Messermord im Zug: Wieso manche Flüchtlinge zu Angreifern werden
Er zückte plötzlich ein Messer und griff an: Zwei junge Menschen sind Ende Januar im Regionalzug auf dem Weg nach Hamburg gestorben, erstochen von Ibrahim A., staatenlos. Anfang Dezember tötete ein Eritreer eine 14-Jährige in Baden-Württemberg, im Herbst erstach ein Somalier zwei Menschen in Ludwigshafen. Immer wieder sorgen Geflüchtete für aufsehenerregende Verbrechen, bei denen die Opfer offensichtlich zufällig ausgewählt werden und die Gewaltausbrüche völlig unvermittelt passieren. Was passiert da im Kopf der Täter? Und kann man die Gefahr vorher erkennen? Der Neuropsychologe und Traumaexperte Thomas Elbert untersucht, warum Flüchtlinge zu Gewalttätern werden. Dabei zeigt sich die besondere Rolle der Herkunftsländer und des Fluchtwegs, auf dem geraubt, gekämpft und überfallen wird – von allen Seiten. Aber in Deutschland gibt es einigen Verbesserungsbedarf bei der Erkennung möglicher Gewalttäter.
MOPO: Herr Elbert, wenn Geflüchtete so plötzlich angreifen: Was passiert da im Kopf?
Thomas Elbert: Erinnerungen übernehmen die Kontrolle. Eine andere Person, ein Gebäude oder Gerüche können einen an eine vergangene Situation erinnern.
Er zückte plötzlich ein Messer und griff an: Zwei junge Menschen sind Ende Januar im Regionalzug auf dem Weg nach Hamburg gestorben, erstochen von Ibrahim A., staatenlos. Anfang Dezember tötete ein Eritreer eine 14-Jährige in Baden-Württemberg, im Herbst erstach ein Somalier zwei Menschen in Ludwigshafen. Immer wieder sorgen Geflüchtete für aufsehenerregende Verbrechen, bei denen die Opfer offensichtlich zufällig ausgewählt werden und die Gewaltausbrüche völlig unvermittelt passieren. Was passiert da im Kopf der Täter? Und kann man die Gefahr vorher erkennen? Der Neuropsychologe und Traumaexperte Thomas Elbert untersucht, warum manche Flüchtlinge zu Gewalttätern werden. Dabei zeigt sich die besondere Rolle der Herkunftsländer und des Fluchtwegs, auf dem geraubt, gekämpft und überfallen wird – von allen Seiten. Aber in Deutschland gibt es einigen Verbesserungsbedarf bei der Erkennung möglicher Gewalttäter.
MOPO: Herr Elbert, wenn Geflüchtete so plötzlich angreifen: Was passiert da im Kopf?
Thomas Elbert: Erinnerungen übernehmen die Kontrolle. Eine andere Person, ein Gebäude oder Gerüche können einen an eine vergangene Situation erinnern. Wenn jemand aber Schreckliches erlebt hat, kann er sich so massiv in seine Angst und Wut zurückversetzt fühlen, dass sie sein Handeln im Hier und Jetzt bestimmen. Diese Flashbacks sind so intensiv, dass sich die Betroffenen eine Viertelstunde später wundern, wo sie sind. Sie denken, sie sind an einstmaligen Orten, wo sie kämpfen mussten. Das rechtfertigt in keiner Weise eine Straftat. Es erklärt aber, wie es dazu kommen kann. Manche fühlen sich auch von einer bösen Macht verfolgt. Diese psychotischen Erscheinungen sind aber seltener.
Wie entsteht ein Trauma, das so stark ist?
