Helga Melmed

Ehrengast bei der Gedenkfeier Hamburgs zum 80. Jahrestag des Kriegsendes: die 97-jährige Helga Melmed. Sie überlebte das KZ Neuengamme und und wanderte nach Kriegsende in die USA aus. Foto: Olaf Wunder

80 Jahre Kriegsende in Hamburg: Bewegende Worte und der letzte Auftritt des Kanzlers

Mit den bewegenden Worten einer Überlebenden begannen in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am Samstag die Feierlichkeiten in Hamburg zum 80. Jahrestag des Kriegsendes: „Schon früh habe ich Diskriminierung erfahren, schon lange, bevor ich das Wort überhaupt buchstabieren konnte. Ich war erst fünf Jahre alt, als mein Lehrer mir mit einem Lineal die Hände blutig schlug und meine Klassenkameraden mich einen ,dreckigen Juden‘ nannten. Mit zehn Jahren erlebte ich zum ersten Mal das abgrundtief Böse, als die Nazis meine jüdische Schule niederbrannten und lachten, als sie unsere Bücher in eine Feuergrube warfen.“

Mit dieser herzzerreißenden Schilderung begann sie, die Rede der 97-jährigen Helga Melmed. Unter den rund 1000 Gästen im alten Klinkerwerk des KZ Neuengamme befand sich unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – es war sein letzter Auftritt als Regierungschef. Auch Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) war da und sprach zu den Anwesenden. Aber die Hauptperson des Tages war Helga Melmed, der Ehrengast. Als die KZ-Überlebende das Wort ergriff, hätte man eine Nadel fallen hören können, so konzentriert verfolgten die Zuhörer die schockierenden Worte dieser beeindruckenden Frau.

Man hätte eine Stecknadel fallen hören, als die 97-jährige KZ-Überlebende Helga Melmed sprach

Helga Melmed, geboren 1927 in Berlin und heute ansässig in den USA, berichtete davon, wie 1941 nachts die Gestapo kam und ihre Familie abholte und sie als junges Mädchen mit ihren Eltern in Viehwaggons gepfercht und nach Lodz gebracht wurde, ins sogenannte „Ghetto Litzmannstadt“. Helga Melmed berichtete, wie dort die SS ihren Vater beim Übungsschießen als Zielscheibe benutzte und ihn dabei ermordete. Ihre Mutter erkrankte im Ghetto an Schwindsucht und starb an dem Tag, an dem sie 14 Jahre alt wurde: „Ich blieb allein und verängstigt in einer hässlichen Welt zurück.“

Helga Melmed erzählte, wie sie im Ghetto drei Mädchen aus verschiedenen Ländern kennenlernte, die zu ihren besten Freudinnen wurden, ihren sogenannten „Lagerschwestern“. „Wir vier blieben in allem, was folgte, zusammen und teilten alles: unser Essen, unsere Decken, unsere harte Arbeit und vor allem unsere Liebe zueinander. Diese Fürsorge, diese Liebe half uns durch die Schrecken, die wir erdulden mussten.“

Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz spricht bei der zentralen Hamburger Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Neuengamme. Georg Wendt/dpa
Neuengamme
Der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz spricht bei der zentralen Hamburger Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Neuengamme.

Helga Melmed wurde zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, dort aber nicht sofort vergast, wie die meisten anderen, sondern an der berühmt-berüchtigten Rampe als „arbeitsfähig“ aussortiert und nach Hamburg geschickt, wo die Nazis sie in Neuengammes KZ-Außenlager Dessauer Ufer auf der Veddel steckten. „Wir mussten die Trümmer der Bombenangriffe auf Hamburg beseitigen. Die Bedingungen waren sehr schlecht. Wir waren müde, hungrig und ständig verängstigt. Manchmal beteten wir, dass die Bomben auf uns fallen und all der Angst ein Ende setzen würden.“

Vor genau 80 Jahren: Am 3. Mai 1945 war für Hamburg mit der kampflosen Übergabe der Krieg vorbei

Das Ende des Krieges erlebte Helga Melmed im KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide, wo etwa zur selben Zeit die berühmte Tagebuchschreiberin Anne Frank starb. „Ich war todkrank an Typhus und Tuberkulose, war 17 Jahre alt und wog noch 20 Kilogramm“, so Helga Melmed. Als die Briten das Lager am 15. April 1945 befreiten, bekam Helga Melmed gar nichts davon mit. Ihr ging es so schlecht, sie konnte sich nicht einmal freuen.

