Droht Hamburgs Justiz wirklich der Kiffer-Kollaps? Das sagen Insider
Der Streit um das neue Cannabisgesetz wird in der Justiz zunehmend schrill geführt: Der Hamburgische Richterverein sieht die „Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz“ in Gefahr, Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland ächzen unter der Mehrarbeit, die Justizministerkonferenz der Länder klagt über „Hunderttausende zu überprüfende“ Akten. Als die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft in der „Zeit“ andeutete, dass die Aufgabe zwar schwer, aber zu stemmen sein, musste sie ihre eigene Einschätzung kurz darauf öffentlich dementieren: Ist doch alles sehr schlimm. Eine Hamburger Strafverteidigerin hält das Jammern für übertrieben.
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Der Streit um das neue Cannabisgesetz wird in der Justiz zunehmend schrill geführt: Der Hamburgische Richterverein sieht die „Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz“ in Gefahr, Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland ächzen unter der Mehrarbeit, die Justizministerkonferenz der Länder klagt über „Hunderttausende zu überprüfende“ Akten. Als die Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft in der „Zeit“ andeutete, dass die Aufgabe zwar schwer, aber zu stemmen sein, musste sie ihre eigene Einschätzung kurz darauf öffentlich dementieren: Ist doch alles sehr schlimm. Eine Hamburger Strafverteidigerin hält das Jammern für übertrieben.
„Rückwirkende Amnestie“ heißt der Begriff, der die Staatsanwaltschaften auf die Palme bringt. Laut dem neuen Gesetz soll Cannabis ab April (wenn der Bundesrat nicht dazwischengrätscht) bis zu einer bestimmten Menge legal sein – und zwar auch rückwirkend. Heißt: Strafen, die bis dahin nicht vollstreckt sind, werden erlassen. Gefangene könnten freikommen, Geldstrafen müssten nicht mehr gezahlt werden.
Hamburg: Staatsanwaltschaft schickt „Richtigstellung“
„Die geplante Rückwirkung der Strafbefreiung für den Besitz und den Anbau von Cannabis gefährdet die Funktionsfähigkeit der Staatsanwaltschaft“, heißt es in einer Mitteilung der Hamburger Staatsanwaltschaft. Eine überraschend dramatische Formulierung, denn kurz zuvor hatte Sprecherin Liddy Oechtering in der „Zeit“ erklärt, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft bereits im November 2023 mit der Sichtung der Akten begonnen habe und inzwischen weit fortgeschritten sei. Das neue Gesetz könnte zumindest in Hamburg pünktlich zum 1. April umgesetzt werden, deutete sie an.
So eine „Es ist schwer, aber zu wuppen“-Einschätzung passt aber nicht zu der Weltuntergangsstimmung, die die Staatsanwaltschaften in anderen Bundesländern und auch der Hamburger Richterverein verbreiten. Es folgte prompt eine „Richtigstellung“, in der Oechtering erklärte, die Einführung des Gesetzes könne doch nicht pünktlich beginnen und die Hamburger Staatsanwaltschaft schlösse sich „weiterhin allen kritischen Stimmen“ an.
Debatte um Folgen der Cannabis-Legalisierung in Hamburg
So seien etwa Haftentlassungen „in beachtlichem Umfang“ zu organisieren, heißt es nun. Da kann Gül Pinar, Hamburger Strafverteidigerin und Vorstandsmitglied im Hamburger Anwaltsverein, nur den Kopf schütteln: „Das ist total übertrieben, diese Amnestie betrifft nur die allerwenigsten Drogendelikte. Leute, die einfach nur im Park beim Kiffen erwischt werden, die sitzen ja nicht in Haft.“
Das neue Gesetz besagt, dass man ab April drei Cannabispflanzen und maximal 25 Gramm Cannabis besitzen darf. Dafür ging man auch vorher nicht in den Knast, schon gar nicht in Hamburg.
Justiz-Insider sprechen von „Einzelfällen“
In „Einzelfällen“, schätzt ein Justiz-Insider, könne es tatsächlich eilig sein, etwa, wenn ein Häftling wegen Handelns mit Cannabis (bleibt verboten) und Besitzes von 25 Gramm Cannabis (nicht mehr strafbar) in Haft sitzt – und die Haft verkürzt werden muss und zwar, bevor er sie zu Unrecht in voller Länge abgesessen hat. In solchen Fällen muss die Staatsanwaltschaft einen „Antrag auf Neufestsetzung“ ans Gericht schicken.
Um diese „Einzelfälle“ zu finden, muss die Staatsanwaltschaft jede Akte anfassen, auf der „BTM-Besitz“ steht (BTM steht für Betäubungsmittel). Einfach auf einen Kopf drücken und digital nach „Cannabis“ suchen, geht nicht, in deutschen Staatsanwaltschaften stapelt sich immer noch Papier. In Hamburg wurden seit November 2023 rund 4000 Akten per Hand durchgeflöht, bei 700 Verfahren besteht möglicherweise Handlungsbedarf.
Cannabis: Rückwirkender Straferlass großer Aufwand
Für die Justiz wäre der Aufwand erheblich geringer, wenn das Gesetz keinen rückwirkenden Straferlass vorsehen würde. Die Aufhebung rechtskräftiger Urteile in einem Rechtsstaat ist ja wirklich eine heikle Angelegenheit. Und im Fall von Cannabis besteht ja auch kein überwältigender gesellschaftlicher Konsens, dass Strafen wegen Kiffens ein Riesenunrecht sind (anders als etwa bei der Abschaffung der Strafen für Homosexualität).
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Die Kiffer-Amnestie ist einer der Gründe, warum der Bundesrat sich gegen das Gesetz stemmt. Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) war von Anfang an gegen die Freigabe der weichen Droge, auch Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne), die vor einigen Jahren noch demonstrativ in den Hamburger „Cannabis Social Club“ eingetreten war, sagt nun, dass das Gesetz „zu schnell“ komme.
Die Länder fordern: Alle Strafen, die vor dem 1. April ergangen sind, bleiben unangetastet. Das Argument: Die Straffreiheit ist ja Teil eines Gesamtpaketes mit Aufklärung und Prävention, das erst noch kommen soll. Der Bundesrat tagt am 22. März und könnte danach den Vermittlungsausschuss anrufen. Dann würde das Kiffer-Gesetz erst mit monatelanger Verspätung in Kraft treten.