„Ein Scheißkonzept“: Knallharte Abrechnung mit den Kiez-Luden
Der Kiez ihrer Kindheit hatte „nichts Romantisches an sich“, sagt Rebecca Spilker, 1968 geboren und auf St. Pauli aufgewachsen. Umso mehr nervt sie die Glorifizierung des Rotlichtmilieus und die Verklärung von Zuhältern als urbane Abenteurer, wie sie derzeit in Dokus und gefeierten Streamingserien wie „Luden“ stattfindet. Unter dem Titel „Fick dich selbst, Lude“ hat die Autorin eine fulminante Abrechnung mit der fehlgeleiteten Heldenverehrung geschrieben.
Das St. Pauli meiner Kindheit war düster. Ich ging oberhalb des Fischmarkts zur Grundschule, meine Schulfreund:innen kamen zwar vorwiegend aus bildungsbürgerlichen Familien, aber auch Kinder des sogenannten „Hexenbergs“, einer Neubausiedlung direkt am Hang über der Elbe, in der Arbeiterfamilien und Sozialleistungsempfänger wohnten, waren darunter. Immer hat es geregnet. Immer war es neblig und kalt und ständig wurde „geschnopt“. Der Heiermann, der zu „Schröder“ an die Naschtheke getragen wurde, stammte meist von den Vätern meiner Schulfreund:innen, die nach der Nachtschicht im Hafen ihre Ruhe haben und ihre eigenen und uns Gastkinder loswerden wollten, um auf dem Sofa zu pennen.
Der Kiez ihrer Kindheit hatte „nichts Romantisches an sich“, sagt Rebecca Spilker, 1968 geboren und auf St. Pauli aufgewachsen. Umso mehr nervt sie die Glorifizierung des Rotlichtmilieus und die Verklärung von Zuhältern als urbane Abenteurer, wie sie derzeit in Dokus und gefeierten Streamingserien wie „Luden“ stattfindet. Unter dem Titel „Fick dich selbst, Lude“ hat die Autorin eine fulminante Abrechnung mit der fehlgeleiteten Heldenverehrung geschrieben.
Das St. Pauli meiner Kindheit war düster. Ich ging oberhalb des Fischmarkts zur Grundschule, meine Schulfreund:innen kamen zwar vorwiegend aus bildungsbürgerlichen Familien, aber auch Kinder des sogenannten „Hexenbergs“, einer Neubausiedlung direkt am Hang über der Elbe, in der Arbeiterfamilien und Sozialleistungsempfänger wohnten, waren darunter. Immer hat es geregnet. Immer war es neblig und kalt und ständig wurde „geschnopt“. Der Heiermann, der zu „Schröder“ an die Naschtheke getragen wurde, stammte meist von den Vätern meiner Schulfreund:innen, die nach der Nachtschicht im Hafen ihre Ruhe haben und ihre eigenen und uns Gastkinder loswerden wollten, um auf dem Sofa zu pennen.
Mir gefiel das natürlich, weil es so schön einfach war. Ich sah ein, dass wir in den engen Wohnungen störten, obwohl ich gerne da geblieben wäre, manchmal, weil die Kinderzimmer meiner Freunde viel interessanter ausgestattet waren, als meins. Die neuesten Barbies, Hörspielplatten und Schlumpf-Sammlungen gab es dort und auch die „Bravo“. Ich war neidisch und wollte Dr. Sommers Tipps lesen, doch wir sollten raus in den Nieselregen.
Überall lasen wir das Wort „Sex“
Die Reißverschlüsse der Anoraks hochgezogen spielten wir zuerst lustlos auf Spielplätzen herum, bis es uns doch in Richtung Reeperbahn zog. Mal gucken. Wir stromerten durch die Gegend, die wir heute als „Kiez“ kennen. Es gab was zu sehen dort, überall lasen wir das Wort „Sex“ und betrachten Bilder von großen Brüsten, was zu Kicheranfällen führte. Hihi, Busen, hihi… Wir ahnten, dass wir uns auf verbotenem Terrain bewegten.
