Krawalle in Harburg: „Diese Jugendlichen haben keine Chance. Und das wissen sie“
Migration, Integration, Krawalle: Dieser Dreiklang prägt derzeit die politische Debatte. Die Aussagen und Forderungen bewegen sich dabei oft zwischen „Böller-Verbot“, schärferen Gesetzen für Randalierer und rassistischen Vorurteilen gegenüber Menschen mit ausländischen Wurzeln. Für Claus Niemann (76), ehemaliger Polizist und heute Vorstand im „Verein zur Förderung von Integration“, sind das nur Phrasen. Es gebe nur einen Weg, wenn man solche Vorfälle in Zukunft unterbinden wolle.
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Migration, Integration, Krawalle: Dieser Dreiklang prägt nach den Ausschreitungen an Silvester die politische Debatte. Die Forderungen bewegen sich dabei zwischen „Böller-Verbot“, schärferen Gesetzen für Randalierer und Vorurteilen gegenüber Menschen mit ausländischen Wurzeln. Für Claus Niemann (76), ehemaliger Polizist und heute Vorstand im „Verein zur Förderung von Integration“, sind das Phrasen. Es gebe nur einen Weg, wenn man solche Vorfälle in Zukunft unterbinden wolle.
Kaum einer kennt die Kinder und Jugendlichen aus Harburg und Wilhelmsburg so gut wie er: Claus Niemann arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Polizist – und Cop4u – in beiden Stadtteilen. Jugendarbeit und Integration sind jedoch auch heute noch seine Passion. Niemann ist Vorstand des „Vereins zur Förderung der Integration in Wilhelmsburg“ und Pressesprecher des „Harburger Integrationsrats“, dessen Mitglieder von den Menschen in Harburg gewählt werden. Er und seine Kollegen sollen zwischen den Bürgern des Stadtteils und der Politik vermitteln.
Hamburg: Ex-Polizist hilft Kindern und Jugendlichen in Wilhelmsburg
Die Forderungen der Politiker kenne er, man höre sie bereits seit Jahren: Gesetze verschärfen, Böller verbieten. „Aber ich würde sagen, der Knall spielt sich im Kopf der Jugendlichen ab“, sagt Niemann zur MOPO. „Die Jugendlichen in Harburg sind einfach nicht gefordert. Sie haben schlicht und einfach Langeweile. Ihnen wird nichts mehr geboten.“
Diesem Problem versucht er mit dem „Verein zur Förderung der Integration“ entgegenzuwirken. Seit 17 Jahren arbeiten er und seine Kollegen wöchentlich mit ungefähr 650 Kindern in Wilhelmsburg zusammen. Sie bieten Sport- und Fitnesskurse (zum Beispiel Vater-Mutter-Kind-Turnen) an und arbeiten in enger Kooperation mit Kitas und Schulen zusammen, um die psychomotorischen Fähigkeiten von Kindern früh zu trainieren. Doch auch Ausflüge, Gesprächskreise und Grill-Nachmittage organisiert der Verein für die Menschen in Wilhelmsburg.
„Ich habe in meiner Arbeit mit Jugendlichen festgestellt: Mit Sport kriegen wir sie alle. Dass Kinder mit ihren Körpern umgehen, wissen, was sie leisten können und ihre Grenzen kennen, das ist Bildung“, sagt Niemann. Das Problem in den Vierteln wie Harburg und Wilhelmsburg sei, dass sich niemand der Kinder und Jugendlichen dort annehme. Es gebe kaum Kultur-, Sport oder sonstige Freizeitangebote. Die Politik überlasse die Menschen dort größtenteils sich selbst.
Harburg: „Die Jugendlichen wissen, dass sie am Rand stehen“
„Wer nicht will, dass so etwas wie an Silvester noch einmal passiert, der muss ein paar Jahrgänge früher anfangen. Diese Jugendlichen haben im Prinzip keine Chance mehr. Und das wissen sie. Sie wissen, dass sie am Rand stehen. Und wer am Rand steht, hat natürlich auch entsprechend viele negative Erfahrungen mit der Obrigkeit gemacht.“
Wer etwas ändern wolle, müsse die Kinder und Jugendlichen ernst nehmen. Sie seien zu erreichen, aber das müsse man auch wollen, so Niemann. Und es brauche Investitionen. Bei seiner Arbeit in den sogenannten Problem-Vierteln habe er erlebt, dass selbst die größten Chaoten im persönlichen Gespräch oft vernünftig und umgänglich sind. Unter sich, sei die Vernunft aber schnell vergessen: „Diese Kinder und Jugendlichen fühlen sich als Gang stark und angenommen. Wer da besonders mutig ist und den größten Blödsinn macht, ist der King – das kennen wir doch alle noch aus der Schule. Sie wollen auffallen. Und das können sie dort nur, indem sie etwas machen, was der normale Bundesbürger eher nicht macht.“
Hamburger Ex-Polizist: Krawalle Zeichen von Hilflosigkeit
Die Randale und Angriffe auf Einsatzkräfte, ein Symptom vernachlässigter Generationen. „Was die Jugendlichen gemacht haben, ist doch kein Krieg gegen die Polizei. Das ist Hilflosigkeit. Sie wollen sich beweisen, aber es gibt da nichts, sie haben nichts. Sie rüsten sich auf, um etwas zu zeigen. Sie kennen keine Grenzen, weil sie ihnen nicht aufgezeigt werden – das ist natürlich auch ein Problem an den Schulen.“
Claus Niemann nutzt die Veranstaltungen des Vereins, um mit den Jungs und Mädchen ins Gespräch zu kommen. Er erzählt von einem Treffen, wo für alle gekocht wurde. An diesem Tag gab es veganes, indisches Essen – und großen Protest von den Jugendlichen, die sich mit ihrer verbalen Ablehnung des Essens nicht zurückhielten. Doch nach kurzer Zeit war die Pfanne leer. Niemann und die Jungs saßen anschließend zusammen. Worüber sie sprachen? Über Vorurteile.
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„Die Ausschreitungen haben auch mit mangelndem Respekt zu tun. Respekt kann man Kindern beibringen“, sagt Niemann. Er möchte das Projekt des Vereins in Wilhelmsburg unbedingt auch nach Harburg holen. Die Pläne dafür lägen bereits auf dem Tisch. Voran es bislang scheitert? „Simpel gesagt, es darf möglichst nichts kosten. Doch wenn wir uns nicht um die Kinder kümmern, dann werden wir mit den Jugendlichen etwas ernten, was wir alle nicht haben wollen.“