Helga Melmed erholte sich wieder, wanderte in die USA aus, heiratete einen, wie sie sagt, „wunderbaren Mann“, zog vier Kinder groß, hat heute vier Enkelkinder. Eigentlich jede Menge Gründe, glücklich und zufrieden zu sein. Aber in letzter Zeit sorgt sie sich – wegen des zunehmenden Antisemitismus, wegen der Kriege in der Welt und wegen der nationalistischen Kräfte, die überall Oberwasser bekommen, seit dem Einzug Donald Trumps ins Weiße Haus auch in die USA. „Wieder einmal dringt die Hypnose der Propaganda in die Köpfe der Menschen ein“, sagte Helga Melmed. „Die Rücksichtslosen und Reichen, die alles für ihre eigenen egoistischen Wünsche kontrollieren wollen, wenden dieselben Methoden an wie vor 85 Jahren. Frieden scheint ein ferner Traum zu sein.“

Zum Schluss appellierte Helga Melmed vor allem an die junge Generation: „Hört nie auf, freundlich zu sein, hört nie auf, euch zu kümmern, und hört niemals auf zu lieben! Um den Kampf gegen das Böse zu gewinnen, müssen wir einen Weg finden, die Freude und Schönheit in unserem täglichen Leben zu sehen und jeden Tag anständig und freundlich zu sein.“

Das KZ Neuengamme, das größte KZ in Norddeutschland. Es hatte 58 Außenlager. Von rund 100.000 Häftlingen sind mindestens 50.000 ums Leben gekommen. Ab April 1945 wurde das Lager geräumt, so dass die Briten es besenrein vorfanden, als sie es am 4. Mai 1945 erreichten. Neuengamme war das einzige Nazi-KZ, das bei Ankunft der Alliierten vollständig geräumt war. KZ Gedenkstätte Neuengamme
Kriegsende Hamburg
Das KZ Neuengamme, das größte KZ in Norddeutschland. Es hatte 58 Außenlager. Von rund 100.000 Häftlingen sind mindestens 50.000 ums Leben gekommen. Ab April 1945 wurde das Lager geräumt, so dass die Briten es besenrein vorfanden, als sie es am 4. Mai 1945 erreichten. Neuengamme war das einzige Nazi-KZ, das bei Ankunft der Alliierten vollständig geräumt war.

Worte, die denen, die sie gehört haben, noch lange im Kopf herumgehen werden.

Als am 4. Mai 1945 die Briten das KZ Neuengamme erreichten, gab es nichts mehr zu befreien

Eine bewegende und sehr politische Rede hielt auch der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der zunächst daran erinnerte, dass es am 4. Mai 1945, als englische Truppen Neuengamme erreichten, nichts mehr gab, was sie hätten befreien können, denn die Briten fanden das Lager verlassen, ja, besenrein vor.

Olaf Scholz: „Die Spuren der hier begangenen Verbrechen waren sorgfältig verwischt worden. Nach dem Willen der Nazis und ihrer Helfershelfer sollte ein Schleier des Vergessens über die hier begangenen Verbrechen gelegt werden. Zuvor waren die verbliebenen Häftlinge zu Todesmärschen gezwungen oder nach Bergen-Belsen, Sandbostel und Wöbbelin deportiert worden.“ Und zu den KZ-Schiffe in der Neustädter Bucht, wo es dann am 3. Mai 1945, also an genau dem Tag, an dem die Briten in Hamburg einmarschierten, zu einer furchtbaren Tragödie kamen. Britische Kampfpiloten, die annahmen, es handele sich um Truppentransporter und die nicht wussten, dass sich KZ-Häftlinge an Bord befanden, griffen die Schiffe an und versenkten sie. Beim Untergang der Schiffe „Cap Arcona“ und „Thielbek“ kamen rund 6600 Menschen ums Leben.