Keine Familie auf St. Pauli wollte damals, dass ihre Kinder unnötigerweise mit der schmutzigen Seite des Viertels in Berührung kommen. Und doch, es ließ sich nicht verhindern. Zu verlockend erschien uns das Merkwürdige, das Erwachsene und das Verbotene.

Es gab auch Jungsbanden, die sich an Straßenecken trafen und die Kiez-Machos imitierten. Vor denen, so hatten uns die älteren Geschwister von Nicole, Svenni und Anja erzählt, müsse man sich in acht nehmen. Einige besäßen Bowiemesser, mit denen sie neulich schon Andis Backe angeritzt hätten, weil er frech geworden war. Schon damals fanden ich und meine beste Freundin diese Typen nicht cool. Wir hatten Angst vor ihnen und konnten ihre Wutausbrüche nicht einordnen.
Ein falscher Blick, schon wurde man abgezockt
Zwar spielten sie vorerst nur nach, was sie im Fernsehen, bei sich zuhause und in Kung-Fu-Filmen gesehen hatten, aber wir machten instinktiv, über die Knabenkörper hinaus, den zukünftigen Mann mit Egoblähungen und Platzhirschengebaren aus. Eine falsche Bewegung, ein falscher Blick und schon flogen Turnbeutel, Mützen und Haarspangen herum, wurde man abgezockt.
Auch sexualisierte Gewalt spielte bereits unter Kindern eine Rolle. Man griff uns zwischen die Beine und kniff uns in den Po. Nicht nur im Bismarckbad. Wir fingen deshalb schon früh an, bestimmte Orte und Straßen zu meiden und Umwege zu wählen, auf dem Heimweg.
Das St. Pauli meiner Kindheit hatte nichts romantisches an sich. Es war ein Ort, der, grob gesagt, aufgeteilt war in Zonen, in denen zwischen feuchten Wänden vom Eigenheim in Lurup geträumt wurde und in Gebiete, in denen man gutes Geld verdienen konnte, mit Austricksen, Gewaltandrohung und Sexarbeit. Die die Frauen verrichteten. Die wenig Geld abbekamen, von den Erlösen der harten Fick-Schufterei. Denn das meiste steckten sich eben immer schon diejenigen Männer in die Taschen, die ganz selbstverständlich davon ausgingen, dass es okay ist, „Pferdchen laufen zu haben“.
Männertyp mit fragwürdigem Selbstbild
Diese Typen hatten und haben im Milieu das Sagen, ihr unhinterfragtes Macht-Bild von sich selbst weiteten sie aus, über Straßenzüge und dunkle Ecken hinweg bis hinein in Privatwohnungen, Absteigen, Clubs und Bordelle. Vielleicht ist meine Empörung über diesen steinzeitlichen Zustand der Grund, warum ich mit einiger Verblüffung seit mehreren Jahren wahrnehme, dass genau dieser Männertyp mit seinem fragwürdigen Selbstbild, nun wieder vermehrt zum Gegenstand von Heldenerzählungen wird, die sich uns in Buch- Film- und Doku-Form präsentieren.
Wann hat das angefangen? Warum sind gerade jetzt der Zuhälter und sein Umfeld, die Blaupause für urbane Abenteuermythen? Und wer berichtet von diesen Zwischen- und Unterwelten? Es sind, bis auf wenige Ausnahmen, männliche Erzähler, die sich an all dem abarbeiten. Man kann ihnen noch nicht mal Reflexionsmüdigkeit vorwerfen, es wird schon auch einiges in Frage gestellt, aber der Impuls, sich in dieses spezielle Milieu einfühlen zu wollen, erscheint mir überraschend stark.
Gewalt und Machtmissbrauch in den Laufhäusern
Einer der Showrunner:innen des Sechsteilers „Luden“ (seit dem 3. März auf Amazon Prime verfügbar), Rafael Parente, sagte in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, es seien „reine, naive Jungsträume“, die er beschreiben wolle. Naiv schon, aber auch „rein“? Wenn das, was sich an Misogynie, Gewalt und Machtmissbrauch in Laufhäusern und Pensionen so abspielt, interessant werden soll oder einfach nur akzeptabel, bedarf es ja immer einer Figur, die nachvollziehbar in etwas „Schmutziges“ „hineingeraten“ oder „gestrandet“ ist.

