• Christine Schmitz (r.) zusammen mit zwei italienischen Kolleginnen und einer deutschen Ärztin von der Hamburger Hilfsorganisation Medical Volunteers International.   
  • Foto: Medical Volunteers International

MOPO-Interview: Eine deutsche Krankenschwester über Leid und Elend in Moria

Christine Schmitz (56) war vom 4. August bis zum 16. September über die in Hamburg gegründete Hilfsorganisation Medical Volunteers International (MVI) auf Lesbos ehrenamtlich als Krankenschwester tätig. Im MOPO-Interview berichtet sie von der medizinischen Versorgung, bedrückenden Schicksalen und unmenschlichen Zuständen im neuen Camp nach dem Brand in Moria.

MOPO: Wie war die Situation vor Ort, als Sie Anfang August auf Lesbos angekommen sind?

Christine Schmitz: In Moria herrschte große Anspannung. Ich glaube, das hat einfach damit zu tun, dass viele dort schon sehr lange auf ihr Asylinterview gewartet und sehr beengt gelebt haben. Es gab viele Streitereien, viele Messestechereien, oft nachts. Es gab immer wieder Neuankömmlinge, denen es ziemlich schlecht ging. Viele haben in der Sprechstunde gezittert. Da hat Corona sicherlich auch eine Rolle gespielt, weil die Leute Angst hatten. Es gab bis zum 2. September keinen bestätigten Fall. Dennoch hing die Krankheit wie ein Damokles-Schwert über der Bevölkerung. Denn das Lager bot die besten Bedingungen für einen Ausbruch. Es gab nicht genug Wasser, um Hände oder Wäsche zu waschen. Es gab nicht genügend Masken, aber man hat sehr eng aufeinander gelebt. Das Immunsystem der Menschen war sicherlich sehr schlecht. Ich fand ich es erstaunlich, dass es noch keine Fälle gab, als ich angekommen bin.

Ein ehrenamtlicher Arzt untersucht ein Kind in Moria.

Ein ehrenamtlicher Arzt untersucht ein Kind in Moria. 

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Medical Volunteers International

Als Sie ankamen, waren Sie zuerst eine Woche in Quarantäne, danach direkt als Krankenschwester vor Ort in Moria?

Genau. Eine britisch-griechische Hilfsorganisation hatte einen Bus gechartert, der einen morgens hin- und abends zurückgebracht hat. Dann habe ich entweder bei der Wundversorgung geholfen oder bei der hausärztlichen Sprechstunde.

Moria: Krankenschwester berichtet über die unmenschlichen Zustände im Camp

Was waren typische Beschwerden?

Das größte Problem im Lager waren die Hauterkrankungen wie Krätze, eine parasitäre Erkrankung, die eben dann entsteht, wenn es nicht genug Wasser zum Waschen gibt. Es entsteht großer Juckreiz, der dann oft nicht sofort versorgt wird. Auch die eigentliche Therapie bleibt oft aus. Dann entsteht eine Superinfektion, die offenen Wunden infizieren sich. Es wurde nicht richtig versorgt und wir haben uns quasi um das Resultat gekümmert, also die superinfizierten Wunden und durften die Erkrankung selbst nicht therapieren.

Hat die Abteilung des Gesundheitsministeriums nicht genug Geld für eine ausreichende medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt?

Es ist nur schlimmer geworden. Diese Abteilung, die zuständig war, wollte die Aufgaben nicht den Nicht-Regierungsorganisationen überlassen. Die Ärzte vor Ort, die auch wirklich sehr hilfsbereit und freundlich waren, hatten einfach keine Mittel, kein Geld, keine Medikamente und von daher waren sie sehr eingeschränkt in ihren Möglichkeiten.

Wie sah ein typischer Tag in der medizinischen Versorgung aus?

