„Kinder brauchen Grenzen“: Die 10 größten Erziehungs-Mythen und was wirklich stimmt
„Kinder brauchen Grenzen“, „Strafe muss sein“: Schwiegereltern, Oma und Opa liegen uns oft mit alten Erziehungs-Weisheiten in den Ohren. Doch was ist dran an diesen Mythen? Kinder-Psychiater Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort hat sie für die MOPO unter die Lupe genommen. Der 65-Jährige ist Ärztlicher Direktor der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachklinik Marzipanfabrik in Bahrenfeld. Er erklärt, warum Kinder keine Erziehung brauchen, wieso Strafen nichts bringen und dass Eltern inkonsequent sein dürfen.
„Kinder brauchen Grenzen“, „Strafe muss sein“: Schwiegereltern, Oma und Opa liegen uns oft mit alten Erziehungs-Weisheiten in den Ohren. Doch was ist dran an diesen Mythen? Kinder-Psychiater Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort hat sie für die MOPO unter die Lupe genommen. Der 65-Jährige ist Ärztlicher Direktor der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachklinik Marzipanfabrik in Bahrenfeld. Er erklärt, warum Kinder keine Erziehung brauchen, wieso Strafen nichts bringen und dass Eltern inkonsequent sein dürfen.
Mythos 1: Wenn du dein Kind nicht erziehst, wird es zum Tyrannen.
„Das stimmt nicht – und ist eine schreckliche Unterstellung. In unserer Gesellschaft zieht sich ein misstrauischer Blick auf die Kinder durch alle Lebenslagen hindurch. Das muss sich endlich ändern. Wir müssen unsere Kinder nicht erziehen sondern eine aufrichtige Beziehung zu ihnen aufbauen. Respekt beantworten Kinder mit Respekt. Erst wenn wir Misstrauen säen, fangen sie überhaupt erst an, Grenzen auszutesten, uns zu manipulieren oder aggressiv zu werden. Wir müssen lernen, unseren Kindern zu vertrauen.“
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Mythos 2: Wenn du das durchgehen lässt, tanzt dir das Kind auf der Nase herum!
„Das Kind hat einen Wutanfall? Eltern sollten ihr Kind dafür trösten, dass es seine Gefühle nicht im Griff hat. Kinder brauchen Erwachsene, um ihre Gefühle einordnen zu lernen. Wir dürfen sie damit nicht allein lassen. Der Lolli ist in den Dreck gefallen – statt ‚Reiß dich zusammen‘ sollten wir sagen: ‚Ich verstehe, dass dich das wütend macht‘. Und ja, Eltern sollten auch bei Dingen trösten, die sie selbst verboten haben. ‚Nein, ich kaufe dir kein zweites Eis. Das ist nicht gesund. Aber ich verstehe, dass du traurig bist.‘ Wenn wir Verständnis zeigen, ist es oft viel schneller erledigt als wenn wir in einen Machtkampf gehen. Denn den werden Eltern immer verlieren – und im Zweifelsfall die Beziehung zu ihrem Kind.“
Mythos 3: Ignoriere einfach das Verhalten, das dir nicht gefällt.
„Kinder zu ignorieren verbietet sich, denn für sie kommt es einem Liebesentzug gleich – und das ist furchtbar. Stattdessen sollten Eltern signalisieren, dass sie sich für die Wut oder Verzweiflung interessieren: ‚Du hast es gerade sehr schwer. Wie kann ich dir helfen?‘ Hinter negativem Verhalten steckt meistens ein ganz anderes Motiv, das wir herausfinden sollten.“

