Jugendliche als Geschichts-Detektive: Heinemann und Körber gaben den Anstoß
Den Notendurchschnitt, den ich als 16-Jähriger hatte, unterschlage ich hier lieber. Ganz ordentlich waren meine schulischen Leistungen eigentlich nur in Deutsch und Geschichte. Dass ich mal Abitur machen, studieren und Journalist werden würde – das hatte niemand erwartet. Meine Eltern – Mutter Bäckereifachverkäuferin, Vater Dreher – haben darauf gehofft, dass ich was Bodenständiges werde. Förster oder vielleicht Büchsenmacher wäre ihnen recht gewesen. Dann kam alles ganz anders.
Den Notendurchschnitt, den ich als 16-jähriger Realschüler hatte, unterschlage ich lieber. Ganz ordentlich waren meine Leistungen eigentlich nur in Deutsch und Geschichte. Dass ich mal Abitur machen, studieren und Journalist werden würde – das hatte niemand erwartet, ich auch nicht. Meine Eltern – Mutter Bäckereifachverkäuferin, Vater Dreher – haben darauf gehofft, dass ich was Bodenständiges mache. Förster oder Büchsenmacher, das wäre ihnen recht gewesen. Dann kam alles anders.
Das lag an dem Plakat, das 1980 am schwarzen Brett im Schulfoyer hing: die Ausschreibung für den „Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten“. Der feiert in diesen Tagen 50-jähriges Jubiläum: 1973 hatten ihn der Hamburger Industrielle Kurt A. Körber (1909-1992) und Bundespräsident Gustav Heinemann (1899-1976) ins Leben gerufen. Am kommenden Donnerstag gibt es aus diesem Anlass einen großen Festempfang bei Frank-Walter Steinmeier im Schloss Bellevue.

Ähnlich wie „Jugend forscht“: Wettbewerb für junge Historiker
So ähnlich wie „Jugend forscht“ muss man sich diesen Wettbewerb vorstellen. Nur, dass es dabei eben nicht um Naturwissenschaften, nicht um Physik oder Elektronik geht, sondern um Geschichte. Der größte historische Forschungswettbewerb für junge Menschen in der Bundesrepublik wird alle zwei Jahre neu ausgeschrieben. Die Themen wechseln, aber eins ist immer gleich: Der Auftrag der Teilnehmer lautet, direkt vor der eigenen Haustür auf Spurensuche zu gehen und zu Detektiven der Vergangenheit zu werden.
1980/81 war der Wettbewerb überschrieben mit dem Motto „Alltag im Nationalsozialismus“. Sich mit der Geschichte der NS-Zeit zu befassen, noch dazu am eigenen Ort, war damals eine echte Herausforderung. Die bundesrepublikanische Gesellschaft fing Anfang der 80er Jahre gerade erst an, sich mit der braunen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Jahrzehntelang war alles unter den Teppich gekehrt worden. Nicht jedem passte es, dass da mit einem Mal Jugendliche anfingen, Fragen zu stellen, im Nazi-Sumpf zu stochern. Eine Teilnehmerin aus Passau erhielt sogar Morddrohungen deswegen.

So schlimm war es in meinem Fall nicht. Es blieb bei ein paar unfreundlichen anonymen Anrufen. Ach ja, und einmal stand unangemeldet ein Mann vor der Tür, der mich davon zu überzeugen versuchte, dass in Auschwitz kein Jude vergast worden sei – ich war schon im Schlafanzug.
1980 fing Deutschland gerade erst damit an, sich mit der NS-Zeit zu beschäftigen
Ich bin in Remscheid in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen. Mitten im Bergischen Land. Zum Gegenstand meiner Recherchen machte ich das Konzentrationslager Kemna, ein damals völlig vergessenes KZ, das es von Mitte 1933 bis Anfang 1934 in der Nachbarstadt Wuppertal gegeben hatte. Das Lagergebäude steht bis heute – aber 1980 erinnerte nichts daran, was für grauenhafte Dinge sich darin abgespielt hatten: keine Tafel, kein Hinweisschild. Das Haus war mittlerweile Sitz eines Industriebetriebes. Nein, es sei nicht erlaubt, dass ich mich drinnen umsehe, so die Geschäftsleitung, die mir die Tür vor der Nase zuknallte. Kein Zweifel: Viele hätten es lieber gehabt, es wäre ein Geheimnis geblieben, dass Wuppertal Standort eines KZ gewesen war.

