Kultkneipe auf St. Pauli startet einmaliges Projekt gegen Rechts
Hier mal ein „Hurensohn“, da mal ein „Schwuchtel“. Beschimpfungen, die Dominik Großefeld (38), Wirt des legendären Silbersacks, immer wieder von Jugendlichen auf den Straßen von St. Pauli hört. Selbst im buntesten Viertel der Stadt ist Diskriminierung Teil des Alltags. Um Jugendliche zu sensibilisieren und ihnen die Geschichte ihres Viertels zu vermitteln, startet die Kult-Kneipe an der Silbersackstraße mit ihrem Verein jetzt ein besonderes Projekt.
Hier mal ein „Hurensohn“, da mal ein „Schwuchtel“. Beschimpfungen, die Dominik Großefeld (38), Wirt des legendären „Silbersacks“, immer wieder von Jugendlichen auf den Straßen von St. Pauli hört. Selbst im buntesten Viertel der Stadt ist Diskriminierung Teil des Alltags. Um Jugendliche zu sensibilisieren und ihnen die Geschichte ihres Viertels zu vermitteln, startet die Kult-Kneipe an der Silbersackstraße mit ihrem Verein jetzt ein besonderes Projekt.
Seit Jahrzehnten steht das Sparschwein mit der Aufschrift „Kinder von St. Pauli“ auf dem Tresen des „Silbersacks“. Schon Kult-Wirtin Erna steckte ihr Trinkgeld stets in das Schwein und unterstützte damit Kindergärten, Schulen und Jugendeinrichtungen in der Nachbarschaft. Nach ihrem Tod 2012 übernahm ihr Mitarbeiter und Vertrauter Dominik Großefeld mit gerade mal 27 Jahren den legendären Silbersack. Und bewahrt diese eigene, kleine Welt.
„Erna’s Jungs“ und „Silbersack“-Wirt gründeten Verein
In Andenken an Erna und ihr Engagement im Viertel gründete er gemeinsam mit „Erna’s Jungs“, einer Handvoll Spielern der Kneipeneigenen Fußballmannschaft FC Silbersack, einen Verein – den Silbersack e.V., der nach wie vor Kinder und Jugendliche, aber auch Kulturprojekte unterstützt.
Ob der neue Sonnenschirm für eine Begegnungsstätte, Instandhaltungsarbeiten auf dem jüdischen Friedhof oder Klamotten für einen Sportverein – der Verein hilft da, wo es nötig ist. Allerdings wollten die Mitglieder etwas Eigenes machen und riefen das bundesweit einmalige Projekt „Stolpersteine in St Pauli“ ins Leben.
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Dabei führt Anwohnerin und Kiez-Kennerin Dani Freitag, die selbst jahrelang als Pädagogin an Schulen tätig war, Klassen durch das Viertel. Sie arbeitet im „St. Pauli Office“ an der Wohlwillstraße, das besondere Kieztouren anbietet. Anwohner:innen zeigen den Gästen nicht nur die Glitzer-Welt des Kiezes, sondern auch die dreckigen Seiten. Bei der 90-minütigen Tour führt Dani Freitag 9. und 10. Klassen in die dunkelsten Ecken der Stadtteilgeschichte. Zu einigen der mehr als 180 Stolpersteinen. 180 Verfolgte des Nazi-Regimes. 180 Ermordete. 180 Schicksale.
Die Jugendlichen lernen die Biografien einzelner NS-Opfer kennen. Auf St. Pauli selten Juden. Die Ermordeten waren vor allem homosexuelle Männer und Frauen, aber auch Bewohner des Chinesenviertels, das die Gestapo 1944 in einer großangelegten Aktion räumen ließ. „Sie alle erzählen durch ihre Geschichten viel über ein Land im Griff politischer Kräfte, die sich auch heute anschicken, das Land an den Abgrund zu ziehen“, sagt Dani Freitag.

Auch der „Silbersack“-Wirt sieht in dem Projekt viel mehr als nur eine Reise in die dunkle Vergangenheit des Stadtteils. „Rechtsextremismus und Diskriminierung sind verstörend gegenwärtig. Dem wollen und müssen wir entgegenwirken.“ Zudem findet er es erschreckend, wie wenig viele der Jugendliche über die Geschichte ihres Viertels wissen. Er selbst gehe ganz anders durch St. Pauli, seit er wisse, was hinter den Stolpersteinen steckt, an denen er jeden Tag vorbeikommt.
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Besonders hat den Wirt das Schicksal eines jungen Mannes bewegt, der an der Clemens-Schultz-Straße lebte. Adolf Theodor Meyer. „Von einer schwachsinnigen Mutter abstammend“ heißt es in der Gerichtsakte, wuchs er ohne Vater auf. „Heute würde man ihn als lernbehindert bezeichnen“, sagt Dani Freitag. Nach der fünften Klasse musste er die Schule verlassen, weil er den Anforderungen nicht gewachsen war.
Danach arbeitete der junge Mann als Bote. Zuletzt bei einem Stoffhändler, dem er zwei Stoffe gestohlen hatte. Von dem Geld wollte er seine Schulden begleichen. Denn Adolf Theodor Meyer hatte eine Frau kennengelernt und wollte heiraten. Er wurde wegen Diebstahls verurteilt und mit 34 Jahren in eine Anstalt eingewiesen. Fünf Jahre später ermordeten ihn die Nazis in der Tötungsanstalt Brandenburg.
Den NS-Opfern des Kiezes ein Gesicht geben
Dani Freitag ist es wichtig, den Ermordeten ein Gesicht zu geben. „Ich möchte, dass die Schüler:innen den Menschen erkennen, der hinter den Geschichten steckt.“ Das Projekt beinhaltet nicht nur die Führung, es wurden zudem Studienmaterialien für den Unterricht ausgearbeitet. Neben 28 Biografien ermordeter NS-Opfer enthält die Mappe Anleitungen zum bewussten, aber angstfreien Umgang mit den historischen Informationen.
Für Schulen in und um St. Pauli trägt der Verein des Silbersacks die Kosten. Für andere Schulen wird eine Aufwandsentschädigung berechnet. Interessierte Schulen können sich unter erna.altona@gmx.de melden. Wer den Verein unterstützen möchte, spendet an: Silbersack e.V., IBAN: DE 52 2019 0003 0019 0001 03.