Konfiszierte Handys und Staatspropaganda: Wie ein Hamburger Russe seine Heimat sieht
Alexander Mirimov (50) schildert eine tief gespaltene Gesellschaft in seiner Heimat, berichtet von jungen Stadtbewohnern, deren Smartphones auf der Straße kontrolliert werden und von Menschen auf dem Land, die nur das Staatsfernsehen verfolgen.
- Deutsch (Deutschland)
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Er ist vor wenigen Tagen aus St. Petersburg zurückgekommen, früher als geplant, weil er befürchtete, Russland könnte das Kriegsrecht und damit ein Ausreiseverbot für seine Bürger verhängen. In Hamburg, wo er seit 27 Jahren lebt, berichtet Alexander Mirimov (50) von einer tief gespaltenen Gesellschaft in seiner Heimat, von jungen Stadtbewohnern, deren Smartphones auf der Straße kontrolliert werden und von Menschen auf dem Land, die nur das Staatsfernsehen verfolgen.
„Viele Köpfe sind von Staatspropaganda massiv verseucht“, sagt Mirimov, der in Hamburg bei einer Firma arbeitet, die Filme untertitelt. Und während den Großstädtern auffällt, dass internationale Ketten sich zurückziehen, dass McDonald’s und Ikea schließen, bekommt die Bevölkerung in kleinen Orten und Dörfern bisher kaum etwas mit von den Sanktionen: „Die Mehrheit der Bevölkerung spürt noch nichts“, schildert Mirimov seine Eindrücke: „Und wenn doch etwas zu bemerken ist, wird es von den staatlichen Medien so kommuniziert: Wir sind von Feinden umgeben, wir müssen durchhalten.“
Order von Putin: „Krieg“ ist ein verbotenes Wort
Von 146 Millionen Russen hatte bis vor Kurzem eine relativ kleine Minderheit Zugang zu nicht-staatlichen Medien, so Merimovs Schätzung: „Die Mehrheit bemüht sich auch nicht um andere Informationen, als die, die im Fernsehen kommen.“ Seit alle unabhängigen Medien verboten wurden und jeder, der vom „Krieg“ spricht, wegen Hochverrats ins Gefängnis kommen kann, gibt es kaum noch Möglichkeiten der Information: „Viele informieren sich jetzt über Telegram-Kanäle, etwa in der Gruppe ‚St. Petersburg gegen den Krieg.’“
Putins Machtapparat versucht, auch diese Quellen trocken zu legen: „Derzeit kontrolliert und konfisziert die Polizei willkürlich Smartphones auf den Straßen“, so Mirimov: „Es reicht, dass man aussieht wie ein Student.“
Er selbst hat alle Apps für Soziale Medien auf seinem Handy gelöscht, bevor er überstürzt von St. Petersburg aufbrach, mit dem Taxi an die Grenze zu Estland fuhr, weiter mit dem Bus nach Tallinn und dann über Warschau zurück nach Hamburg flog.
Trotz aller Repressalien kommt es in Moskau und in St. Petersburg immer wieder zu Demonstrationen gegen den Krieg, riskieren Menschen lange Haftstrafen. Alleine am vergangenen Wochenende wurden nach offiziellen Angaben rund 4440 Demonstranten verhaftet.
Putins Propaganda über Nazis in der Ukraine
Gleichzeitig sind Millionen Russen überzeugt, dass es bei der „militärischen Sonderoperation“ um den Kampf gegen Nazis geht. Aber wieso glauben so viele Russen, dass in der Ukraine Nazis herrschen? Wenn der ukrainische Präsident doch Jude ist?
Alexander Mirimov holt weit aus für die Erklärung, spricht vom Sieg über die Nazis im 2. Weltkrieg, der in Russland als größte Leistung des Volkes gilt. In der Ukraine, damals Teil der Sowjetunion, gab es starke nationalistische Kräfte, die mit der Wehrmacht kollaboriert haben, das weiß jedes russische Kind.
Fakt ist: Auch bei den Protesten 2014 auf dem Maidan in Kiew mischten Neonazi-Milizen mit, die sich als Nachfolger der damaligen Nationalisten sahen. In den Jahren nach 2014 habe der Einfluss der Rechtsradikalen in der ukrainischen Politik stark abgenommen, erklärt Alexander Mirimov, aber: „In der Ukraine mag das Thema passé sein, aber in Russland nicht. Dort hat sich die Nazi-Thematik als ausbaufähig für die Propaganda erwiesen und fällt bei der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden.“
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Wie es weitergeht in seinem Heimatland, das weiß keiner. „Es gibt eine große passive Mehrheit“, sagt Mirimov: „Und es gibt Millionen Menschen, die entsetzt sind vom Krieg und verzweifelt nach Auswegen suchen. Diese sind gerade am härtesten betroffen von dem Vorgehen des Regimes.“