Hamburgerin: Ich bin unfreiwillig ein „Schlangenmensch“
Sie können sich in alle Richtungen verbiegen und Körperteile verdrehen: Schlangenmenschen werden sie umgangssprachlich genannt. Die meisten von ihnen sind Attraktionen, die ihr Leben lang diese enorme Dehnbarkeit trainiert haben. Für sehr wenige Menschen in Deutschland ist diese Fähigkeit aber eine seltene angeborene und unschöne Krankheit. MOPO-Reporterin Ciljeta Bajrami berichtet von dem Leben als unfreiwilliger Schlangenmensch.
- Deutsch (Deutschland)
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Sie können sich in alle Richtungen verbiegen und Körperteile verdrehen: Schlangenmenschen werden sie umgangssprachlich genannt. Die meisten von ihnen sind Attraktionen, die ihr Leben lang diese enorme Dehnbarkeit trainiert haben. Für sehr wenige Menschen in Deutschland ist diese Fähigkeit aber eine seltene angeborene und unschöne Krankheit. MOPO-Reporterin Ciljeta Bajrami berichtet von dem Leben als unfreiwilliger Schlangenmensch.
Mit einem Medizin studierenden Freund saß ich 2019 am Küchentisch und zeigte, was für verrückte Dinge mein Körper kann. Meine Gelenke sind überdehnbar, meine Haut extrem elastisch. Er erzählte von seiner jüngsten Vorlesung zum Marfan- und Ehlers-Danlos-Syndrom – und dass ich dieses Phänomen meines Körpers lieber heute als morgen abklären lassen solle.
Anderthalb Jahre danach hatte ich den Befund aus dem humangenetischen Institut des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE): Ich habe eine seltene Erbkrankheit des Bindegewebes, das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS). Die Häufigkeit in der Bevölkerung liegt bei 1:20.000. Von den 13 Untertypen des EDS habe ich den hypermobilen Typ – der einzige Untertyp, bei dem die dafür verantwortlichen Gene heute noch unbekannt sind und der den höchsten Schmerzscore vorweist.
EDS: Das sind die Symptome der Krankheit
„Man merkt schon beim Untersuchen, ob jemand straff ist im Bindegewebe und in den Gelenken oder sehr hypermobil“, sagt der Hamburger Orthopäde Dr. Albrecht Wittig. Während seiner Zeit am UKE arbeitete er auch an den seltenen Fällen wie dem Marfan- und Ehlers-Danlos-Syndrom: „Es sind nur kleine Hinweise. Betroffene dieser Erkrankungen sind oft recht große, schlank gewachsene Personen, haben eine Spinnenfingrigkeit und seltener auch Organveränderungen.“ Es gibt eine hohe Dunkelziffer. Meine Diagnose bekam ich erst 20 Jahre nach den ersten Symptomen.
Mit fünf Jahren konnte ich meinen linken Arm auskugeln, wenn ich das wollte. Meine besorgte Mutter ließ mich untersuchen, aber alles war unauffällig. Ich war auf den ersten Blick gesund. Als 12-Jährige konnte ich auch den rechten Arm auskugeln, mit 15 Jahren meine Beine. Beim damaligen Orthopäden hieß es, dass das aufhört, wenn ich trainiere wie eine Bodybuilderin.
Dr. Albrecht Wittig teilt diese Meinung nicht. „Es ist kontraproduktiv, wie ein Bodybuilder zu trainieren mit dieser Krankheit“, sagt er. „Die Gelenke müssen geschont werden und man muss klein anfangen, da sonst mehr Schaden als Heilung entsteht. Über Wochen, Monate und länger muss Muskulatur aufgebaut werden.“
Sportarten, die sehr gelenkschonend sind, sind überschaubar: Pilates, Yoga, Schwimmen und Radfahren. Ich darf nicht mehr schwer heben oder tragen. Die Halswirbelsäule ist mittlerweile so instabil, dass es zu leichten neurologischen Ausfällen kommt.
Ehlers-Danlos-Syndrom: Ein Körper im Dauereinsatz
Jeden Morgen wache ich gerädert auf. Schon beim Aufstehen knacken die ersten Gelenke und die chronischen Schmerzen geben keine Ruhe. Meine Schmerzverarbeitung ist gestört und so empfinde ich auch Schmerzen, wenn ich mit leichtem Druck berührt werde. Das ist eine der Begleiterkrankungen: sekundäre Fibromyalgie. Mein Schmerzsystem ist dauerhaft im Einsatz.
Das posturale orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS) ist auch eine Begleiterkrankung, die mir den Alltag schwerer macht und nun auch viele Long-Covid-Patient:innen kennenlernen. Stehe ich zu schnell auf, dann sackt mir das Blut in die Beine. Mein Gehirn wird unterversorgt, mir wird schwarz vor Augen und mein Herz springt von einem Plus von 60 binnen weniger Sekunden auf 100 und mehr, um das auszugleichen.
Trotzdem habe ich mich vor meiner Diagnose zusammengerissen und weitergemacht wie alle anderen auch, obwohl ich gar nicht mehr konnte. Immer wieder hab ich mich gefragt: „Geht es anderen auch so? Bin ich einfach zu schwach? Warum habe ich so wenig Energie? Bin ich einfach bloß faul?“
Es wird nicht besser – nur schlimmer
Heute weiß ich, dass meine Blässe, meine Erschöpfung, meine überbeweglichen Gelenke, meine Schmerzen und meine weiche und elastische Haut daher rühren, dass mein Körper Kollagen – essentiell für das Bindegewebe, das meinen Körper zusammenhalten soll – falsch herstellt.
„Es gibt kein Medikament und keine Heilung. Man hat nur mit den Symptomen zu tun und muss mit diesen arbeiten und das Fortschreiten verlangsamen“, sagt Dr. Albrecht Wittig. Für mich als Betroffene dieser Erkrankung war das eine lange Zeit niederschmetternd. Ich werde niemals einen gesunden Körper haben.
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Ich arrangiere mich damit und akzeptiere meinen Körper so, wie er ist. Theoretisch könnte ich einen Nachteilsausgleich beantragen und einen Behindertenausweis bekommen, aber ich traue mich nicht. Wer glaubt einer jungen Frau, die von außen kerngesund wirkt, dass sie eine seltene Krankheit hat, die sie behindert? Ich kann es doch selbst kaum glauben.
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Orthopäde Dr. Albrecht Wittig weist darauf hin, dass Vernetzung sehr wichtig ist. Betroffene sollten an Studien zur Krankheit teilnehmen oder sich in Gruppen über neue Behandlungsmöglichkeiten austauschen: „Es ist immer wichtig, dass man nach Lösungen sucht. Es gibt immer Lösungen und man muss auch praktisch denken.“
Eine kleine Lösung für mich war eine Datenspende: Ich habe meiner Humangenetikerin alle meine Gene, die im Verdacht stehen die Krankheit auszulösen, für weitere Forschungen zur Verfügung gestellt und erlaubt, sie an andere Forschende weiterzugeben.