Dealer-Kernschmelze: Warum die Polizei gerade reihenweise Drogenhändler einbuchtet
Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Hamburger Polizei eine neue Meldung dazu veröffentlicht: Regelmäßig nehmen Beamte gerade Dealer, Geldkuriere und Aufbewahrer von Drogen in eigens angemieteten Wohnungen, sogenannte Bunkerhalter fest, bringen sie mit Haftbefehlen direkt ins Gefängnis. Kokain, Marihuana, Amphetamine, Ecstasy – es geht dabei um Tonnen verschiedenster Betäubungsmittel. Die Dealer-Kernschmelze ist auf einen Ermittlungserfolg in Frankreich zurückzuführen. Und auf offen miteinander kommunizierende Verbrecher, die sich offensichtlich ihrer Sache zu sicher waren.
Danny D. aus Duvenstedt, Ende 40, laut Polizei einer der einflussreichsten Männer im europäischen Drogenhandel, wird im Mai 2021 im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen verhaftet. Jahrelang waren Ermittler dem Hamburger auf der Spur. In dem Ferienhaus stellen sie 70.000 Euro in bar, Goldbarren, Schmuck und gefälschte Ausweise sicher.
„EncroChat“-Ermittlungen: Die Dealer-Kernschmelze in Hamburg
- Deutsch (Deutschland)
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Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass die Hamburger Polizei eine neue Meldung dazu veröffentlicht: Regelmäßig nehmen Beamte gerade Dealer, Geldkuriere und Aufbewahrer von Drogen in eigens angemieteten Wohnungen, sogenannte Bunkerhalter fest, bringen sie mit Haftbefehlen direkt ins Gefängnis. Kokain, Marihuana, Amphetamine, Ecstasy – es geht dabei um Tonnen verschiedenster Betäubungsmittel. Die Dealer-Kernschmelze ist auf einen Ermittlungserfolg in Frankreich zurückzuführen. Und auf offen miteinander kommunizierende Verbrecher, die sich offensichtlich ihrer Sache zu sicher waren.
Danny D. aus Duvenstedt, Ende 40, laut Polizei einer der einflussreichsten Männer im europäischen Drogenhandel, wird im Mai 2021 im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen verhaftet. Jahrelang waren Ermittler dem Hamburger auf der Spur. In dem Ferienhaus stellen sie 70.000 Euro in bar, Goldbarren, Schmuck und gefälschte Ausweise sicher.
„EncroChat“-Ermittlungen: Die Dealer-Kernschmelze in Hamburg
Im Januar dieses Jahres nehmen Spezialkräfte Marvin W. (28) in Bönningstedt (Kreis Pinneberg) fest. Er wollte gerade seine Wohnung betreten. Der Mann soll für den Handel von 225 Kilogramm Marihuana verantwortlich sein. Auch Komplizen werden verhaftet, einer soll mit scharfen Schusswaffen ein Nebengeschäft betrieben haben.
Am Dienstag erst werden vier Mitglieder der sogenannten Hamburger Koks-Taxi-Bande zu mehreren Jahren Knast verurteilt. Die drei Männer und eine Frau hätten sich des „bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge“ schuldig gemacht. Sie betrieben eine Art Drogenlieferdienst – auf Bestellung gab es Kokain, Gras oder Ecstasy. „Ein perfekt aufeinander abgestimmtes arbeitsteiliges Vorgehen“, so die Richterin.
Was diese Fälle miteinander zu tun haben: Sie alle basieren auf Auswertungen von der App „EncroChat“. Sie galt als eine Art WhatsApp für Verbrecher, funktionierte verschlüsselt auf speziellen Handys und öffnete sich erst durch die Eingabe eines Codes. Über die App wurde ganz offen über Drogen- und Waffengeschäfte kommuniziert.
Eines der in der Unterwelt begehrten Handys gab es unter der Ladentheke für 1500 Euro, danach mussten Gauner alle sechs Monate 900 Euro zahlen. Eine Gebühr, um mitmischen zu dürfen. In der Spitze hatten europaweit 60.000 Menschen ein spezielles Encro-Handy auf herkömmlicher Android-Basis, mit dem man aber nicht telefonieren oder ins Internet gehen konnte. Möglich war es nur, Nachrichten von Encro-Handy zu Encro-Handy auszutauschen. Der bis heute unbekannte Anbieter garantierte eine abhörsichere und unknackbare Leitung.