Wahlweise, wie bei der Hauptfigur Klaus Barkowsky in „Luden“ oder Wolfgang „Wolli“ Köhler in Rocko Schamonis Roman „Große Freiheit“, wollten dann die Frauenausbeuter eigentlich Künstler werden oder sich mit Adorno beschäftigen aber, ach, die Umstände, das schnelle Geld, die verliebte, hilflose Frau …
Das ist eine erzählerische Form von Greenwashing, die völlig ausklammert, dass diese Figuren nur deshalb ihre Idee von Gangsterehre, Geldanhäufung, Dolce Vita und Macht leben können, weil Frauen für sie ihre Beine auseinanderspreizen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig egal, ob man nur privater Zimmervermieter oder Edel-Lude ist. Es ist einfach nur ein Scheißkonzept.
Was nämlich auch nie fehlt, ist die Zuschreibung, manch eine Frau hätte sich durch Prostitution schon auch selbst empowered und sei eigenständig, vielleicht sogar heimlich und hinter dem Rücken ihrer schlecht verdienenden Ehemänner, einen Erfolgsweg gegangen. Emanzipiert und frei. Klar, solche Fälle gibt es, aber die Regel sind sie nicht, weshalb sie wohl kaum als Beispiel für gleichberechtigtes Reeperbahngedaddel taugen.
Und natürlich ist selbstbestimmte Sexarbeit respektabel. Aber nur, wenn sie gut überlegt, aus Neigung und in Würde verrichtet werden kann. Die hier und da sentimental eingeflochtene Figur der herzlichen Puffmutter reißt da nichts raus.
Der Kiez der späten 80er Jahre
Auch der aktuelle Erfolg der beiden ARD Doku-Serien „Reeperbahn Spezialeinheit FD65“ und „Neonstaub“, die recht gelungen und interessant sind, gibt nervigerweise zu denken. Fast kommt man sich beim Ansehen vor, wie das Touri-Ehepaar aus Minden, das sich das irre Treiben auf dem Kiez mal aus der Nähe angucken will, aufgeregt Shots in der Burlesque-Bar kippt, aber am Sonntag schnell wieder abreist, vermutlich erleichtert darüber, endlich wieder den heimischen Vorgarten wässern zu können.

In den späten 80er Jahren wurde ich, von Hunger auf Nacht getrieben, wieder neugierig auf die Gegend rund um die Reeperbahn. Zum einen, weil sich dort eine Reihe toller Clubs etablieren konnte, zum anderen, weil gleichzeitig Aids vielen der Bars und Puffs den Ruin beschert hatte. Ich und andere Leute kaperten die verlassenen Etablissements und eigneten sie uns an.
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Ich erinnere mich an die großen Ami-Schlitten der verbliebenen Zuhälter in den Seitenstraßen und an die naive Annahme einiger Ausgehfreunde, man könne sich da einfach mal gegenlehnen, um eine zu rauchen. Ich scheuchte sie ständig panisch weg, denn da war sie wieder, die Angst vor der Brutalität der Kiez-Regenten, vor ihrer Unberechenbarkeit. Und das ärgerte mich. Das ist es vielleicht: dass einem Wege und Körpergrenzen beschnitten werden, will man nicht haben.
Die Erzählungen einer guten, alten, schlechten Zeit müssen so sein, dass die Heroisierung der Typen mit Rolex vermieden wird, denn andere haben dafür gearbeitet und gelöhnt. Lude bleibt Lude. Punkt.
Zur Autorin: Rebecca Spilker (55) schreibt als Freie Autorin für „Konkret“ und „Musikexpress“ und derzeit an ihrem ersten Roman, hat einen Podcast („Rebecca räumt auf“) und lebt noch heute auf St. Pauli. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.