Es gab es viele verschiedene Schicksale. Sehr viele Panikattacken. Die psychische Gesundheit der Menschen ist katastrophal. Viele ritzen. Das kennt man hier ja eher von den Mädchen, da gab es das eher bei den Jungen, die sich wirklich den ganzen Brustkorb aufgeritzt und geblutet haben. Depressionen, Suizidversuche. Dann diese ganzen Hauterkrankungen, dann waren aber auch noch ältere Menschen da, die mit den üblichen Erkrankungen kommen: Bluthochdruck, Zuckererkrankung, Insulinpflicht. Es gab Menschen mit Behinderungen, viele Schwangere, es gab sexuelle Gewalt. 

Frauen: Menschenhandel und Flucht

Gibt es ein Schicksal, das Ihnen besonders im Kopf geblieben ist?

Mir sind vor allem die alleinreisenden Frauen aus der demokratischen Republik Kongo im Kopf geblieben. Das ist mir sehr nahe gegangen. Ich habe nie irgendetwas beweisen können, aber das kann eigentlich nur ein Hinweis auf Menschenhandel sein. Das kenne ich auch aus anderen afrikanischen Ländern und aus der Flüchtlingsarbeit in Berlin. Dass diese Frauen losgeschickt werden, um hier mit Prostitution Geld zu verdienen. Das erzählen die Frauen natürlich nicht. Aber welche Frau lässt denn ihre Kinder zurück? Die meisten kongolesischen Frauen wurden in Kongo schon vergewaltigt wurden. Viele haben sexuelle Gewalt schon auf der Flucht in der Türkei erlebt, und auch in Moria selbst wurden Frauen nachts vergewaltigt, zum Beispiel auf dem Weg zur Toilette. Das Schicksal dieser alleinlebenden afrikanischen Frauen hat mich schon sehr belastet. Wenn eine berichtet, dass sie von ihrem Onkel vergewaltigt wurde und mit dem Kind da ist, dem Ergebnis der Vergewaltigung, dann kann man sich kaum vorstellen, was das für ein Trauma bedeutet und wie schwer es ist, dieses Kind aufzuziehen.

Das neue Camp auf Lesbos nach dem Brand in Moria.

Das neue Camp auf Lesbos nach dem Brand in Moria. Ein Kind spielt im Wasser. 

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Medical Volunteers International

Nach dem Brand in Moria hat die griechische Armee ein neues Lager aufgebaut. Wie ist Ihr Eindruck?

Das ist ein alter Schieß-Übungsplatz. Da fragt man sich, was da noch im Boden liegt. Das Gelände ist heikel. Es ist auf fünf Jahre für viel Geld gepachtet worden. Am Anfang hieß es, dass es nur eine zeitliche Übergangslösung sein soll. Natürlich will man kein zweites Moria, aber ich befürchte, dass es dazu jetzt gekommen ist. Zusammen mit meinem Chef Kai Wittstock aus Hamburg konnte ich das neue Lager anschauen. Die Zelte waren von schlechter Qualität, die halten nicht viel aus. Die waren zu dicht aufeinander aufgebaut. Im Sommer viel zu heiß, im Winter viel zu kalt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man da überwintern soll. Es ist ja auch direkt am Wasser an der Ägäis. Da werden Kinder ertrinken. Ich habe jetzt auch von einem Dolmetscher gehört, dass es Probleme mit den Toiletten und Waschgelegenheiten gibt, sodass die Menschen Salzwasser nutzen. In Moria zum Beispiel haben die Leute Leitungsrohre angeritzt und sich mit dem Wasser gewaschen. Das habe ich sehr oft gesehen.

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Die kalte Jahreszeit kommt. Wie schätzen Sie die Zukunft im Winter ein?

Das ist ein großes Problem, weil es viel zu kalt werden wird. Man kann nicht so weitermachen. Eigentlich müsste man dafür sorgen, dass es fairere Asylverfahren gibt oder dass die anderen europäischen Länder Menschen aufnehmen. Was haben diese Menschen nicht alles schon durchgemacht? Flucht aus dem Herkunftsland. Doch keiner flieht freiwillig. Menschen sind zum Teil gefoltert oder vergewaltigt worden. Die oft monatelange Flucht. Dann Moria selber, was wirklich eine Katastrophe der Unterbringung war. Dann die Pandemie. Der Brand. Und jetzt einfach so weitermachen? Das finde ich sehr unmenschlich!

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