Krätze, Brüche, offene Beine – unbehandelt, mitten in Hamburg
Es ist Mittwoch, 12.30 Uhr, und vor der Tür der Arztpraxis in einem Altonaer Keller hat sich schon eine Schlange gebildet. In dem kleinen Raum trifft sich das ganze Elend: Menschen mit Frakturen oder Krätze bis hin zu großen, entzündeten Wunden. Die Patienten kommen erst her, wenn es wirklich schlimm ist: Sie leben auf der Straße und haben keine Krankenversicherung. Die Helfer tun ihr Bestes und haben doch das Gefühl, gegen Windmühlen anzukämpfen.
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Es ist Mittwoch, 12.30 Uhr, und vor der Tür der Arztpraxis in einem Altonaer Keller hat sich schon eine Schlange gebildet. In dem kleinen Raum trifft sich das ganze Elend: Menschen mit Knochenbrüchen oder Krätze bis hin zu großen, entzündeten Wunden. Die Patienten kommen erst her, wenn es wirklich schlimm ist: Sie leben auf der Straße und haben keine Krankenversicherung. Die Helfer tun ihr Bestes und haben doch das Gefühl, gegen Windmühlen anzukämpfen.
Der erste, den Ronald Kelm, Krankenpfleger, und Niklas Berger, Facharzt für Allgemeinmedizin, an diesem Tag in den kleinen Raum mit den vielen Medikamenten rufen, ist Radislav. Er legt sich auf die Pritsche und zieht seine Hose hoch. Darunter verbirgt sich ein von Wunden übersätes Schienbein. „Das sieht ja schon deutlich besser aus als letzte Woche. Gut, dass du so regelmäßig herkommst.“ Berger verteilt etwas Salbe auf dem Bein, ein Pflaster möchte Radislav nicht.
Hamburg: Immer mehr Leute ohne Krankenversicherung
Er lebt auf der Straße. Der Kellerraum in der Billrothstraße 79 in Altona-Altstadt, in dem Berger und Kelm praktizieren, gehört zu der Tagesstätte für Obdachlose „Mahlzeit Altona“, die ihn einmal die Woche zur Verfügung stellt. Organisiert wird die Sprechstunde vom Gesundheitsmobil, in dem die beiden tätig sind. Radislav ist dankbar, dass er hier Hilfe bekommt. „Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland“, sagt der gebürtige Pole. „Ich habe auf Baustellen gearbeitet, bis ich meinen Job verloren habe und damit auch meine Wohnung. Eigentlich sollte ich hier nicht sein.“
Kelm und Berger haben die Sprechstunde im Herbst 2022 mit Beginn des Winternotprogramms für Obdachlose ins Leben gerufen. „Die Angebote der Stadt reichen offensichtlich nicht aus. Es gibt immer mehr Menschen ohne Krankenversicherung und die Leute werden immer kränker. Im Winter grassierte hier die Krätze“, sagt Kelm.
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Die Sozialbehörde erklärte noch vor wenigen Tagen auf MOPO-Anfrage: „Niedrigschwellige medizinische Angebote für obdachlose Menschen wurden in den letzten Jahren bereits ausgebaut.“ Reicht nicht, meinen Niklas Berger und Ronald Kelm. „Bei dem, was wir hier gesehen haben, fragen wir uns, ob wir in Europa sind“, schimpft Ronald Kelm. Die häufigsten Leiden sind Bluthochdruck, Diabetes, Hepatitis, Drogensucht und Lungeninfektionen. Sie müssen regelmäßig untersucht werden: Etwas, das die Ärzte hier deutlich besser leisten können als im Gesundheitsmobil.
Obdachlose werden häufig in Krankenhäusern abgewiesen
David, ihr nächster Patient, hat seinen Dolmetscher im Schlepptau. Berger und Kelm rattern ihren Fragebogen herunter: „Sprichst du deutsch? Polnisch? Alter? Name? Schläfst du auf der Straße? Im Zelt?“ David wurde von einem Fahrrad angefahren, sein Fuß könnte gebrochen sein. Die Ärzte überweisen ihn zum Röntgen.
„Es gibt ein paar Kliniken, mit denen wir zusammenarbeiten“, sagt Ronald Kelm. „Leider werden Menschen ohne Krankenversicherung oft nur im äußersten Notfall behandelt. Wenn wir David einen Überweisungsschein ausstellen, stehen seine Chancen besser.“ Die Ärzte können in ihrem Kellerraum Blut abnehmen, Zucker messen, ein EKG und eine Sonografie durchführen. Aber irgendwo stoßen auch sie an ihre Grenzen.
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Wenn Davids Bein wirklich gebrochen ist, braucht er eine Schiene. Er wirkt dankbar, nimmt noch ein paar Schmerzmittel und Vitamine mit, und eine Bodylotion: Alles finanziert aus Spenden. „Wir tun hier unser Bestes“, sagt Ronald Kelm. „Aber wir können das nicht alleine schaffen. Wir sind auf die Stadt angewiesen.“ Nach einer Stunde ist ein Großteil der Medikamente verteilt. Die Patienten sind angewiesen, in einer Woche wiederzukommen. Da geht es wieder von vorne los.