„Kriegsähnliche Rhetorik“: Erdogans geheimer Wahlkampf in Hamburg
Damit hat vor wenigen Monaten noch niemand gerechnet: Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tatsächlich um seine Macht bangen muss. Am 14. Mai wird gewählt – und die Umfragen sehen seinen sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der CHP vorne. Umso mehr kommt es für Erdogan jetzt auf die Auslandstürken an. Sie könnten das Zünglein an der Waage sein. Und deshalb wird auch hier in Hamburg aktuell hart um jede Stimme gerungen.
Hinter den Kulissen, in türkischen Vereinen und Moscheen, finden unbemerkt von der Öffentlichkeit Wahlkampfveranstaltungen statt – vor allem zugunsten von Erdogan. Davon ist der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Kazim Abaci (57) überzeugt. Der Diplom-Volkswirt kam mit 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. „Dieser Wahlkampf“, sagt Abaci, „wird sogar unter dem Deckmantel des Fastenbrechens durchgeführt.“
Kazim Abaci: „Wahlkampf unter dem Deckmantel des Fastenbrechens“
Damit hat vor wenigen Monaten noch niemand gerechnet: Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tatsächlich um seine Macht bangen muss. Am 14. Mai wird gewählt – und die Umfragen sehen seinen sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu von der CHP vorne. Umso mehr kommt es für Erdogan jetzt auf die Auslandstürken an. Sie könnten das Zünglein an der Waage sein. Und deshalb wird auch hier in Hamburg aktuell hart um jede Stimme gerungen.
Hinter den Kulissen, in türkischen Vereinen und Moscheen, finden unbemerkt von der Öffentlichkeit Wahlkampfveranstaltungen statt – vor allem zugunsten von Erdogan. Davon ist der SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Kazim Abaci (57) überzeugt. Der Diplom-Volkswirt kam mit 15 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. „Dieser Wahlkampf“, sagt Abaci, „wird sogar unter dem Deckmantel des Fastenbrechens durchgeführt.“
Kazim Abaci: „Wahlkampf unter dem Deckmantel des Fastenbrechens“
Nach Abacis Informationen hat erst vor wenigen Tagen eine Partei namens Hüda Par in Hamburg für die Wahl Erdogans geworben. Diese Partei, die ein Bündnis mit Erdogans AKP eingegangen ist, wird als gefährlich eingestuft, denn sie soll der türkischen Hizbullah nahestehen, die von Verfassungsschützern als extremistisch eingestuft wird und in den türkischen Kurdengebieten viele Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Vor wenigen Tagen soll der stellvertretende Vorsitzende der Hüda Par-Partei die Redaktion der Zeitung „Post Gazetesi“ in Hamburg besucht und gesagt haben, seine Partei möchte, dass Erdogan die Wahl gewinnt. Der Parteichef habe erwähnt, dass er über die Bedeutung der 1,5 Millionen Stimmen der Auslandstürken Bescheid wisse. Begleitet wurde der Hüda Par-Vertreter angeblich vom Vorsitzenden der Vahdet-Moschee am Steindamm (St. Georg), von der es ebenfalls heißt, sie stehe der Hizbullah nahe.
Da die Vahdet-Moschee zur Schura gehört, dem Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg, appelliert SPD-Politiker Abaci an die islamischen Verbände in der Stadt, sich von radikal-islamistischen Strömungen zu distanzieren und sich nicht zu Wahlkampfzwecken instrumentalisieren zu lassen. An den Senat hat Abaci eine Anfrage gerichtet: Er will wissen, welche Informationen die Behörden über Hüda Par und die türkische Hizbullah haben.
Vertreter einer radikal-islamischen Partei werben in Hamburg für Wahl Erdogans
Dem Landesamt für Verfassungsschutz liegen offenbar keine Erkenntnisse vor. Es sei jedoch nicht ungewöhnlich, so die Verfassungsschützer, „dass im Vorfeld der Wahlen in der Türkei auch Vertreter politischer Parteien in Deutschland versuchen, für ihre Ziele zu werben, wobei es sich häufig um inoffizielle Besuche in Vereinen und Einrichtungen handelt. Vertreter türkischer Parteien, die in Deutschland als extremistisch eingeschätzt würden, bilden hier keine Ausnahme.“ Wahlkampfauftritte ausländischer Politiker aus Nicht-EU-Ländern seien in der Bundesrepublik drei Monate vor Wahlterminen verboten.

Abaci sagt, die Stimmung sei in diesem Wahlkampf aufgeheizt wie nie zuvor. Das gelte sowohl für die Türkei als auch für die türkische Community in unserer Stadt. „Es gibt fanatische Menschen, die so weit gehen, alle diejenigen, die gegen Erdogan sind, zu Feinden des Vaterlandes zu erklären.“ Die Wahl werde von der AKP zur Schicksalswahl für die Türkei hochstilisiert. Daher die „kriegsähnliche Rhetorik“. Der Opposition wird vorgehalten, sie wolle das Land an den Westen verraten, es verkaufen.
„Wer gegen Erdogan ist, wird zum Feind des Vaterlands erklärt“
Mehr als 40.000 in Hamburg lebende türkische Staatsbürger können seit dem 29. April beim türkischen Generalkonsulat in Rotherbaum ihr Kreuz machen. Bei der Wahl 2018, die Erdogan mit 53 Prozent gewann, erhielt er in Hamburg überdurchschnittlich viele Stimmen: nämlich 60 Prozent. Mit anderen Worten: Erdogan ist bei den Türken in der Diaspora noch weit populärer als in der Heimat.
Wieso ist das so? Wieso verhelfen türkischstämmige Deutsche, die hierzulande die Freiheiten eines liberalen Rechtsstaates genießen, in ihrer alten Heimat einem autoritären Staatsmann wie Erdogan an die Macht?

