Von Schnaps bis Film-Musik: Das sind die Menschen vom Mercedes-Haus
Von außen sieht es aus wie ein grauer Gewerbe-Klotz – das Mercedes-Haus an den Elbbrücken, das Autofahrer bei der Einfahrt nach Hamburg begrüßt. Tatsächlich hat das Gebäude mit Mercedes trotz des Sterns auf dem Dach gar nichts zu tun: Im Inneren befindet sich eine ganz eigene Welt, in der es um Schnaps geht, in der Film-Musik entsteht, Badewannen aus Papier erfunden und gigantische Skulpturen geplant werden.
- Deutsch (Deutschland)
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Von außen sieht es aus wie ein grauer Gewerbe-Klotz – das Mercedes-Haus an den Elbbrücken, das Autofahrer bei der Einfahrt nach Hamburg begrüßt. Tatsächlich hat das Gebäude mit Mercedes trotz des Sterns auf dem Dach gar nichts zu tun: Im Inneren befindet sich eine ganz eigene Welt, in der es um Schnaps geht, in der Film-Musik entsteht, Badewannen aus Papier erfunden und gigantische Skulpturen geplant werden.
Das Erdgeschoss
Gleich unten im Erdgeschoss betritt man eine ganz eigene Welt für sich. Ein Paradies für Handwerker mit Fräsen,, Flex, Schweißgerät, einer Schlagschere zum Bleche schneiden, einer Sandstrahlkabine und uralten Apparaten aus den 60er Jahren, mit denen Lufthansa-Lehrlinge einst an Turbinen werkelten. Mitten drin: Henning Rama.
Der 46-Jährige ist eigentlich IT-Administrator bei einer Organisation, die Schüleraustausche organisiert. Doch Ramas Leidenschaft steckt in dieser Werkstatt, in der er seit 15 Jahren jede freie Minute verbringt. Seine Schablonen sind Grundlage für Schilder an Deutschlands Autobahnen. Auch die E-Ladestationen in ganz Hamburg sind mit Rama Autos verziert. Der Tüftler teilt sich seine Werkstatt mit neun weiteren Kreativen, die von Druck, Möbelbau bis hin zu Pedelecs fast alles bauen können, was man sich vorstellen kann.
1. Stock
Direkt über der Werkstatt liegt das Studio Wolf von Manuel Stülten. Der Fotograf kommt eigentlich aus dem Bereich Street Photography, macht in seinem Studio aber auch Mode- und Porträt-Aufnahmen. Außerdem arbeitet er als Location Scout für Filmproduktionen.
2. Stock
Hinter der Tür im 2. Stock wird es sehr bunt. Der Boden ist von Klecksen übersät, an den Mauern lehnen gigantische Leinwände. Hier sind die Künstlerinnen Magdalena Sadziak, Birgit Brandis, Jessica Halm und Julia Maiquez Esterlich am Werk. „Für uns sind die hohen Wände dieses Hauses ein Riesenglück. Und der große Fahrstuhl!“, sagt Magdalena Sadziak vor ihrem mehr als zwei Meter hohen Gemälde, auf das ihre Galerie in Palma de Mallorca schon sehnsüchtig wartet.
Gegenüber hinter der anderen Tür befindet sich das Tonstudio „O-Ton“ von Stefan Wulff und Hinrich Dagefoer, die in dem mit Musikinstrumenten dicht zugestellten Raum nicht nur mit ihrer eigenen Band proben, sondern vor allem Musik produzieren. Dazu gehört Filmmusik für den „Tatort“, für die ZDF-„Nachtschicht“ und „Die Kanzlei“. Aber auch berühmte Künstler gingen hier schon ein und aus – unter anderem Lou Reed.
Das Studio ist seit 1980 im Haus und damit am längsten von allen aktuellen Mietern. „Wir profitieren von der Insellage, weil wir hier keine Nachbarn haben, die sich beschweren könnten“, erzählt Stefan Wulff. Nur der Straßenlärm war früher manchmal ein Problem. „Als es den CB Funk noch gab, hatten wir manchmal LKW-Fahrer in der Leitung, die ihre Frauen anriefen, um zu fragen, was es zum Abendessen gibt.“
3. Stock
Hier dreht sich alles um Graffiti. Der Hamburger Sprayer Mirko Reisser („DAIM“), der seine Jugendsünde zu seinem Beruf machte, teilt sich die Etage mit Heiko Zahlmann, ebenfalls ehemaliger Graffiti-Writer, der seine Ideen aber inzwischen in dreidimensionale Skulpturen verwandelt. Beide sind auf internationaler Bühne aktiv: Mirko Reisser besprühte zuletzt ein Hochhaus in Calgary (Kanada) mit dem höchsten Wandbild der Welt. Zahlmanns Skulpturen zieren Plätze in Hamburg (Karolinenplatz), Frankfurt oder St. Ingbert, um nur einige zu nennen.
Mit ihrer Ateliergemeinschaft „getting-up“ engagieren sich die beiden auch sozial, z.B. beim Projekt „Gefangene helfen Jugendlichen“.
4. Stock
Trotz der hohen Decken: Für die Skulpturen des Künstlerduos Mutter/Genth wäre selbst im Mercedes-Haus kein Platz. Heike Mutter und Ulrich Genth bauen Spacewalks wie die 333 Meter hohe Brücke in Pohang (Südkorea), die mit ihren 717 Stufen aussieht wie eine Achterbahn. Ein ähnliches Gebilde befindet sich in Duisburg. Geplant wird in Hamburg.
Für die riesigen Installationen des Bildhauers Florian Huber ist jedoch Platz genug. Der Künstler fertigt ebenfalls im 4. Stock aus Bauzäunen oder Nato-Draht Werke, mit denen er seine Konsumkritik zum Ausdruck bringt.