Mythos 4: Strafe muss sein.
„Ich bin gegen jede Art von Bestrafung. Strafen verstärken das negative Verhalten erst, weil wir die ganze Aufmerksamkeit darauf lenken. Eltern sollten vielmehr die schönen, positiven Momente mit ihren Kindern in den Fokus rücken: ‚Das war ein schönes Abendbrot mit dir‘, ‚Es hat Spaß gemacht, mir dir zu basteln‘ oder auch einfach mal ‚Schön, dass du da bist.’“
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Mythos 5: Du musst konsequent sein.
„Das Kind möchte das Abendbrot in seiner Höhle statt am Tisch essen. Viele Eltern verbieten sowas – aus Angst, dass das Kind das dann jeden Tag einfordern könnte. Es ist aber okay, Dinge an einem Tag zu erlauben und an einem anderen zu verbieten, wenn man dann gerade nicht die Zeit oder Geduld dafür hat. Eltern dürfen also inkonsequent sein. Kinder verstehen das.“
Mythos 6: Du musst Grenzen setzen.
„Natürlich gilt auch für Kinder die Regel: Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Grundsätzlich erleben Kinder in ihrem Alltag aber schon genug Grenzen – allein schon durch alles, was sie noch nicht allein können, wie Schuhe anziehen oder an den Türgriff kommen. Da müssen Eltern ihnen nicht noch zusätzlich welche auferlegen, nur um der Grenzen willen.“

Mythos 7: Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
„Das stimmt nicht! Kinder lernen Dinge, indem wir sie ihnen vorleben. Sie wollen so werden wie wir, deshalb geht das ganz automatisch, auch bei Benimm und Höflichkeit. Wenn das Kind alt genug ist, wird es irgendwann zuverlässig ‚Danke‘ sagen, wenn ich das im Alltag auch tue. Sprüche wie ‚Wie heißt das Zauberwort‘ überfordern Kinder und schüchtern sie ein. Erwachsene sollten sich lieber am Lächeln des Kindes erfreuen, wenn sie ihm etwas geschenkt haben. Ich habe bei meinen eigenen Kindern zum Beispiel nie Ordnung erzwungen. Wenn ich sie heute in ihren eigenen Wohnungen besuche und nicht direkt vorne meine Schuhe ausziehe, da ist aber was los!“
Mythos 8: Verwöhn‘ das Kind nicht so!
„Kinder können nie zu viel Liebe und Zuneigung von uns bekommen. Wir lassen uns doch selbst auch gern mal verwöhnen, zum Beispiel im Restaurant. Wenn Kinder schon allein den Löffel halten oder laufen können, feiern wir das als neu gewonnene Freiheit. Wir vergessen dabei aber, dass das für Kinder auch den Verzicht aufs Kleinsein bedeutet. Wir sollten ihnen über diesen Schmerz hinweghelfen. Auch größere Kinder fordern manchmal unsere Hilfe ein. Dann suchen sie oft einfach unsere Zuneigung. Das ist ein legitimer Wunsch, den wir ihnen erfüllen sollten. Auch in einer erwachsenen Liebesbeziehung würde niemand auf die Idee kommen, dass man den anderen zu sehr lieben und damit verwöhnen könnte!“

Mythos 9: Medien machen dumm.
„Es gibt keinen Hinweis darauf, dass unsere Kinder durch Medien dümmer werden. Aber natürlich muss die Mischung an Aktivitäten stimmen. Ich sollte mit meinen Kindern auch an die frische Luft gehen oder mit ihnen Gesellschaftsspiele spielen. Wenn wir Kindern alles anbieten, wollen sie auch alles. Was aber schädlich ist, ist Kinder mit Medienkonsum zu beruhigen oder abzulenken. Eine Ausnahme ist da für mich das Zähneputzen: Der Mundraum ist bei kleinen Kindern sehr sensibel und sie können noch nicht so lange stillhalten. Da finde ich es in Ordnung, wenn sie dabei ein kurzes Video schauen.“
Mythos 10: Das müssen Kinder unter sich klären.
„Das stimmt nicht! Mit dieser Ansicht überfordern wir die Kinder. Wir müssen ihnen schon beibringen, wie Konflikte vernünftig gelöst werden. Wir müssen deeskalieren und moderieren. Dabei geht es gar nicht um die Frage, wer angefangen hat sondern vielmehr um: ‚Wie kann es jetzt weitergehen?‘ Astrid Lindgrens Bullerbü ist für mich, zum Beispiel, eine Form der Verwahrlosung: Dass man die Kinder morgens vor die Tür lässt, sie alle Konflikte selbst lösen und abends glücklich und mit zerschrammten Knien nach Hause kommen, wird der kindlichen Realität nicht gerecht.“