Konflikt – öffnet sich quasi ein Ventil und das Gewaltpotenzial entlädt sich im Kollektiv.

Warum kommt es zu solchen Szenen, oftmals ausschließlich in „sozial schwächeren“ Stadtteilen?
Warum das in Harburg, Billstedt und anderen als sozial schwach angesehenen Vierteln passiert und nicht in Hoheluft, Marienthal oder den Elbvororten, ist relativ einfach zu erklären: In letzteren wohnen nicht so viele Menschen in prekären Verhältnissen, die jeden Tag die Erfahrung machen, dass sie gesellschaftlich abgehängt sind und wenig Chancen auf soziale Teilhabe haben. Sie spielen allenfalls als Klientel für Behörden eine Rolle. In Paris entstehen die großen Riots auch nicht im Zentrum, sondern in Banlieues, in denen Menschen unter widrigen Bedingungen leben.
Wie geht man als Polizist mit derart aggressiven Jugendlichen um?
Die Polizei macht das eigentlich ziemlich gut, auch deshalb, weil es eben weitgehend unpolitisch ist. Sie zeigt ihre Stärke, ist aber in der Auseinandersetzung auch berechenbar, anders als „Gangmitglieder“, und hält die Gewalt der jungen Leute in Schach. Das ist auf einer symbolischen Ebene die Auseinandersetzung zwischen aufmüpfigen oder wütenden Kindern und „Vater Staat“ – auch wenn in der Polizei natürlich viele Menschen arbeiten, die genau so alt sind wie ihre Klientel.
Wie bewerten Sie als Wissenschaftler die Entwicklung, dass es an Feiertagen inzwischen regelmäßig zu Ausschreitungen kommt?
In allen sogenannten Ventilsitten, die ein gewisses Maß an abweichendem Verhalten zulassen, steckt eine Disposition zur Gewalt beziehungsweise zur Übersteigerung. Das ist beim Oktoberfest so, zu Silvester, Halloween, bei Abi-Feiern, auf der Kirmes, selbst bei einigen Hochzeiten; bezeichnenderweise nicht zu Weihnachten. Gewalt ist halt eine „hässliche Seite der Wirklichkeit“, wie Jan-Phillip Reemtsa richtig sagt.