„Nie geliebt“: Vater von vermisster Hilal geht mit Messer auf Ehefrau los
Eigentlich kocht Kamil E. (57) jeden Morgen Kaffee für sich und seine Frau Ayla. Am 5. April 2022 bricht er das erste Mal mit diesem Ritual. Ein paar Stunden später geht er mit einem Messer auf seine Frau los. Seit Dienstag muss sich der Vater der seit 1999 vermissten Hilal vor dem Landgericht Hamburg wegen versuchten Totschlags verantworten.
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Eigentlich kocht Kamil E. (57) jeden Morgen Kaffee für sich und seine Frau Ayla. Am 5. April 2022 bricht er das erste Mal mit diesem Ritual. Ein paar Stunden später geht er mit einem Messer auf seine Frau los. Seit Dienstag muss sich der Vater der seit 1999 vermissten Hilal vor dem Landgericht Hamburg wegen versuchten Totschlags verantworten.
Am Dienstag, den 5. April 2022, brechen Wut und jahrelanges Leid aus Kamil E. heraus – und richten sich gegen seine Frau Ayla. Heute sitzt er vor dem Richtertisch am Landgericht: wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, an jenem Tag im April gegen 15 Uhr mit einem Messer auf seine Ehefrau losgegangen zu sein, nachdem diese ihm klar gemacht habe, dass sie sich scheiden lassen wolle. Die ebenfalls anwesende Tochter (32) wollte ihren Vater stoppen – doch es sei ihr nicht geglückt. Mutter und Tochter erlitten beide Schnittverletzungen. Erst als ein Nachbar aufgrund der Schreie und des Lärms klingelte, habe Kamil E. von seiner Frau abgelassen, heißt es in der Anklage.
Hamburg: Vater der vermissten Hilal soll auf Ehefrau eingestochen haben
Ayla E. und die gemeinsame Tochter sitzen im Zuschauerraum und verfolgen den Prozess. Sie nutzen ihr Zeugenverweigerungsrecht. Doch Kamil E. will sich erklären und die Verteidigung trägt seine Aussage vor – es ist eine Geschichte von Zwang, Verlust, Angst und Unsicherheit.
Kamil E. erzählt dem Gericht, dass die Ehe zwischen ihm und seiner Frau Ayla arrangiert sei. Er habe diese Ehe nicht gewollt, doch Ayla hielt anfangs daran fest. Deshalb habe er mit den Jahren gelernt, seine Frau zu lieben. „Wir waren eine glückliche Familie – bis Hilal verschwand“, so der Vater. Durch das Verschwinden seiner damals zehnjährigen Tochter Hilal wurde die Familie Stadtbekannt: Am 27. Januar 1999 brachte das Mädchen ein gutes Zeugnis nach Hause, der Vater gab ihr Geld und sie zog los, um sich ihr Lieblingskaugummi als Belohnung zu kaufen. Seither ist sie – trotz intensiver Ermittlungen – verschwunden.
„Ich kann nicht erklären, wie schlimm es ist, darauf zu warten, irgendetwas zu hören, wenigstens die Todesnachricht zu bekommen“. Ab diesem Moment habe sich alles geändert, die Familie habe ihren Frieden verloren, erzählt der Vater. Alle litten unter extremen Verlustängsten und mussten lernen, dass jeder anders trauert. Für Kamil E. sei seine Familie der einzige Halt, doch auch er wurde depressiv und litt unter einer Angststörung. Seine Frau und er seien immer wieder aneinandergeraten, hätten sich gestritten und verletzt. „Sie hatte immer etwas an mir auszusetzen, ich konnte nichts richtig machen“.
Vater beschreibt: Seit dem Verschwinden von Hilal hat sich alles verändert
Am Tat-Tag sei er gerade aus der Türkei zurückgekommen. Ayla habe ihm die kalte Schulter gezeigt. „Ich war beleidigt und kochte ihr dieses Mal keinen Kaffee“, teilt er dem Gericht mit. Später, am Nachmittag, habe seine Frau angefangen ihn zu beleidigen. „Sie sagte, sie habe mich nie geliebt. Die Ehe sei immer eine Last gewesen“. Wie er sich da gefühlt habe? „Mein Blick schwärzte sich“, so Kamil E., der diese türkische Beschreibung nutzt, um seinen Gefühlen Luft zu machen. „Ich wollte diese Ehe doch gar nicht und habe sie extra lieben gelernt!“
Er erinnert sich daran, vom Wohnzimmer in die Küche gelaufen zu sein und ein Messer geholt zu haben – das der Nachbar später vor Gericht als „Obstmesser“ beschreibt. Doch erst im Wohnzimmer sei er wieder zu sich gekommen, erklärt Kamil E. dem Gericht. Als er plötzlich sah, dass seine Tochter vor ihm steht und die Mutter beschützt, habe er aufgehört. Der Nachbar klingelte. Vater und Tochter seien gemeinsam zur Tür gegangen. Dort habe er das Messer seiner Tochter ausgehändigt und anschließend im Schlafzimmer auf die Polizei gewartet, die kurze Zeit später eintraf, berichtet er.
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Der Nachbar ist der erste Zeuge in dem Prozess. Er bestätigt die Erzählung von Kamil E.: Er habe Schreie von zwei Frauen gehört und ein lautes Geräusch, deshalb sei er hoch zur Wohnung der Familie E. gelaufen. Er sei dann mit dem Vater in das Schlafzimmer – er spricht von Kinderzimmer – und man hätte zusammen auf die Polizei gewartet. Kamil E. habe Reue gezeigt und gesagt, was er gemacht habe, sei falsch gewesen. „Ich habe mich gewundert, warum er überhaupt so ausgeflippt ist“, sagt der Nachbar vor Gericht. „Eigentlich ist er ein ruhiger Mensch“.
Der Prozess wird Ende August fortgesetzt.