Auch nach 25 Jahren bleibt Hilal vermisst – Familie hat klare Botschaft
Seit einem Vierteljahrhundert gibt es keine Spur von ihr. Ende Januar jährt sich zum 25. Mal der Tag des Verschwindens von Hilal Ercan. Die damals Zehnjährige hatte sich Süßigkeiten kaufen wollen, kam aber nie zurück. In keinem anderen Hamburger Kriminalfall wurde vermutlich mit derart viel Aufwand ermittelt. Die Familie der Vermissten fordert nur eine einzige Sache. Und wendet sich damit direkt an den Täter.
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Seit einem Vierteljahrhundert gibt es keine Spur von ihr. Ende Januar jährt sich zum 25. Mal der Tag des Verschwindens von Hilal Ercan. Die damals Zehnjährige hatte sich Süßigkeiten kaufen wollen, kam aber nie zurück. In keinem anderen Hamburger Kriminalfall wurde vermutlich mit derart viel Aufwand ermittelt. Die Familie der Vermissten fordert nur eine einzige Sache. Und wendet sich damit direkt an den Täter.
Am Mittwoch, den 27. Januar 1999, kommt Hilal mit einem guten Halbjahreszeugnis nach Hause. Ihre Belohnung: Sie darf sich mit Münzgeld Süßes im nur wenige Schritte entfernten Luruper Einkaufszentrum „Elbgaupassagen“ an der Elbgaustraße kaufen.
Um 15.40 Uhr fällt ihr Verschwinden auf
Später wird zwar ein Bon gefunden, eine Rechnung über „Hubba-Bubba“-Kaugummis, Hilals Lieblingsmarke. Doch das Mädchen kehrt nie zurück. Ihr Verschwinden fällt erstmals um 15.40 Uhr auf, eine durch Angehörige durchgeführte Suche bleibt erfolglos. Um 17.05 Uhr wird die Polizei informiert.
Nur einige Tage später wird eine Verwandte der Familie angerufen. Ein Mann sagt, Hilal befinde sich gerade im Auto auf dem Weg nach Bremen. Der Anruf kann nicht zurückverfolgt werden. Der Anrufer bleibt bis heute unbekannt.
Am selben Tag, es ist der 3. Februar, bekommt die Familie einen weiteren Anruf: Der Mann am anderen Ende der Leitung möchte sich mit der Familie am U-Bahnhof Christuskirche in Eimsbüttel treffen. Er habe Informationen, behauptet er. Die Polizei kann den Anruf lokalisieren, er wurde von einer Telefonzelle an der Hohen Weide 13 abgegeben, unweit des Bahnhofs. Es kommt nicht zum Treffen. Vater Kamil Ercan will aber einen Mann gesehen haben, der sich verdächtig verhalten haben soll. Er verfolgt ihn eine Weile, verliert die Spur aber an der Bellealliancestraße.
Es vergehen zehn Tage. Hilal taucht nicht auf. Die Ermittlungen, die zu der Zeit noch am zuständigen Kommissariat geführt werden, verlaufen vorerst im Sande. Am Tatort wird nur ein Haarband gefunden; unklar, ob es Hilal gehört.
Der damalige Leiter des Landeskriminalamts entscheidet, eine eigene Ermittlungsgruppe, eine sogenannte Besondere Aufbauorganisation (BAO) einzurichten. Ihr Name: „Morgenland“. Die Ermittler konzentrieren sich schnell auf die Familie, lassen Telefone anzapfen, hören bei Gesprächen mit, observieren Angehörige. Sie glauben, dass die Familie für Hilals Verschwinden verantwortlich ist.
Verschwundene Hilal: Familie im Fokus
Die Annahme beruht auf widersprüchlichen Angaben von Hilals Großmutter zu einem von den Ermittlern erfragten Tagesablauf, sodass sie fortan als Verdächtige zählt. Die Beamten nehmen an, dass sie ihre Enkelin entführt und in die Türkei gebracht hat, der ursprünglichen Heimat der Familie Ercan. Die These wird am Ende nicht weiterverfolgt, weil geklärt wird, dass die Großmutter nur fälschliche Angaben gemacht hat, um eine Beziehung zu ihrem Ex-Mann zu verheimlichen.