Unterstützung fand ich bei den Lokalzeitungen, die über mein Projekt berichteten und mir halfen, ehemalige Häftlinge ausfindig zu machen. Die Interviews mit diesen Männern – allesamt Kommunisten – bildeten den Kern der 140-seitigen Wettbewerbsarbeit, der ich den Titel gab: „Der Frieden, die Freiheit, das Recht – Unterdrückung des proletarischen Widerstands im KZ Kemna“. Es war das erste Mal, dass die Geschichte des Konzentrationslagers ausführlich erzählt wurde. Die Jury der Kurt A. Körber Stiftung hat mich dafür mit dem 2. Preis ausgezeichnet. Ich bin bald danach aufs Gymnasium gewechselt, wurde freier Mitarbeiter beim Remscheider General-Anzeiger, studierte in Bonn Geschichte und Politik – und kam 1996 zur MOPO.

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen“, hat Kurt A. Körber mal gesagt, „und wer die Gegenwart nicht versteht, der kann nur die Zukunft mit verbundenen Augen gestalten.“ Das zu verhindern, dazu sei der Wettbewerb da. Körber, der 1992 starb, war als junger Unternehmer selbst tätig für die NS-Kriegswirtschaft und gehörte ab 1940 der NSDAP an, hat dann aber nach dem Krieg als Mäzen, Stifter und Förderer viel Großartiges geleistet. Aber das Beste ist wohl dieser „Preis des Bundespräsidenten“.
An den 28 Wettbewerben, die es seit 1973 gab, haben 156.000 Schüler teilgenommen. Viele herausragende Arbeiten sind entstanden. Viele Geheimnisse der Vergangenheit wurden gelüftet, viele unbequeme Wahrheiten ans Tageslicht gebracht, die Geschichten von Tätern und Opfern erzählt und die Verdienste bislang unbekannter Helden gewürdigt.
Am Donnerstag sind Preisträger der Vergangenheit zu Gast beim Bundespräsidenten
Auffallend ist, dass überdurchschnittlich viele Teilnehmer später Geschichte studierten und Journalisten wurden. Offenbar war der Wettbewerb nicht nur bei mir eine entscheidende Weichenstellung fürs Leben. Am Donnerstag werden etliche ehemalige Preisträger aus den vergangenen 50 Jahren versammelt sein beim Empfang des Bundespräsidenten. Ich bin gespannt auf diese Begegnung.

Übrigens: Das Gebäude des ehemaligen KZ Kemna, das jahrzehntelang unzugänglich war für die Öffentlichkeit, ist soeben in den Besitz der evangelischen Kirche übergegangen. Vor zwei Wochen gab es die erste Besichtigung seit 1945. Nun soll eine KZ-Gedenkstätte daraus werden. Nun soll eine KZ-Gedenkstätte daraus werden.
Da erweist es sich als Glücksfall, dass die Kassetten mit den Interviews, die ich vor mehr als 40 Jahren mit ehemaligen Insassen führte, noch existieren. Oben auf dem Dachboden lagerten sie all die Jahre. Digitalisiert sind sie mittlerweile. Nun werden diese akustischen Zeitdokumente – die einzigen, die es überhaupt gibt – einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch das ist ein Verdienst des Geschichtswettbewerbs der Hamburger Kurt A. Körber Stiftung.

Ab dem 4. Mai wird übrigens eine Website freigeschaltet, auf der Geschichten rund um den Wettbewerb entdeckt werden können.