Not, Leid und viele Tränen: Wo Hamburgs Huren ihr Herz ausschütten
Es ist eine Institution auf dem Kiez: das „Sperrgebiet St. Pauli“. Die in einem kleinen Ladenlokal an der Seilerstraße untergebrachte Beratungsstelle des Diakonischen Werks ist ein wichtiger Ankerplatz für Prostituierte in Hamburg. Hier können sie ihr Herz ausschütten, bekommen Hilfe und Unterstützung in der Not. Jetzt hat das „Sperrgebiet St. Pauli“ 50. Geburtstag gefeiert.
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Es ist eine Institution auf dem Kiez: das „Sperrgebiet St. Pauli“. Die in einem kleinen Ladenlokal an der Seilerstraße untergebrachte Beratungsstelle des Diakonischen Werks ist ein wichtiger Ankerplatz für Prostituierte in Hamburg. Hier können sie ihr Herz ausschütten, bekommen Hilfe und Unterstützung in der Not. Jetzt hat das „Sperrgebiet St. Pauli“ 50. Geburtstag gefeiert.
Immer mittwochs um kurz vor 19.30 Uhr legen Anna Calvi und Andrea Elle oder ihre Kolleginnen die blaue Weste an. Sie greifen nach der Tasche mit den Kondomen, der Gleitcreme, den Süßigkeiten, den Flyern und machen sich auf den Weg in Richtung Schmuckstraße.
Rundgang über den Straßenstrich, durch Laufhäuser und Bordelle
Zu zweit ziehen die Sozialarbeiterinnen über den Straßenstrich, durch die Laufhäuser und Bordelle, informieren über das Angebot in der Seilerstraße und bieten ihre Hilfe an. Hilfe, die Sexarbeiterinnen auf St. Pauli dringend nötig haben.
„Wir helfen bei der Wohnungssuche, bei Behördengängen, beim Bezug von Sozialleistungen, Steuerfragen, der Krankenversicherung, Kontoeröffnungen. Und wir unterstützen die Frauen, wenn sie aus der Prostitution aussteigen wollen und versuchen, neue Perspektiven mit ihnen zu erarbeiten“, sagt Andrea Elle.
In den fast 20 Jahren, die die 50-Jährige beim „Sperrgebiet“ arbeitet, hat sie mehrere Tausend Frauen betreut. Viele Schicksale gehen ihr nahe. Zum Beispiel, wenn sich sehr junge Prostituierte in der Drogensucht verlieren. Auch die Armut vieler Frauen und die Schicksale, die sie erlebt haben, sind Themen, die Elle beschäftigen.
Noch länger dabei als Andrea Elle ist die Psychotherapeutin Martina de Ridder. Sie hat schon ein Jahr nach der Gründung der Beratungsstelle, die 1973 noch „Kaffeeklappe“ hieß und am Pinnasberg (Altona-Altstadt) war, angefangen, den Sexarbeiterinnen ihr Ohr zu schenken.
Psychotherapeutin hilft traumatisierten Sexarbeiterinnen
„Viele der Frauen, die zu mir kommen, sind traumatisiert. Sie haben Gewalt und Misshandlungen erlebt. Manche leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung.“ Martina de Ridder hat jahrzehntelange Erfahrung in der Therapie mit diesen Frauen. Sie macht das jede Woche für bis zu sechs Stunden neben der Arbeit in ihrer Praxis.
„Das ist ganz wichtig für mich. Ich lebe selbst auf St. Pauli und habe immer Bezug gehabt zu Frauen, die nicht auf der goldenen Seite des Lebens stehen. Es ist großartig, wenn man wirksam ist.“ So konnte de Ridder beispielsweise einer Frau, die als Kind von ihrem Stiefvater schwer misshandelt worden war, helfen, den Ausstieg aus der Prostitution zu finden.
Die frühere Sexarbeiterin arbeitet heute als sozialpädagogische Assistentin. „Mit einigen Frauen bleibe ich über viele Jahre verbunden“, erzählt de Ridder.
„Sperrgebiet St. Pauli“: Leiterin fordert Entstigmatisierung von Prostitution
Seit der Gründung der Beratungsstelle hat sich viel verändert. Während es in den 70er Jahren neben der Versorgung der Frauen auch noch darum ging, sie zu missionieren, geht es heute darum, ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
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Auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind besser geworden. 1987 wurden die medizinischen Zwangsuntersuchungen für Sexarbeiterinnen abgeschafft, 2002 trat das Prostitutionsgesetz und 2017 das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft. Sexarbeiterin ist heute ein anerkannter Beruf. Und doch meint „Sperrgebiets“-Leiterin Christin Laudon: „Bis zur Entstigmatisierung von Prostituierten ist es noch ein weiter Weg.“
Und manchmal ist es selbst für die Sozialarbeiterinnen des „Sperrgebiets“ nicht ganz einfach. Anna Calvi ist es in der Schmuckstraße, dem sogenannten Transenstrich, schon mehrmals passiert, dass frisch operierte Frauen einfach die Hose vor ihr runterlassen. „Da heißt es dann: ,Willste mal gucken?‘“, sagt Calvi und lacht leicht überfordert. „Ich habe großes Verständnis für ihren Stolz. Ich wäre nur manchmal gerne vorbereitet worden.“