Vor zwei Jahren infiltrieren dann französische Polizisten die Serverräume der Firma und sichern dabei mehr als 20 Millionen Chat-Nachrichten. Die Daten werden an die zuständigen Länderpolizeien in ganz Europa verschickt. Über das Bundeskriminalamt kommen die Ordner auch zum Hamburger Landeskriminalamt (LKA). Dort wird schnell eine Besondere Aufbauorganisation (BAO) gegründet. Ihr Name: „HHammer“. Der Name ist eine Anlehnung an den vom BKA gewählten BAO-Namen „Thor“. Helge Hinrichs, Hamburgs BAO-Leiter: „Wir waren und sind Thors Hammer.“
71 Kripo-Ermittler arbeiten an der Datenflut, die nicht abebben will. Immer mehr Terrabyte-große Ordner finden den Weg nach Hamburg, der Senat sagt Zusatzstellen zu, auch für die Justiz. Externe Mitarbeiter werden angestellt für die Übersetzung fremdsprachiger Nachrichten. Ein Insider sagt, dass man „so etwas noch nie“ gesehen hätte. „Die Beamten bei Polizei und Staatsanwaltschaft arbeiten über die Belastungsgrenze hinaus. Sie haben Blut geleckt.“
„Pistolpete23“, „Dopemaster69“, „Weedking“
Auch Schutzpolizisten werden für die Identifizierung der Nutzer zur Hilfe gebeten. Das Problem bei Encro-Handys: Es gibt keine Telefonnummer, nur frei wählbare Nutzernamen wie „PistolPete23“, „Dopemaster69“ oder „Weedking“. Anhand der Chatnachrichten, in denen manchmal Adressen genannt oder auf Fotos Autokennzeichen sichtbar sind, hat die Polizei bisher mehr als 650 der 800 Nutzer in Hamburg identifiziert. Viele sind den Beamten bereits bekannt, andere gänzlich neu, durch Encro können sie sie aber nun überführen – von Straßendealer bis zum Großlieferanten.
„So ein Handy war schon ein Prestigeobjekt“, beschreibt Hinrichs. „Es war eine Eintrittskarte in ein Kreis, in den viele sonst nicht reingekommen wären. Allein der Besitz hat genügt, um Geschäfte zu machen mit Leuten, die man nicht kennt.“ Für den Ermittler überraschend: die Affinität zu Waffen. „Jeder wollte eine für sich haben.“ Bei Razzien seien dutzende Waffen gefunden worden, meistens Pistolen. Maschinenpistolen und Sturmgewehre sollen die Hamburger Dealer ebenfalls laut Chat-Nachrichten besessen, aber nach Infiltrierung schnell weggeschafft haben.
Einige Drogendealer und Waffenhändler setzen sich ins Ausland ab, nachdem die Chats aufgeflogen sind. Besonders Dubai ist beliebt; eine Drehscheibe für viel Geld, ein Ort, an dem nicht viel nachgefragt wird, solange man die nötigen Scheine hat. Außerdem gibt es kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland. Andere stellen sich ihrem Schicksal, lassen sich abführen – für sie ein einkalkuliertes Risiko. Einen typischen Dealer gebe es laut Hinrichs übrigens nicht: Einige seien auffällig, würden protzen und ihr Geld verprassen. „Andere halten sich bedeckt und legen ihr Geld für später beiseite. Es gibt ganz unterschiedliche Antriebe.“
Auch die Herkunft der Mitwirkenden sei laut Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) multi-ethnisch. Die „Bigplayer“, die den Behörden bisher so nicht bekannt waren, seien Deutsche und Albaner.
Die angebotenen Drogen kommen auf verschiedensten Wegen in die Stadt: Das hier gehandelte Marihuana stammt vornehmlich aus Spanien, teilweise aber auch aus regionalen Plantagen. Haschisch wird überwiegend in Nordafrika angebaut, die Amphetamine kommen aus Bulgarien und Tschechien. Das Koks stammt ausschließlich aus Südamerika, es wird im Hafen umgeschlagen.