Durch lebensbedrohliche Erlebnisse. Kein Junge mit 14 oder 16 Jahren verlässt sein Zuhause oder wird weggeschickt, wenn er ein gutes Leben hat. Sie wachsen in Armut und Bedrohung auf. Jemand aus Eritrea flieht vor dem Zwangseinzug in Milizen, jemand aus Afghanistan vor den Taliban. Auf der Flucht wird er ausgeraubt, von Räuberbanden eingespannt, muss selbst kämpfen und andere überfallen. In dem Moment, wenn er sein Heimatland verlässt, begibt er sich in die Illegalität. Nur 20 Prozent derjenigen, die aus Westafrika aufbrechen, schaffen es bis zum Mittelmeer und nur zehn Prozent auf einem Boot rüber. Diese Erfahrungen lassen einen nicht mehr los.

Wie viele Geflüchtete haben Traumata?
Aus den häufigsten Herkunftsländern Syrien, Afghanistan und aus Westafrika hat jeder Dritte eine posttraumatische Belastungsstörung. Er hat Albträume, ist schreckhaft und fühlt sich auch im sicheren Deutschland schnell bedroht. Mindestens 20 Prozent haben eine diagnostizierbare Depression.
Aber nur die wenigsten werden gewalttätig. Wo ist der Unterschied?
Nur die wenigsten mit solchen Erfahrungen werden zu Straftätern, aber sie werden es überproportional häufig. Ein Faktor ist die Summe der lebensbedrohlichen und erniedrigenden Erfahrungen. Ein zweiter, ob man selbst kämpfen musste und eine Faszination dafür entwickelt hat. Und die moralische Hemmschwelle muss sinken, durch Propaganda oder Drogen und Alkohol.

Kann man die Gefährdung erkennen?
Ja, aber viele Sachverständige achten noch zu stark auf Persönlichkeitsveränderungen oder Psychosen. Man muss aber fragen, was die Menschen auf der Flucht und in Deutschland erlebt haben. So erkennt man eine psychische Belastung. Es gibt anerkannte Verfahren des Screenings, dem nach EU-Richtlinien jeder, der hier ankommt, unterzogen werden müsste. Dass das nicht gemacht wird, ist kein böser Wille. Es fehlt das Wissen und Fachpersonal. Wir bilden jetzt erst die Leute aus.
Sie sprechen von erniedrigenden Erfahrungen in Deutschland. Was meinen Sie?
Menschen mit solchen Belastungsstörungen können sich nicht konzentrieren und damit auch nicht die beruflichen und sozialen Qualifikationen erreichen, um ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu werden. Ihre Hoffnungen erfüllen sich nicht. Scham, Frust und Wut steigen. Viele sind hier auch jahrelang in einer Hängepartie: Sie werden nicht abgeschoben, aber auch nicht aufgenommen. Ich finde das unmenschlich. Entweder man schickt jemanden zurück oder nimmt ihn in der Gesellschaft auf, samt Krankenversicherung und Arbeitserlaubnis. Zudem ist die psychische Atmosphäre in Geflüchtetenheimen schwer erträglich. Es gibt zu wenig Betreuung.
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Was muss sich ändern?
Es muss mehr Fachpersonal ausgebildet und zugelassen werden. Sozialarbeiter könnten unter Supervision auch therapeutische Hilfe leisten oder ein Migrant seine Landsleute in ihrer Muttersprache behandeln. Wir haben hohe Standards, aber dadurch wird weniger geholfen. Und es müssen bürokratischen Hürden abgebaut werden, damit leichter psychotherapeutische Hilfe angeboten werden kann.
Was passiert, wenn man sie nicht behandelt?
Unseren Untersuchungen nach gehen solche Angststörungen, Depressionen und Belastungsstörungen ohne Behandlung selten weg. Die Leute leiden weiter und können ihre Potenziale nicht entfalten. Ich finde das aus humanitären wie aus ökonomischen Gründen schlimm und habe Sorge, dass es zu vermehrten Spannungen in der Gesellschaft führt. Extreme Gewalttaten sind nicht so häufig, Gewalt insgesamt aber schon. Zudem gehen die Experten der Nationalakademie Leopoldina davon aus, dass sich die Lage verschlimmern wird.