„Keine Hemmschwelle mehr“: Wie ein Teenager fast an einer Haltestelle getötet wurde
Es hätte vermutlich jeden treffen können. Ein 18-Jähriger stand nachts in Wilhelmsburg an einer Bushaltestelle. Zwei junge Männer kamen auf ihn zu, fühlten sich durch ihn anscheinend provoziert. Die Situation eskalierte, der junge Mann wurde niedergestochen. „Ich war betrunken, hatte keine Hemmschwelle“, sagt der Angeklagte Obaidullah H. am Montag vor dem Landgericht Hamburg. Er und sein Freund Marcio B. sind wegen versuchten Totschlags angeklagt.
„Er wollte den Stress!“, behauptet Obaidullah H. laut. Der 20-Jährige sitzt auf der Anklagebank des Landgerichts am Sievekingplatz, soll den Tathergang schildern. Die Richterin fordert ihn auf, für seine Aussage die FFP2-Maske abzunehmen. Der Angeklagte folgt der Anweisung, schüttelt seine dunklen Locken zurück, grinst breit.
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Es hätte vermutlich jeden treffen können. Ein 18-Jähriger stand nachts in Wilhelmsburg an einer Bushaltestelle. Zwei junge Männer kamen auf ihn zu, fühlten sich durch ihn anscheinend provoziert. Die Situation eskalierte, der junge Mann wurde niedergestochen. „Ich war betrunken, hatte keine Hemmschwelle“, sagt der Angeklagte Obaidullah H. am Montag vor dem Landgericht Hamburg. Er und sein Freund Marcio B. sind wegen versuchten Totschlags angeklagt.
„Er wollte den Stress!“, behauptet Obaidullah H. laut. Der 20-Jährige sitzt auf der Anklagebank des Landgerichts am Sievekingplatz, soll den Tathergang schildern. Die Richterin fordert ihn auf, für seine Aussage die FFP2-Maske abzunehmen. Der Angeklagte folgt der Anweisung, schüttelt seine dunklen Locken zurück, grinst breit.
Dann beginnt er zu erzählen, was am Abend des 23. Juli 2021 seiner Ansicht nach passiert ist: Er und sein Freund Marcio (18) trafen sich gegen 17 oder 18 Uhr, waren „ein bisschen spazieren“. Sie kauften zwei Flaschen Jägermeister und fuhren zu ihrem Freund Gringo auf die Veddel. Dort wurde gekifft und gesoffen, der Jägermeister wurde zu zweit geteilt. „Wir haben über Gott und die Welt geredet“, sagt Obaidullah. Doch ihm passte vieles nicht, was Gringo über die Welt zu sagen hatte.
Hamburg: Angeklagter soll Teenager fast getötet haben
Nach der Diskussion mit seinem Kumpel Gringo sei er sehr aggressiv gewesen, so der Angeklagte. Er und Marcio brachen auf und gingen zur Bushaltestelle Vogelhüttendeich. Dort trafen die Angeklagten auf das 18-jährige Opfer. Dieses habe ihn böse angeschaut, behauptet der Angeklagte. Er sei dann zu ihm hin und habe ihm gesagt: „Was los, warum guckst du so? Ist was? Brauchst du was?“
Er habe dem 18-Jährigen dann gesagt, dass er betrunken sei, schlecht gelaunt und ein Messer habe. Zum Beweis habe er sein Butterfly-Messer rausgeholt, die ungefähr acht Zentimeter lange Klinge ausgefahren. Der Geschädigte habe daraufhin jedoch ebenfalls ein Messer gezogen, behauptet der Angeklagte. „Warum hatten Sie überhaupt ein Messer dabei?“ fragt die Richterin. „Wilhelmsburg ist eine gefährliche Gegend“, antwortet der 20-Jährige. „Ich habe viele Feinde.“
Beide wollten die Angelegenheit klären, sagt Obaidullah H., deshalb seien sie gemeinsam in eine dunklere Straße gegangen. Sein Freund Marcio sei ihnen gefolgt.
Prozess: Angeklagter sticht mehrfach auf Opfer ein
Die Richterin: „Was dachten Sie, was dann passiert?“ Obaidullah: „Wir gehen um die Ecke und kloppen uns ein bisschen.“ Dann sei es eskaliert: Obaidullah habe sich zu dem 18-Jährigen umgedreht – und der habe ihm direkt mit der rechten Faust ins Gesicht geschlagen. Tatsächlich war die Nase des Angeklagten gebrochen, stellt die Richterin fest.
Sein Kontrahent sei weggerannt, er hinterher, sagt der Angeklagte. Dabei habe er ihn beleidigt. Was er gesagt habe, will die Richterin wissen. Das erste Mal zögert der Angeklagte. Es sei ihm unangenehm, das wiederzugeben. Die Richterin guckt ihn ungläubig an. Schließlich wiederholt er die Beleidigung aus der Tatnacht: „Du Hurensohn, ich fick‘ dich!“
Wilhelmsburg: 18-jähriges Opfer erleidet Lungen-Kollaps
Der Verfolgte sei im Laufen gestolpert und hingefallen – aus dem Liegen heraus habe der 18-Jährige ihm jedoch das Messer ins Bein gestochen. „Eigentlich wollte ich ihn nur ein bisschen verletzten, so wie er mich“, sagt der Angeklagte. „Ich habe zugestochen. Einfach mehrfach reingestochen“. Die Richterin schaut den Angeklagten an: „Wollten Sie ihn umbringen?“
Obaidullah antwortet mit ruhiger Stimme: „Nein.“ Dann fragt er die Richterin: „Haben Sie mal mit einem Messer …?“ – erhobene Augenbrauen der Richterin – „…nein, vermutlich nicht. Haben Sie es mal in ein Stück Fleisch gestochen? Da gibt’s keinen Widerstand.“ Er habe erst aufgehört, als sein Freund Marcio „Blut, Blut“ gerufen habe. Sie hätten das Opfer auf dem Boden zurückgelassen und seien nach Hause. „Haben Sie über den Geschädigten am Boden gar nicht nachgedacht?“, fragt die Richterin. „Nein“, sagt Obaidullah.
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Eigentlich sollte das Opfer am Montag ebenfalls vor Gericht aussagen. Doch dessen Anwältin sagt, er habe abgesagt. Es gehe ihm psychisch und körperlich zu schlecht. Vor der Tat sei er ein flippiger Typ und ein unbeschwerter Teenager gewesen. Das sei nun vorbei, erzählt die Anwältin. In der Tatnacht erlitt der Geschädigte mehrere Stichwunden, unter anderem in den Arm und Brustkorb. Das führte zu einem Pneumothorax – einem teilweisen Kollaps der Lunge. Es bestand zwischenzeitlich Lebensgefahr, er musste im Krankenhaus notoperiert werden.
Der Prozess wird fortgesetzt.