Mittelfinger-Posse: AfD-Politiker zerrt Gegner vor Gericht – Richter räumt auf
Sie sollen ihm den Mittelfinger gezeigt und ihn damit beleidigt haben. Das wirft zumindest AfD-Politiker Reinhard S. den vier Angeklagten Sabine K. (69), Ernst K. (58), Ruthild S. (64) und Kay S. (67) vor. Die Staatsanwaltschaft erstellte einen Strafbefehl, die Beschuldigten gingen dagegen vor. Vor Gericht zeigt sich: Die Anzeige des AfD-Politikers war eine reine Retourkutsche – und die Staatsanwaltschaft allzu „sorglos“.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Neukunden lesen die ersten 4 Wochen für nur 1 €!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen //
online kündbarMOPO+ Jahresabo
für 79,00 €Jetzt sichern!Spare 23 Prozent!Zugriff auf alle M+-ArtikelWeniger Werbung
Danach zum gleichen Preis lesen //
online kündbar
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
Sie sollen ihm den Mittelfinger gezeigt und ihn damit beleidigt haben. Das wirft zumindest AfD-Politiker Reinhard S. den vier Angeklagten Sabine K. (69), Ernst K. (58), Ruthild S. (64) und Kay S. (67) vor. Die Staatsanwaltschaft erstellte einen Strafbefehl, die Beschuldigten gingen dagegen vor. Vor Gericht zeigt sich: Die Anzeige des AfD-Politikers war eine reine Retourkutsche – und die Staatsanwaltschaft allzu „sorglos“.
Der Vorfall hat sich im Januar 2022 in der Hamburger Innenstadt ereignet. Laut Polizei demonstrierten mehr als 13.000 Menschen an diesem Tag gegen die Corona-Maßnahmen. Das Motto: „Das Maß ist voll – Hände weg von unseren Kindern“. Die vier Angeklagten sollen am Rande der Demo dem AfD-Politiker Reinhard S. den erhobenen Mittelfinger gezeigt und sich so der Beleidigung strafbar gemacht haben, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaft am Freitag vor dem Amtsgericht Hamburg (Sievekingplatz).
Die Angeklagten sind empört. Denn nicht sie hätten den Politiker beleidigt, sondern er sie. Deshalb stellten sie bereits direkt bei den Polizisten auf der Demo eine Anzeige gegen den AfD-Mann. Zur MOPO sagte der Angeklagte Ernst K. (58): „Das eigentlich Skandalöse ist das Verhalten des Staatsanwaltes, welcher erst die frei erfundene Gegenanzeige von Herrn S. verhandeln lassen möchte und dann erst eventuell meine.“
Hamburg: AfD-Politiker beleidigt Anti-Rechts-Aktivisten
Vor Gericht schildern die vier Angeklagten den Ablauf des Geschehens. Sie berichten übereinstimmend, dass sie an jenem Tag Anfang 2022 an der Kreuzung Ballindamm/Glockengießerwall gewesen seien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zog der Aufmarsch der Impfgegner und Corona-Leugner vorbei. Ruthild S.: „Ich war mit meinem Mann dort und wollte mir ein politisches Bild der Demo machen. Wer kommt da? Wie viele sind es? Wie ist die Stimmung?“
Aus einem der Demo-Wagen sei der Aufruf an die Demonstranten geschallt, sie sollten Gegendemonstranten anzeigen. Deshalb hätten sie dem Demonstrationszug die Mittelfinger entgegen gestreckt, erzählt Ruthild S. und ergänzt: „Ich bin eigentlich keine Person, die den Stinkefinger zeigt.“
Auf die Gruppe sei daraufhin eine blonde Frau zugekommen, habe diskutiert und schließlich mit ihrem Handy Fotos von ihnen gemacht. „Die Frau gehörte zu einem Mann mit Bernhardiner“, erzählt Ernst K.. Dieser Mann (Reinhard S.) habe sich anschließend, nach einem Gespräch mit ihr, der Gruppe von hinten genähert. „Das habe ich als bedrohlich empfunden“, berichtet der Angeklagte. Ruthild S. habe den Politiker daraufhin gebeten, Abstand zu halten. Während sie ihn siezte, habe er sie in aggressivem Tonfall geduzt. „Er sagte mir, ich solle ihm erstmal einen guten Tag wünschen“, berichtet sie dem Gericht. „Dann nannte er mich eine fette Alte.“
Die Gruppe habe ihn darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um den Straftatbestand Beleidigung handle. Ernst K. machte für die Wiedererkennung ein Foto des Politikers. „Er sagte daraufhin zu mir, ich könne ruhig zur Polizei gehen und ihn anzeigen, dann erfahre er wenigstens meine Adresse. Aber das traue ich mich wohl nicht“, wiederholt Ernst K. dessen Worte. „Dann nannte er mich einen schwulen Feigling.“ Auch Sabine K. sei von dem AfD-Politiker beleidigt worden. „Er hat mich als dreckige Schlampe beschimpft“, sagt sie vor Gericht.