Im Juli 1999 wird ein Verfahren gegen die Cousine von Hilals Vater eingeleitet. Nichten der Mutter wollen während einer S-Bahnfahrt ein verdächtiges Telefongespräch der Cousine gehört haben. Dabei soll den Frauen der Verdacht gekommen sein, dass sie Hilal gegen ihren Willen festhalten könnte. Das Verfahren wird ergebnislos eingestellt.
Etwa zeitgleich lassen die Ermittler alle Thesen, die sich gegen die Familie richteten, fallen. Der Fokus liegt auf einem neuen Verdächtigen: Werner P.* Er hatte vier Monate nach Hilals Verschwinden eine Elfjährige in der Nähe eines Einkaufszentrums in Lohbrügge zuerst in sein Auto gelockt, sie sexuell missbraucht und gefesselt und mit verbundenen Augen abgesetzt. Dafür wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
Ermittler gehen von einem Anfangsverdacht aus, weil P.s Vorgehensweise Parallelen zum Fall Hilal zeigen würde. Er hat dazu für den 27. Januar kein Alibi. Doch er bestreitet alles. Zeugen vom Tatort in Lurup erkennen P. nicht wieder. Sie sagen, der Mann, den sie gesehen haben, wäre kräftiger, er habe rötliche Haare und einen „Watschelgang“ gehabt. Auch in P.s Auto werden keine Spuren gefunden, die zum Fall Hilal Ercan führen.
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Es vergehen mehrere Jahre ohne neue Ermittlungserkenntnisse. Im März 2002 gehen zwei Briefe bei der Polizei ein. Darin schildert der anonyme Absender angebliche Informationen zu Hilals Verschwinden. Er und drei Männer – alle werden anhand der im Brief genannten Namen als Mitglieder der Neonazi-Szene identifiziert – hätten Hilal entführt. Das LKA findet heraus, dass die Beschuldigten, gegen die zwischenzeitlich ein Ermittlungsverfahren eröffnet wurde, zur Tatzeit in Haft in Neumünster waren. Das Verfahren wird eingestellt. Der Absender ist bis heute unbekannt.
Im Jahr 2004 wird innerhalb des Landeskriminalamts ein neues System zur „täterorientierten Prävention“ ausgearbeitet. Die Ermittler stoßen dabei auf Tom A.* Einen Mann, der nachweislich Kinder missbraucht, eins sogar fast zu Tode gewürgt hat: Die Rechtsmedizin war damals zum Ergebnis kommen, dass es nicht mehr in seinem Ermessen war, ob sein letztes bekanntes Opfer Janina* (damals 9) überlebte oder nicht. Doch sie überlebte.
In der Wohnung A.s werden Videos gefunden, die einige seiner Taten zeigen. Er wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt und in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Dort lebt er bis heute.
Zum Zeitpunkt des Verschwindens von Hilal wohnte A. in derselben Straße wie die Familie von Hilal Ercan. Alle Kinder, die er sexuell missbraucht hatte, sprach er in unmittelbarer Nähe zum damaligen Wohnort der Ercans an.
Wenige Tage nach dem Verschwinden von Hilal hatten Zeugen bei der Polizei ausgesagt, sie hätten zur Tatzeit vor den „Elbgaupassagen“ einen stämmigen „Wikinger-Typen“ mit rötlichen Haaren beobachtet, der Hilal in eine dunkle Limousine zerrte. Ein Zeuge übergibt den Ermittlern sogar ein Foto, das einen Arbeitskollegen zeigt, der dem Mann, den er mit Hilal gesehen haben will, verblüffend ähnlich sehen soll. Es sei sicher nicht der Kollege selbst gewesen, sie würden sich nur sehr ähneln, sagte er. Die Ermittler entscheiden, dem Foto keine Beachtung zu schenken. Auch ein Phantombild, das mit dem Zeugen erstellt wird, mit dem der aber nicht ganz zufrieden ist, wird nicht veröffentlicht. Es wird nicht weiter an dem Bild gearbeitet. Die These, ein „Wikinger“-Typ hätte Hilal entführt, passte damals auch nicht zu der Familien-Hypothese.
