„Die Proteste haben einen Aspekt, der der AfD wirklich unmittelbar schadet“
Menschen bis zum Horizont, U-Bahnen, die wegen Überfüllung an Bahnhöfen nicht mehr anhalten, Demos, die wegen des gigantischen Zulaufs vorzeitig abgebrochen werden müssen – die Proteste gegen Rechtsextremismus in den vergangenen Wochen haben so viele Teilnehmer auf die Straßen in ganz Deutschland gebracht wie seit vielen Jahren nicht. Was bedeutet der massive Gegenwind für die AfD? Die MOPO sprach mit dem Bremer Soziologen und Protestforscher Nils Kumkar über trotziges Beharren, Leute, die jetzt erst Recht in die Partei eintreten, die Macht des Migrations-Themas – und welcher Aspekt der Großdemos der AfD unmittelbar schadet, auch wenn sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt.
MOPO: Die AfD erlebt ja derzeit einen nie dagewesenen Gegenwind. Überrascht Sie das Ausmaß der Proteste?
Nils Kumkar: Ja, damit habe ich nicht gerechnet. Wir wissen aus der Umfrageforschung, dass Dreiviertel der Gesellschaft die AfD zutiefst ablehnen und die Correctiv-Recherche hat dem aktiveren Teil dieser Bevölkerungsgruppe den Impuls gegeben, jetzt mal in Bewegung zu kommen. Da steht kein großer Plan gegen die AfD dahinter und woher sollte der auch kommen, wenn auch die Politik in den vergangenen zehn Jahren kein Mittel gefunden hat. Aber es ist ein starkes Zeichen.
- Deutsch (Deutschland)
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Menschen bis zum Horizont, U-Bahnen, die wegen Überfüllung an Bahnhöfen nicht mehr anhalten, Demos, die wegen des gigantischen Zulaufs vorzeitig abgebrochen werden müssen – die Proteste gegen Rechtsextremismus in den vergangenen Wochen haben so viele Teilnehmer auf die Straßen in ganz Deutschland gebracht wie seit vielen Jahren nicht. Was bedeutet der massive Gegenwind für die AfD? Die MOPO sprach mit dem Bremer Soziologen und Protestforscher Nils Kumkar über trotziges Beharren, Leute, die jetzt erst Recht in die Partei eintreten, die Macht des Migrations-Themas – und welcher Aspekt der Großdemos der AfD unmittelbar schadet, auch wenn sie sich mit aller Kraft dagegen wehrt.
MOPO: Die AfD erlebt ja derzeit einen nie dagewesenen Gegenwind. Überrascht Sie das Ausmaß der Proteste?
Nils Kumkar: Ja, damit habe ich nicht gerechnet. Wir wissen aus der Umfrageforschung, dass Dreiviertel der Gesellschaft die AfD zutiefst ablehnen und die Correctiv-Recherche hat dem aktiveren Teil dieser Bevölkerungsgruppe den Impuls gegeben, jetzt mal in Bewegung zu kommen. Da steht kein großer Plan gegen die AfD dahinter und woher sollte der auch kommen, wenn auch die Politik in den vergangenen zehn Jahren kein Mittel gefunden hat. Aber es ist ein starkes Zeichen.
Wie nimmt die AfD dieses Zeichen wahr? Geraten die in Panik?
Was auffällt, ist eine sehr konfuse Art der öffentlichen Kommunikation, das deutet schon daraufhin, dass die gerade etwas kopflos sind. Diese Proteste durchkreuzen ja die Erzählung, dass es einen immer weiter anschwellenden Unmut in der Bevölkerung gibt und dass die AfD sich an die Spitze setzt. Nun sehen wir plötzlich einen riesigen Unmut, der sich gegen die AfD richtet und der ist auch noch größer als alles, was sie auf die Straße bekommen haben. Das überfordert sie in der Kommunikation sichtbar.
Die Umfragewerte sinken ja leicht, sind da einige Wähler ins Nachdenken gekommen?
Einen Zusammenhang mit den Protesten kann man nicht seriös nachweisen, aber man sieht: Die großen Demos nutzen ihnen nichts, auch wenn sie das behaupten. Und das Beharren auf offensichtlich Falschem, das ist immer ein Zeichen dafür, das jemand politisch Probleme hat und mit Fakten nicht weiterkommt.