Über diese Frage hat die MOPO außer mit SPD-Politiker Abaci mit etlichen anderen Deutschtürken gesprochen, einem Journalisten etwa und einem Ingenieur. Interessant auch die Meinung von Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Uni Duisburg-Essen. Herauskristallisiert hat sich, dass es mehrere Gründe gibt:
Warum ausgerechnet unter Deutschtürken so viele Erdogan-Fans sind
- Die türkischen „Gastarbeiter“, die in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland kamen, stammten vornehmlich aus ländlichen Gebieten. Dort sind Menschen traditionell konservativ orientiert, und ihre Werte und Normen haben sie an ihre Kinder weitergegeben. Bei konservativen Menschen genießt Erdogan den Ruf, ein großer Staatsmann zu sein, der der Türkei wieder Geltung in der Welt verschafft hat.
- Daneben ist von großer Bedeutung, dass jahrzehntelang darüber gestritten wurde, ob Türken, ob Moslems zur deutschen Gesellschaft gehören. Abgelehnt zu werden, hat die Menschen verletzt. Viele identifizieren sich deshalb nicht mit deutschen Werten und haben sich stark ihrer alten Heimat zugewandt.
- Und daran konnte Erdogan anknüpfen. Während sich die Türken von der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt fühlten, hat er ihnen die Hand gereicht: Er war es, der dafür gesorgt hat, dass Auslandstürken bei Wahlen in türkischen Konsulaten ihre Stimme abgeben können. Er war es, der extra ein Ministerium für die Auslandstürken geschaffen hat. Er hat den Auslandstürken signalisiert: „Egal, wo ihr seid, egal welche Staatsangehörigkeit ihr habt, ihr gehört zu uns.“
- Eins kommt noch hinzu: Der wirtschaftliche Niedergang der Türkei, für den Erdogan verantwortlich ist, beeinflusst kaum die Wahlentscheidung der Deutschtürken – denn davon bekommen sie nichts mit: Sie verbringen vielleicht vier Wochen Urlaub in der alten Heimat. Mehr nicht. Dass die türkische Lira ins Bodenlose gestürzt ist, muss sie nicht stören – im Gegenteil. Die Euros in ihrer Tasche sind umso mehr wert.

Weil sich bei der aktuellen Präsidentenwahl ein Kopf-an-Kopf-Rennen abzeichnet und der Herausforderer in den Umfragen sogar einen hauchdünnen Vorsprung hat, könnten am Ende die Deutschtürken den Ausschlag geben, glauben Beobachter. Daher wird um jede Stimme hart gerungen. So unterhält die AKP in Hamburg einen Fahrdienst und bietet Wahlberechtigen an, sie zur Stimmabgabe zum Generalkonsulat zu bringen – eine Dienstleistung, die ohne Frage ein Geschmäckle hat.
Was, wenn Erdogan verliert: Wird er seine Niederlage eingestehen?
Wenn Erdogan seine Macht einbüßen sollte, dann hat das nicht zuletzt mit dem Jahrhunderterdbeben im Februar zu tun: Noch immer leben Hunderttausende Opfer in Zelten. Das schleppende Krisenmanagement in den ersten Tagen nach der Katastrophe könnte die Regierung entscheidende Stimmen gekostet haben, auch unter den eigenen Anhängern.

Gleichzeitig trifft Herausforderer Kemal Kilicdaroglu den richtigen Ton: Er will den Rechtsstaat stärken, das autoritäre Präsidialsystem abschaffen und die Pressefreiheit wieder einführen. Und so wird zum ersten Mal seit 2002 bei einer Präsidentenwahl nicht bloß darüber diskutiert, mit wie viel Prozent Erdogan gewinnt. Diesmal könnte er tatsächlich unterliegen. Einerseits ist der Bürgerschaftsabgeordnete Kazim Abaci optimistisch, dass es für einen Regierungswechsel reichen könnte. „Zeit wird es!“ Andererseits macht er sich Sorgen: „Die Frage ist, ob Erdogan eine Niederlage auch anerkennt? Oder ob er sich mit Wahlmanipulationen an der Macht hält?“ Zuzutrauen sei Erdogan alles, sagt Abaci. „Das ist einer, der Wahlen befürwortet. Aber nur so lange er der Gewinner ist.“

Die MOPO hat versucht, mit Anhängern von Erdogans Partei AKP in Hamburg ins Gespräch zu kommen. Woher kommt sie, die Begeisterung für einen Mann, der Tausende Regimekritiker – Journalisten, Künstler und Intellektuelle – ins Gefängnis geworfen hat? Leider haben es alle, die wir angefragt haben, abgelehnt, sich unseren Fragen zu stellen.