Verdächtiger verkauft dunkle Limousine
Erst Jahre später kommt heraus, dass Tom A. – stämmig-korpulent, rötliches Haar – seine dunkle Limousine, einen 3er BMW, wenige Tage nach dem Verschwinden von Hilal veräußerte. Er hatte das Auto erst im Oktober 1998 für 1400 Mark gekauft, es dann für auffällig niedrige 200 Mark verkauft. Der BMW wird nach einem erneuten Verkauf wohl nach Osteuropa exportiert. Kurz vor dem Verkauf hatte sich Tom A. noch ein neues Radio einbauen lassen.
Bei A.s Überprüfung im Jahre 2004 stoßen die Ermittler auf weitere Ungereimtheiten: Zum Beispiel, dass er sogar mal als Verdächtiger eingestuft war – aber nur sehr kurz: Sein Alibi für den 27. Januar 1999 wurde als „wasserdicht“ bewertet, A. hätte gearbeitet. Er selbst wurde nicht befragt. Das Alibi können Ermittler 2004 widerlegen.
Auch das Foto, das seinerzeit von der BAO ignoriert wurde, wird wieder Thema, gibt es doch Grund zur Annahme, A. könnte Verdächtiger sein. Erst heißt es, das Foto gebe es nicht mehr, dann taucht es doch auf: in der Schublade einer Kommissarin, die es offenbar nicht zu den Akten gelegt hatte.
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Anfang 2005 besuchen Ermittler Tom A. erstmals im Haus 18 der Psychiatrie Ochsenzoll. In dem Gespräch gibt er zu, Hilal gekannt zu haben. Es folgen Vernehmungen, bei denen er stets eine Tatbeteiligung abstreitet. Er informiert sich im Gespräch mit den Beamten über Täter, die ihre Tat abstritten und erst Jahre später überführt wurden. Er erzählt ihnen von Phantasien, dabei geht es um das Schänden und Vergraben von Kinderleichen. Er fragt sich laut, wie es sich anfühlt, damit davonzukommen.
Zeitgleich starten die Ermittler einen Vernehmungs-Marathon. Ein Teenager, der bereits zuvor wichtige Hinweise zu den Taten des Mannes gab, sagt, er habe in A.s Wohnung ein Video gesehen, das den Missbrauch eines Mädchens zeigt. Sie soll eine auffällige Unterhose getragen haben. Keins der bekannten Opfer von A. besaß so eine Unterhose. Aber Hilal. Bis heute ist unbekannt, wer das Mädchen auf dem Band ist.
Das erste Geständnis
Am 27. April 2005 gibt Tom A. dann zu, Hilal entführt zu haben: Mit 50 Mark habe er sie in sein Auto gelockt, dann im Altonaer Volkspark missbraucht und – als sie sich wehrte – getötet und ihre Leiche vergraben.
Ermittler merken schnell, dass A. nicht in Gänze die Wahrheit sagte. Als bei der Suche im Volkspark einen Tag später ein Reporter auftaucht und Fotos macht, widerruft A. noch vor Ort sein Geständnis. Später gibt er die Tat wieder zu, spricht aber nun von anderen Orten als Versteck. Auch diese Aussagen nimmt er zurück. Er behauptet, er habe sich mit dem Geständnis an der Polizei rächen wollen und auf eine Verlegung gehofft.
Die Polizisten sprechen weiter mit zahlreichen Zeugen. Eine Freundin von Hilal gibt an, Tom A. in Zeitungsartikeln wiedererkannt zu haben. Sie und Hilal seien von ihm beim Spielen angesprochen worden. Der Zeuge, der nach dem Verschwinden das Foto seines Kollegen abgab, erkennt A. nicht eindeutig als Täter wieder, „wenn, dann käme aber der da infrage“, sagt er bei Befragung – und zeigt auf ein Porträt von Tom A.