Die Nachrichten sind aber widersprüchlich: Ein sicher geglaubter AfD-Kandidat wurde nicht zum Landrat gewählt, andererseits meldet die Partei viele Neueintritte.
Das ist nicht widersprüchlich. Die Landratswahl war äußerst knapp und der CDU-Kandidat, der gewonnen hat, ist äußerst rechts. Der hätte vielleicht auch ohne die Proteste knapp gewonnen. Und wenn jemand wirklich aus Überzeugung die AfD wählt und überzeugt ist, dass alles, was dagegen läuft, ein abgekartetes Spiel ist und dass nichts, was in den Nachrichten kommt, stimmt – dann können die Proteste ihn tatsächlich darin bestätigen, jetzt einzutreten. Das ist der Preis für diese zugespitzten Diskussionen: Die Lager verhärten. Aber das AfD-Lager vergrößert sich nicht.
Die kriegen doch mehr Mitglieder.
Ja, einige Leute, die ohnehin kurz vorm Eintritt waren, treten jetzt ein, dafür verlieren sie einige Wähler. Aber politische Prozesse sind komplex, das kann sich auch wieder ändern. Die Proteste haben aber einen Aspekt, der der AfD wirklich unmittelbar schadet.
Nämlich?
Die Demos haben die öffentliche Debatte verwandelt: Wir reden nicht mehr über Migration, sondern über den Rechtsextremismus in der AfD. Und die AfD kann ihr Wählerpotential immer dann ausschöpfen, wenn über Migration als „Schicksalsfrage der Nation“ gesprochen wird. Auch wenn die Partei in der Debatte massiv kritisiert wird, das ist egal, Hauptsache, das Thema ist präsent. Wenn dieses Mobilisierungsthema wegfällt, bekommt sie Schwierigkeiten.
Als neuestes Thema ist ja der Austritt aus der EU aufgetaucht.
Jenseits von Migration funktioniert nichts, das haben wir ja bei Corona erlebt: Da setzte die AfD sich an die Spitze der Impfgegner, damit hat sie ihre Anhänger aber nicht in vergleichbarer Zahl hinterm Ofen vorgelockt.
Woran liegt das?
Aus der Einstellungsforschung wissen wir: Die Milieus, die die AfD wählen, sind sich bei fast nichts einig. Bei Umverteilung, bei kultureller Liberalisierung, beim Austritt aus der EU – überall gehen die Meinungen auseinander, nur bei einer sehr restriktiven Migrationspolitik sind sich alle einig. Das sehen wir auch im internationalen Vergleich: Rechtspopulistische Parteien haben Probleme, wenn andere Themen als Migration bespielt werden.
Sind AfD-Wähler Anti-Demokraten?
Viele sind der festen Überzeugung, Demokraten zu sein. Trotzdem haben sie keine Probleme, aus Protest Rechtsextreme zu wählen.
Was bedeuten diese Riesen-Demos für die Zivilgesellschaft? Fast jeder kennt ja jemanden, der da war.
Das ist mittelfristig der wichtigste Effekt solcher Proteste: Selbstvergewisserung, auch wenn viele das belächeln. Besonders in Regionen, wo die AfD-Gegner sich lange mit dem Rücken zur Wand fühlten, kann man das gar nicht hoch genug einschätzen.
Das trifft auf Hamburg jetzt weniger zu.
Auch in Hamburg, oder in Bremen, wo es schon lange Bündnisse gegen Rechts gibt, sind solche Demonstrationen ein wichtiges Zeichen und geben Rückenwind, nachdem ja lange alle auf die AfD starrten wie das Kaninchen auf die Schlange. Und noch etwas ist wichtig: Diese Großdemos richten sich auch an diejenigen, die schon mit einer Zusammenarbeit mit der AfD liebäugeln. Die kennen jetzt das Mobilisierungspotential, auch das ist ein wichtiges Signal solcher Proteste.
Wird sich dieser Protest wieder totlaufen?
Das kann keiner voraussagen. Hätten Sie mich vor einigen Monaten gefragt, ob an zwei Wochenenden hintereinander Hunderttausende gegen Rechtsextremismus auf die Straße gehen, ich hätte es bezweifelt.