Neues Buch über Hamburgs obersten Nazi-Führer löst Fassungslosigkeit aus
Er war ein schlimmer Verbrecher, verantwortlich für die Verfolgung politisch Andersdenkender und für die Deportation tausender Hamburger Juden – und am Ende wurde er nicht einmal bestraft. Karl Kaufmann, Hamburgs Gauleiter und Reichsstatthalter. Nun ist erstmals ein umfangreiches wissenschaftliches Buch über Hamburgs „Führer“ erschienen. Das Überraschende, ja, das Unglaubliche daran: Der mächtigste Nazi-Bonze Norddeutschlands wird darin als Mann mit Idealen, Volksnähe und Verantwortungsgefühl dargestellt. Professor Detlef Garbe, einer der größten Kenner der NS-Zeit in Hamburg, ist fassungslos.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen //
online kündbarMOPO+ Jahresabo
für 79,00 €Jetzt sichern!Spare 23 Prozent!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach zum gleichen Preis lesen //
online kündbar
Er war ein schlimmer Verbrecher, verantwortlich für die Verfolgung politisch Andersdenkender und für die Deportation tausender Hamburger Juden – und am Ende wurde er nicht einmal bestraft. Karl Kaufmann, Hamburgs Gauleiter und Reichsstatthalter. Nun ist erstmals ein umfangreiches wissenschaftliches Buch über Hamburgs „Führer“ erschienen. Das Überraschende, ja, das Unglaubliche daran: Der mächtigste Nazi-Bonze Norddeutschlands wird darin als Mann mit Idealen, Volksnähe und Verantwortungsgefühl dargestellt. Professor Detlef Garbe, der ehemalige Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und einer der größten Kenner der NS-Zeit in Hamburg, ist fassungslos.
Daniel Meis, der Autor des Buches, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Düsseldorf. Und er selbst hält große Stücke auf seine Kaufmann-Biografie, die auf seiner 2022 abgeschlossenen Doktorarbeit beruht. Ganz unbescheiden meint Meis, das Buch eröffne „eine neue Perspektive in der Erforschung des nationalsozialistischen Hamburgs“. Ein Anspruch, der, so Garbe, „bei Weitem nicht“ eingelöst wird.
Kaufmanns Rolle bei der Errichtung der Hamburger KZ bleibt unerwähnt
Es war die MOPO, die Detlef Garbe auf die Kaufmann-Biographie aufmerksam machte und ihn um seine Meinung bat. Garbes Rezension wird der Verein für Hamburgische Geschichte in der nächsten Ausgabe seiner Zeitschrift veröffentlichen, die am 29. November um 18 Uhr im Museum am Holstenwall vorgestellt wird. Die Rezension, die die MOPO vorab erhielt, liest sich wie eine schallende Ohrfeige, denn Garbe lässt darin kaum ein gutes Haar an dem Werk.
Das könnte Sie auch interessieren: KZ Wittmoor – Hamburgs vergessenes erstes Konzentrationslager
Hauptkritikpunkt: Dort, wo es um Kaufmanns Verbrechen geht, habe Daniel Meis die Neigung, die Dinge zu beschwichtigen. Zum Beispiel: Kaufmanns Rolle bei der Errichtung der Hamburger Konzentrationslager. Meis gehe darauf mit keinem Wort ein, so Garbe. Die direkte Beteiligung Kaufmanns an der Bekämpfung politischer Gegner, seine Anwesenheit bei Gestapo-Verhören und -Misshandlungen – für Meis bestenfalls Randaspekte.
Der Autor schildert Kaufmann als Mann mit Idealen, Volksnähe und Verantwortungsgefühl
Ähnlich verhält es sich mit Kaufmanns Mitverantwortung für den Holocaust. Meis schreibt, es sei „unwahrscheinlich“, dass Kaufmann nichts von der Endlösung gewusst habe. Sprich: Er wusste davon, aber er sei, so Meis, „keiner der extremen Scharfmacher“ gewesen. Dass Kaufmann im Januar 1942 in den Rang eines SS-Obergruppenführers erhoben wurde und damit zu den 300 ranghöchsten SS-Generälen zählte – eine „Ehre“, die nur wenigen Gauleitern zuteilwurde – versteckt der Autor in einer Fußnote.
Dass Kaufmann Stiftungen unterhielt, denen Mittel aus „erzwungener Freiwilligkeit“, aus Arisierungsspenden und Unterschlagungen zuflossen, erwähnt Meis zwar, „lässt aber“, so Garbe, „völlig im Dunkeln, dass die Mittel in beträchtlichem Umfang aus Vermögen jüdischer Vorbesitzer stammten und in hohem Maße dazu dienten, Loyalitäten zu sichern und Abhängigkeiten zu schaffen und damit Teil eines auf Korruption angelegten Systems waren.“
Ausführlich schildert Meis dagegen die angebliche Volksnähe Kaufmanns, seine „sozialen Wohltaten“ und sein großes „Verantwortungsgefühl“ für die Stadt Hamburg. „Dass die Beihilfen und individuellen Geschenke nicht gleichermaßen jedem Bedürftigen galten, sondern in feudaler Praxis nach Gutdünken an jene ausgekehrt wurden, die sich als Volks- und Parteigenossen zum Führerstaat bekannten, wird nicht thematisiert“, so Garbe.
Das könnte Sie auch interessieren: 1945 – so verlief das Kriegsende in Hamburg
Wie es sein kann, dass Meis Hamburgs berüchtigten Reichsstatthalter auf eine solch einseitige und positive Weise darstellen konnte, dafür liefert Meis selbst eine Erklärung. Denn er erwähnt im Buch mit stolzgeschwellter Brust, der erste Historiker zu sein, der die Gelegenheit hatte, mehrere tausend Seiten an Memoirenentwürfen, Briefen, Notizen und anderen persönlichen Unterlagen Kaufmanns sichten zu können. Ermöglicht wurde ihm das durch Kaufmanns Nachfahren.
Hat sich Daniel Meis posthum von Karl Kaufmann einlullen lassen?
Es scheint fast, als habe sich Meis einlullen lassen. Es ist naheliegend, dass Kaufmann sich in seinen eigenen Aufzeichnungen so dargestellt hat, wie er sich sehen wollte oder wie andere ihn sehen sollten: als Idealist und Ehrenmann natürlich.
Das könnte Sie auch interessieren: Von der Schulbank in den Tod – vor 80 Jahren wurden diese Hamburger Kinder deportiert
Kaufmann galt schon immer als Meister der Selbstdarstellung. Nach dem Krieg wurde er von vielen Hamburgern lange als „Retter Hamburgs“ verehrt, weil er den Befehl Hitlers, bis zur letzten Patrone zu kämpfen, missachtete. Allerdings ging es Kaufmann dabei weniger um das Wohl der Stadt Hamburg. Seine eigene Haut wollte er retten. Dass es Kaufmann sogar noch posthum gelingt, einen ausgewiesenen Historiker an der Nase herumzuführen und ihm seine Märchen als Wahrheit zu verkaufen, das verdient beinahe schon Respekt.
Herausgekommen ist dabei allerdings ein Buch, das so besser nie geschrieben worden wäre.