Die Gruppe sei dann vor Ort zur Polizei, die die Anzeige und die Personalien des Politikers aufgenommen habe.
Gericht: Staatsanwältin plädiert auf Freispruch
Der Richter lässt sich auf Karten und mittels eines Videos die Situation vor Ort genau schildern. Ihm komme es darauf an, wo die vier genau standen und wie groß die Demo war.
Es wird deutlich: Die Gruppe stand gut 30 Meter vom Demonstrationszug weg, als sie die Mittelfinger empor reckten. Der Kläger Reinhard S. stand nicht vor ihnen und es gab noch keinerlei Interaktion zwischen ihnen: Die verbale Auseinandersetzung folgte erst später.
Das ist wichtig, erklärt der Richter den Anwesenden. Denn „je größer ein Kollektiv, desto größer die Anforderung an eine Beleidigung“. Bedeutet: Ein Mittelfinger, der in diesem Abstand gegen eine große Menschenansammlung gehoben wird, kann nicht den Tatbestand der Beleidigung eines Einzelnen erfüllen. Der Richter kritisiert, dass die Staatsanwaltschaft überhaupt einen Strafbefehl gestellt habe.
Das könnte Sie auch interessieren: Schrille Töne, irre Reden: So lief die Corona-Demo in Hamburg
Die Staatsanwältin erhebt sich für ihr Schlussplädoyer. Sie bestätigt die Ausführungen des Richters. Es könne sich in diesem Fall um keine Beleidigung handeln. Sie fordert Freispruch. Der Verteidiger plädiert ebenfalls auf Freispruch – und greift in seinem Schlussplädoyer die Staatsanwaltschaft an. Er wisse nicht, ob es Dummheit oder Sorglosigkeit sei, mit der hier agiert wurde, aber: „Ich würde mir wünschen, dass Sie in Ihrem Haus mal ein bisschen genauer hinschauen und die AfD genauso ernst nehmen, wie Herr K. (sein Mandant, Anm. d. Red.) das tut.“
Prozess: Publikum applaudiert dem Richter
Der Richter spricht die Angeklagten frei. „Den Vorwurf der Beleidigung sehe ich hier gar nicht“, begründet er sein Urteil. Vielmehr seien die Angeklagten – mit Blick auf die Beleidigungen ihnen gegenüber – wohl Opfer von Straftaten geworden. „Ich finde diese Beleidigungen gegen Sie krass“, sagt er. Und mit Verweis auf das laufende Verfahren gegen den AfD-Politiker: „Ich finde, das kann man nicht einstellen.“
Das könnte Sie auch interessieren: 90-Jährige bei Corona-Demo umgeschubst: Oberschenkel gebrochen
Das Publikum im Saal beginnt zu applaudieren. „Applaus!“, ruft der Richter und lacht. „Applaus habe ich noch nie bekommen!“