Am Ende seiner Rede schlug Olaf Scholz den Bogen in die Gegenwart: „Eine der wichtigsten Lehren aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und aus der Ermordung von Millionen unschuldiger Frauen, Kinder und Männer“, so Scholz, „ist unsere tiefe Überzeugung, dass wir Europäer den Krieg zwischen unseren Völkern ein für alle Mal hinter uns lassen müssen. Umso tragischer ist es, dass der russische Präsident den Krieg nach Europa zurückgebracht hat – und mit ihm die tödliche Absicht, Grenzen mit Gewalt zu verschieben.“

Olaf Scholz: „Autokraten, Extremisten und Populisten wollen das friedliche, vereinte Europa zerstören“

Scholz weiter: „Autokraten, Extremisten und Populisten weltweit wollen das friedliche, vereinte Europa angreifen und zerstören. Das dürfen wir nicht zulassen. Gerade Deutschland darf das nicht zulassen. Denn wir müssen uns des Abgrunds bewusst sein, in den Imperialismus, Entrechtung und Rassenhass führen.“ Soweit Olaf Scholz.

Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, erinnerte in seiner Rede daran, dass „wir in einer Zeit leben, in der immer weniger Menschen die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als wichtige Grundlage ihres Selbstverständnisses betrachten. Auch die Verharmlosung der NS-Verbrechen bildet kein gesellschaftliches Randphänomen mehr.“

3. Mai 1945: Britische Panzer rollen in Richtung Elbbrücken – es fällt kein Schuss. Mit der kampflosen Übergabe der Stadt endet für die Hansestadt der Zweite Weltkrieg Staatsarchiv Hamburg
Kriegsende
3. Mai 1945: Britische Panzer rollen in Richtung Elbbrücken – es fällt kein Schuss. Mit der kampflosen Übergabe der Stadt endet für die Hansestadt der Zweite Weltkrieg

Wrochem weiter: „Eine in Teilen rechtsextreme und geschichtsrevisionistische Partei stellt knapp ein Viertel der Abgeordneten im Deutschen Bundestag und ist in einigen Bundesländern zur stärksten politischen Kraft geworden. Innerhalb eines Jahres hat sich der gesellschaftliche Zusammenhalt massiv abgeschwächt und unsere an universellen Werten, an gleichen Rechten für alle und an Menschenwürde orientierte Demokratie ist gefährdet wie nie.“

„Jeder von uns muss für demokratisches Miteinander, für Kompromissfähigkeit und für Mitgefühl eintreten“

Wrochem sagte, viele Menschen seien angesichts der um sich greifenden Empathielosigkeit sprachlos geworden und wüssten nicht, wie sie dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, wie sie Antisemitismus und Antiziganismus, Rassismus, Hass und Hetze begegnen könnten. Alle Bürger seien gefordert, überall, wo sie sind, „dafür einzutreten, dass aus der Erinnerung an den Nationalsozialismus ein wertegeleitetes, demokratisches Handeln folgt“, so Wrochem. „Im Bewusstsein, wohin Ideologien der Ungleichwertigkeit, wohin Antisemitismus, Antiziganismus Rassismus und Demokratiefeindlichkeit führen können, müssen wir für ein demokratisches Miteinander, für Kompromissfähigkeit, für Mitgefühl und für einen wertegeleiteten Dialog eintreten. In unserem Alltag, in der Familie, im Freundeskreis, bei der Arbeit, in der Freizeit und im politischen Raum.“

Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme heben den Stichkanal vom Klinkerwerk zur Dove-Elbe aus. dpa
Neuengamme
Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuengamme heben den Stichkanal vom Klinkerwerk zur Dove-Elbe aus.

Zwischen 1938 und 1945 waren im KZ Neuengamme, dem größten Konzentrationslager im Norden Deutschlands, zu dem noch 85 Außenlager gehörten, rund 100.000 Menschen inhaftiert. Mehr als 42.000 Menschen kamen ums Leben, wurden ermordet oder starben an Krankheiten oder Entkräftung.

Einige von denen, die das Glück hatten, die „Hölle auf Erden“ zu überleben, nahmen am Samstag mit Ehefrauen, Kinder und Enkelkindern an der Gedenkveranstaltung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme teil. Sie waren dafür extra aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Kroatien, den Niederlanden, Polen, der Schweiz, Spanien, der Ukraine und den USA angereist.

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