Nachbar der Künstler auf der vierten Etage ist außerdem eine Firma, die besonders von der hohen Tragkraft des Eisenbeton-Gebäudes profitiert. 700 Kilonewton pro Quadratmeter sind erlaubt – und die braucht „Lioko Spirits“ auch, um ihre schweren Kartons voller „Mexikaner“-Flaschen zu lagern. Der feurige Tomatendrink, der sich längst weit über die deutschen Grenzen hinaus zu einem Party-Kultgetränk gemausert hat, wird seit 2010 von der Billhorner Brückenstraße 40 aus vertrieben. Davor war 15,3 prozentige Alkohol-Mische im wahrsten Sinne des Wortes eine reine Schnapsidee.
„Wir waren fünf Studenten und haben das nur für unsere WG-Partys zusammengemixt“, erzählt Geschäftsführer Moritz Preiss. Das Zeug kam so gut an, dass Preiss und seine Freunde es immer wieder nachliefern mussten. Bei einem feucht-fröhlichen Kiez-Abend kam die Idee auf, daraus ein Geschäft zu machen. Und machten sich die Studenten in Hamburg auf die Suche nach einer Mosterei, bei der sie Tomaten verflüssigen und mit ihrer besonderen Gewürz-Alkohol-Kombination versetzen konnten.
Bald verbrachten die Jungs fast ihre ganze Freizeit in der Mosterei, füllten Flaschen ab, klebten selbst die Etiketten auf und halfen als Gegenleistung beim Apfel-Pressen. „Wir hatten ja kein Geld. Es dauerte fünf Jahre, bis wir uns zum ersten Mal eine kleine Aufwandsentschädigung auszahlen konnten“, erzählt Preiss.
Heute werden die „Mexikaner“ von einer Mosterei im Umland gepresst. Nur die Gewürzmischung stellt Preiss noch selbst her – im hauseigenen Labor in der Billhorner Brückenstraße. Außerdem befindet sich hier das Marketing, die Vertriebskoordination, die Produktinnovation sowie die Verwaltung. Preissers früheren Kommilitonen sind nicht mehr mit an Bord. Zu fünft sind sie aber immer noch.
5. Stock
Auch die fünfte Etage muss einiges an Gewicht aushalten. Hier stehen vor allem Bücher! Die Hamburger Studienbibliothek (HSB) zog vor vier Jahren von St. Pauli nach Rothenburgsort. Zuvor war das gemeinnützige Projekt mit 10.000 Büchern zum Themenbereich Nationalsozialismus, Antisemitismus und deutsche Vergangenheitspolitik, materialistische Theorie und Kritik der politischen Ökonomie, Psychoanalyse und Kritik der Geschlechterverhältnisse sowie zur Geschichte von Revolten schon einmal aus den Räumen an der Hospitalstraße geflogen. Der dezentrale Ort macht den Betrieb nicht einfach. Die Bibliothek ist nur Mittwochs und Donnerstags zwischen 17 und 20 Uhr geöffnet.
Weitere Mieter auf der Etage sind der „Bekleidungsraum“, der nachhaltige Kleidung, Schuhe und Accessoires aus Skandinavien vertreibt sowie die Künstlerin Sonja Vordermeier, die hier ihr Atelier hat.
6. Stock
Auf der sechsten Etage hat der Stadtplaner und Architekt Rolf Kellner sein Büro. Mit seiner Firma „üNN“ (überNormalNull) ist er im Bereich sozialer Wohnungsbau und Kunst im öffentlichen Raum aktiv. Kellner organisiert regelmäßig Runde Tische für die Stadt oder Veranstaltungen wie die Hafensafari. Auch soziale Wohnungsbauprojekte wie der Vogelhüttendeich 109, in dessen Garage eine der ersten Tesla-Batterien hängt, oder das moderne Erkergebäude am Kaiserkai 56 neben der Elbphilharmonie trägt seine Handschrift.
Sein Nachbar auf der Etage ist Achim Schnell, der mit seiner Firma „Zrkular“ für Papier als Werkstoff einsetzt. Schnell will beweisen, dass Papier mehr ist als Printvorlage oder Verpackungsmaterial. Auch Skateboards und Möbel können daraus gebaut werden – und sogar Badewannen! „Alles ist machbar“, betont der 43-Jährige. „Es geht nur um die Oberflächen!“ Also die Beschichtung der Badewanne. Vorteil: „Papier ist leichter und es ist nachhaltig, weil es anders als Plastik oder Holz 15 bis 20 Mal in den Recycling-Kreislauf gehen kann“, so Schnell. Mit seiner zweiten Firma „Lasercut“ erstellt Schnell Beschilderungen für Häuser.
Ebenfalls auf der Etage befindet sich das kreative Kollektiv LU’UM aus zwölf Leuten, die mit öffentlichen Räumen experimentieren und neue Nutzungsideen entwickeln. Dazu gehören beispielsweise die Pop-Up-Fahrradstraßen oder die Neugestaltung von Parkhäusern. Auch ein mobiles Podcast-Studio, das jeder kostenlos nutzen kann, wurde von LU’UM ins Leben gerufen.
7. Stock
Ganz oben in der obersten Etage des Mercedes-Hochhauses hat der Künstler Husni Lagot sein Atelier. Auch er entstammt der Graffiti-Szene, macht heute aber eher in Malerei, Illustration, Skulpturen und Grafiken. Jüngster Neuzugang in der Mietergemeinschaft Billhorner Brückenstraße 40 ist der Künstler Bodo Siever, der erst seit einem Jahr mit dabei ist.