Der Verdächtige gibt 2006 erneut zu, Hilal getötet zu haben, spricht aber von einem neuen Missbrauchsort. Er führt Ermittler in die Rissener Kiesgrube. Einen Tag erklärt er, es sei ein Unfall, einen anderen, es sei geplant gewesen. Er verstrickt sich in Widersprüche, gibt zu, gelogen zu haben, sagt dann aber auch wieder Dinge aus, die Täterwissen vermuten lassen. Suchaktionen, auch mithilfe eines Georadars, bleiben erfolglos. A. nimmt sein Geständnis zurück. Ihm konnte die Anwesenheit am Tatort nie nachgewiesen werden.
Viele Hinweise, keine neuen Ansätze
Über die Jahre gehen weitere Hinweise an, aus denen sich für die Ermittler nichts ergibt. 2014 meldet sich eine Frau und beschreibt einen „unheimlichen Mann“ mit rötlichen Haaren, der zur Tat am Luruper Einkaufszentrum gewesen sein soll. Fotos von Tom A. führen nicht zur Identifizierung. 2016 übernimmt die damals neue „Cold Cases“-Einheit um Leiter Steven Baack den Fall. Baack war bereits als junger Kripo-Mann an Ermittlungen beteiligt. Er bringt 2018 eine dauerhafte Fahndungserinnerung am Einkaufszentrum an. Hinweise führten bisher nicht zu neuen Ansätzen.
Es folgen diverse weitere Suchaktionen im Volkspark und in Rissen, die erfolglos enden. Zuletzt wird 2022 erneut im Volkspark gegraben. Ausgangspunkt war das Anschlagen zweier Suchhunde eines Privatermittler-Teams, engagiert von Hilals Familie und Anwalt Philipp Hammerich. Sie hatten Akten ausgewertet und mit alten Zeugen geredet. Die Ergebnisse wurden in einer NDR-Dokumentation veröffentlicht. An der Recherche war auch die MOPO beteiligt. Drei Monate später, im Oktober, suchen Polizisten ein Waldstück bei Norderstedt ab. Am Ende ohne neue Erkenntnisse.
Das Verschwinden habe ihn und die ganze Familie in einen tiefen Abgrund gestürzt, sagt Abbas Ercan, Hilals Bruder, zur MOPO. „Jeder Tag war von einer düsteren Wolke der Ungewissheit und des Verlusts überschattet. Die Last, die unsere Herzen drückt, ist unerträglich, Freude wurde zu einem fernen Echo vergangener Zeiten.“
Die Botschaft der Familie
Das Wort Hoffnung sei für die Familie zu einem „schmerzhaften Seufzer“ geworden, der von einem quälenden Warten begleitet werde. Die jahrzehntelange Suche sei eine Reise durch viel Schatten, aber sie blieben stark und hoffnungsvoll, dass Gerechtigkeit eines Tages siegen werde. „Und wir vielleicht doch noch Frieden finden können.“
Abbas und seine Familie, die um ihren unerschütterlichen Glauben zu bewundern sind, haben auch eine ganz klare Botschaft: Nach 25 Jahren des „qualvollen Schweigens“ ermutigen sie alle Mitwisser, Zeugen und den Täter: „Prüft euer Gewissen. Die Wahrheit mag schwer sein, aber sie ist der einzige Weg zum Frieden“. Es sei niemals zu spät, den Mut aufzubringen, die Wahrheit zu sagen. „Und einen Schritt Richtung Heilung zu machen“, so Abbas Ercan.
Polizei und Staatsanwaltschaft äußern sich wegen des weiter laufenden Verfahrens nicht zum Fall Hilal Ercan. Eine Sprecherin betont aber, dass „den Ermittlern der Fall Hilal wirklich am Herzen liegt“. Er habe noch immer eine hohe Priorität. „Jeder Hinweis wird überprüft.“
Hinweise zum Fall Hilal Ercan an die Tel. 428 65 6789 oder hinweise-hilalercan@polizei.hamburg.de
*Die Namen der Verdächtigen, Opfer und Zeugen wurden verändert.