Das weiße Pulver wird seit einigen Jahren immer häufiger in größeren Mengen in Hamburg sichergestellt. Laut BDK seien diese Lieferungen aber oft nicht für den lokalen Markt bestimmt. Die Gangster wollen meist schon in den Häfen von Antwerpen oder Rotterdam an die Container, in denen das Rauschgift versteckt ist. Wenn diese aber für sie schlecht erreichbar gestapelt sind, lassen sie das Schiff unverrichteter Dinge weiterziehen. Kommen die Gangster auch in Hamburg nicht daran, werden so genannte „Rettungsteams“ organisiert. Das sind spezielle Kletterer, die die Container erklimmen und die Drogen herausholen.
Über „EncroChat“ haben sich die Kriminellen untereinander ausgetauscht, bestechliche Hafenarbeiter und Logistikbetriebe vermittelt, die Container aus den Terminals bringen können. „Es geht um Vermittlung und Provision“, so Hinrichs. Es gebe keine mafiöse Strukturen, die Beschuldigten seien alles „Netzwerker“, die untereinander Geschäfte machen, einige völlig autark. Reinecke ergänzt: „Viele kleine ,Ich-AGs‘, die alle in irgendeiner Form am diesem lukrativen Geschäft mitverdienen wollen.“
Zwischenzeitlich gilt die Verarbeitung der Chat-Daten als rechtlich problematisch. Der Datenschutz potenzieller Unschuldiger würde verletzt, sagen Kritiker. Der Bundesgerichtshof (BGH) entscheidet letztlich, dass die Daten in Deutschland verwertet werden dürfen. Ein Hamburger Polizist: „Ein Witz, diese Kritik. Wir tun alles, um die Stadt sicherer zu machen.“ Hinrichs ergänzt: „Jeder Chat, jede Nachricht, die wir bekamen, war kriminell.“ Die anfangs noch zögerlichen Beschuldigten, lassen sich nach dem Urteil dann auf die Beamten ein. Viele sind bereits verurteilt.
Polizeipräsident: „Wir sind noch lange nicht am Ende“
Hunderte Verfahren werden momentan geführt, viele sind bereits bei Gericht anhängig, Prozesse laufen. Es geht um Erträge im zweistelligen Millionenbereich, tonnenweise geschmuggelte Drogen und Waffen, sichergestellte Autos, Handtaschen, Schmuck und Uhren. „Die Dimensionen sind atemberaubend“, so Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne). Zuletzt wurde am Dienstag der 235. Verdächtige verhaftet. Polizeipräsident Ralf Martin Meyer sagte, dass jedem Dealer klar sein müsse, dass sich die Schlinge enger ziehe. „Wir sind noch lange nicht am Ende.“
Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) verglich den Erhalt der Chat-Daten und die darauffolgenden Erfolge mit dem Angeln: „Man kann sagen: Wir stehen jetzt wirklich am Teich mit den großen Fischen, die Netze sind ausgeworfen und jetzt wollen wir sie auch an Land ziehen.“
Ob man die Szene durch die Encro-Daten zerschlagen habe? Hinrichs: „Nein, wir stellen auch kein Vakuum fest.“ Es sei zeitgleich zur Pandemielage passiert, als es allgemein ruhiger in der Stadt gewesen ist. Der Drogenhandel sei nicht eingebrochen, die Verfügbarkeit da, die Preise stabil. Dealer seien vorsichtiger geworden, aber nicht gänzlich inaktiv. „Es ist jetzt wichtig, weiter Augen und Ohren offenzuhalten, zu schauen, wo neue Strukturen entstehen.“
Hamburg: Nach „EncroChat“ kommt nun „Sky ECC“
An Arbeit mangelt es den Beamten nicht. Die Encro-Daten sind größtenteils abgearbeitet, doch es warten bereits neue Ordner: Auch ein ähnlich funktionierendes System mit dem Namen „Sky ECC“ wurde gehackt. Während mit „EncroChat“ größtenteils nur in Mitteleuropa kommuniziert wurde, kann man über „Sky“ weltweit mit Verbrechern aller Art Kontakt aufnehmen – auch direkt nach Südamerika zu entsprechenden Drogenkartellen. Hinrichs: „Wir arbeiten uns daran jetzt ab.“