Onanie als Teufelszeug: Dieses alte Buch zeigt verstörende Ansichten
Gegen fast jede Krankheit wusste meine Oma ein Hausmittel: Salbeitee gegen Husten, eine aufgeschnittene Zwiebel gegen Ohrenschmerzen, Cranberrysaft gegen Blasenentzündung. Als ich auf dem Lehmweg-Flohmarkt auf das Buch „Die Frau als Hausärztin“, Erscheinungsjahr 1911, zum Schnäppchenpreis von zehn Euro stieß, dachte ich, damit ähnliche Tipps zu erhalten wie von meiner Großmutter. Doch ich bekam etwas ganz anderes.
Gegen fast jede Krankheit wusste meine Oma ein Hausmittel: Salbeitee gegen Husten, eine aufgeschnittene Zwiebel gegen Ohrenschmerzen, Cranberrysaft gegen Blasenentzündung. Als ich auf dem Lehmweg-Flohmarkt auf das Buch „Die Frau als Hausärztin“, Erscheinungsjahr 1911, zum Schnäppchenpreis von zehn Euro stieß, dachte ich, damit ähnliche Tipps zu erhalten wie von meiner Großmutter. Doch ich bekam etwas ganz anderes.
Das erste, was einem beim Durchblättern des über hundert Jahre alten Buches ins Auge sticht, sind die kunstvollen Illustrationen. Manche der insgesamt 448 Zeichnungen muten fast comicartig an. Comics im Jugendstil. Dann zum Beispiel, wenn die Bilder erklären, wie man Waden-, Kopf- oder Rumpfpackungen am Körper anbringt. Oder wenn sie verschiedene Methoden der Körperwaschung erläutern.
Friedliche Szenen halbnackter Frauen beim Sonnenbad
Andere – wie die Tafeln zum Aufbau des Auges oder der Geschlechtsorgane – haben eher einen wissenschaftlichen Charakter. Wieder andere möchte man am liebsten einrahmen und an einem geeigneten Platz in der Wohnung aufhängen, weil sie eine friedliche Szene halbnackter Frauen mit altmodischen Strohhüten beim Sonnenbad zeigen.
Zum Schmunzeln sind die Schwarz-Weiß-Fotos „Gymnastische Übungen“, die zeigen, wie eine Frau im weißen Spitzenkleid sich beherzt die Brüste massiert. Zitat: „Schlaffheit der Brüste ist eine Erscheinung, die heute leider bei jungen wie alten Frauen, bei mageren wie dicken angetroffen wird.“

Tipps für die Körperwäsche: Illustrationen im Buch „Die Frau als Hausärztin“
Der 1856 geborenen Autorin Dr. Anna Fischer-Dückelmann ging es um weit mehr als nur darum, einen Ratgeber für Krankheitsfälle zu erstellen. Es ging ihr um einen neuen Lebensstil. Um ein neues Körperbewusstsein, das auf ganzheitliche Anwendungen statt schulmedizinische Symptombehandlung setzt. Wer sich gesund ernährt und bewegt, so der Ansatz, dem bleiben die typischen Zivilisationskrankheiten erspart.
Antiquierte Vorstellungen zu Selbstbefriedigung und Homosexualität
Geradezu revolutionär für die damalige Zeit streicht Fischer-Dückelmann die Bedeutung weiblicher Berufstätigkeit heraus, womit sie wohl auch ihre eigen Biographie ein wenig verteidigte. Denn als Mutter von drei Kindern und Ehefrau eines wenig erfolgreichen Journalisten zog Fischer-Dückelmann im Alter von 34 Jahren in die Schweiz, wo Frauen, anders als in Deutschland, zum Medizinstudium zugelassen wurden. Nach der Promotion ging sie mit ihrer Familie nach Dresden, um eine Praxis für Frauen- und Kinderheilkunde zu eröffnen.
Mit großer Offenheit nimmt sie sich des Themas „Geschlechtsleben“ an, bleibt dabei allerdings stark den Moralvorstellungen der damaligen Zeit verhaftet. „In bezug auf die Regelung des ehelichen Verkehrs sei noch angegeben, daß die Mäßigkeit darin besteht, die Vereinigung so selten als möglich zu vollziehen, nicht mehr als ein- bis zweimal im Monat.“
Noch deutlicher zeigen sich die konservativen Werte in den Kapiteln zu „Onanie“ und „Homosexualität“. Kinder gelte es „vor diesen traurigen Verirrungen zu schützen“, schreibt die Autorin. Ihr Tipp: „Man erziehe Mädchen und Knaben zu wahrer Züchtigkeit, man stelle ihnen Berührung der Geschlechtsteile als etwas verbotenes und häßliches dar und halte auf einen reinen Ton im Hause.“
Als Ratgeber für Gesundheitstipps aus heutiger Sicht völlig ungeeignet
Homosexualität wiederum ist für Fischer-Dückelmann „eine der traurigsten Entartungserscheinungen“. An anderer Stelle bezeichnet sie die gleichgeschlechtliche Liebe gar als „Gehirndefekt“. Diese Kapitel mögen dazu beigetragen haben, dass „Die Frau als Hausärztin“ während der Nazi-Zeit wieder von der „Liste des unerwünschten Schrifttums“ heruntergenommen wurde, auf der es 1933 gelandet war. 1936 erschien es in einer neuen, ergänzten Auflage, die den rasse-ideologischen Ansichten der Nationalsozialisten entsprachen.
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Fischer-Dückelmann hat das nicht mehr erlebt. Sie starb bereits 1917. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr das Buch noch mehrere inhaltliche Überarbeitungen, wurde dabei immer dünner und schrumpfte von den ursprünglich 960 Seiten meiner Flohmarkt-Entdeckung auf nur noch gerade mal 136 Seiten.
Der naturheilkundliche Fokus blieb bis zum Schluss grundsätzlich erhalten. Dennoch ist das Buch aus heutiger Sicht, egal in welcher Auflage, weniger als Ratgeber für großmütterliche Hausmittel interessant, sondern vielmehr als zeithistorisches Dokument, das Einblicke in die Wertvorstellungen der jeweiligen Epoche liefert. In meinem Bücherregal hat es deshalb seinen Platz in der Abteilung „Geschichte“ gefunden – und nicht in der Abteilung „Gesundheit“.