„Jagen ohne Gnade“: Wie ein brutaler G20-Polizist ohne Anklage davonkommt
Aus und vorbei. Mehr als sechs Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel wurde jetzt das letzte noch laufende Verfahren gegen Polizisten eingestellt, die unrechtmäßig Gewalt gegen Demonstranten oder Passanten angewendet haben sollen. Der Täter, der einen jungen Frau das Wadenbein brach, sei nicht eindeutig zu identifizieren gewesen, begründet die Staatsanwaltschaft die Einstellung der Ermittlungen. Dabei attestiert selbst die Polizei mindestens einem Beamten „hohe Gewaltbereitschaft, menschenverachtendes Verhalten und eine rassistische Gesinnung“, interne Chatverläufe zeigen eine Parallelwelt, in der aus Spaß Demonstranten verprügelt werden. Konsequenzen? Fehlanzeige.
Mit der Einstellung des Verfahrens steht fest: Während gegen gewalttätige Demonstranten Hunderte Urteile mit teils jahrelangen Haftstrafen gesprochen wurden, kamen Polizisten, die Demonstranten ohne Not verletzt haben sollen, ausnahmslos ohne Anklage davon. Rund 150 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Beamte wurden im Laufe der Jahre eingestellt – kein einziger Polizist landete vor Gericht. Und das, obwohl die Ermittlungsakten in dem nun eingestellten Fall erstmalig darauf hindeuten, dass mindestens einer der verdächtigten Polizisten ganz bewusst friedliche Demonstranten verletzen wollte.
Der Vorfall, der zuletzt von der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft ermittelt wurde, ereignete sich am 8. Juli 2017. Den ganzen Tag hatte es am Rande des G20-Gipfels Scharmützel zwischen der Polizei und Gipfel-Gegnern gegeben.
Um kurz vor Mitternacht stehen sich im Schanzenviertel massive Polizeieinheiten und unterschiedliche Grüppchen von Protestlern gegenüber. Die Stimmung: aufgeheizt. Ganz in der Nähe der Hundertschaft, die den Durchgang vom Neuen Kamp zum Neuen Pferdemarkt blockiert, befindet sich eine kleine Gruppe von etwa 20 jungen Leuten, die mit einer mitgebrachten Musikanlage die Szenerie beschallt und versucht, mit guter Laune die aggressive Stimmung abzukühlen – „Lieber tanz ich als G20“ steht auf einem ihrer Transparente.
Zu der Gruppe gehört auch Lola D., hauptberuflich Erzieherin, die sich nebenbei noch Geld als Flamenco-Tänzerin dazu verdient. Nun tanzt sie auf dem Bürgersteig, aus Protest gegen das Gipfeltreffen der Staatschefs und die Gewalt auf beiden Seiten. Was dann passiert, dokumentiert ein Polizeivideo, das der Mopo vorliegt.
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Aus und vorbei. Mehr als sechs Jahre nach dem Hamburger G20-Gipfel wurde jetzt das letzte noch laufende Verfahren gegen Polizisten eingestellt, die unrechtmäßig Gewalt gegen Demonstranten oder Passanten angewendet haben sollen. Der Täter, der einer jungen Frau das Wadenbein brach, sei nicht eindeutig zu identifizieren gewesen, begründet die Staatsanwaltschaft die Einstellung der Ermittlungen. Dabei attestiert selbst die Polizei mindestens einem Beamten „hohe Gewaltbereitschaft, menschenverachtendes Verhalten und eine rassistische Gesinnung“, interne Chatverläufe zeigen eine Parallelwelt, in der aus Spaß Demonstranten verprügelt werden. Konsequenzen? Fehlanzeige.
Mit der Einstellung des Verfahrens steht fest: Während gegen gewalttätige Demonstranten Hunderte Urteile mit teils jahrelangen Haftstrafen gesprochen wurden, kamen Polizisten, die Demonstranten ohne Not verletzt haben sollen, ausnahmslos ohne Anklage davon. Rund 150 Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gegen Beamte wurden im Laufe der Jahre eingestellt – kein einziger Polizist landete vor Gericht. Und das, obwohl die Ermittlungsakten in dem nun eingestellten Fall erstmalig darauf hindeuten, dass mindestens einer der verdächtigten Polizisten ganz bewusst friedliche Demonstranten verletzen wollte.
Der Vorfall, der zuletzt von der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft ermittelt wurde, ereignete sich am 8. Juli 2017. Den ganzen Tag hatte es am Rande des G20-Gipfels Scharmützel zwischen der Polizei und Gipfel-Gegner:innen gegeben.
G20 in Hamburg: Aggressive Stimmung im Schanzenviertel
Um kurz vor Mitternacht stehen sich im Schanzenviertel massive Polizeieinheiten und unterschiedliche Grüppchen von Protestlern gegenüber. Die Stimmung: aufgeheizt. Ganz in der Nähe der Hundertschaft, die den Durchgang vom Neuen Kamp zum Neuen Pferdemarkt blockiert, befindet sich eine kleine Gruppe von etwa 20 jungen Leuten, die mit einer mitgebrachten Musikanlage die Szenerie beschallt und versucht, mit guter Laune die aggressive Stimmung abzukühlen – „Lieber tanz ich als G20“ steht auf einem ihrer Transparente.
Zu der Gruppe gehört auch Lola D., hauptberuflich Erzieherin, die sich nebenbei noch Geld als Flamenco-Tänzerin dazu verdient. Nun tanzt sie auf dem Bürgersteig, aus Protest gegen das Gipfeltreffen der Staatschefs und die Gewalt auf beiden Seiten. Was dann passiert, dokumentiert ein Polizeivideo, das der MOPO vorliegt.
Schanzenviertel: Polizisten prügeln ohne Vorwarnung los
Auf einen kurzen Marschbefehl hin setzt sich die Polizeihundertschaft ohne Vorwarnung im Laufschritt in Bewegung, um den Neuen Kamp zu räumen. Als die Einheit die Gruppe passiert, schlagen – so dokumentiert das Video – mehrere Beamte ohne Vorwarnung auf die in einen Hauseingang gedrängten jungen Leute ein und zertrümmern auch die Musikanlage.
Auch Lola D. wird von einem Schlagstock am Bein getroffen, bricht schreiend zusammen. Auf dem Video ist zu erkennen, wie ein Mitdemonstrant versucht, die junge Frau in Sicherheit zu bringen. Im Krankenhaus St. Georg wird festgestellt werden, dass ihr Wadenbein gebrochen wurde. Der Abdruck des Schlagstockes ist noch sichtbar.
Der Klinik-Bericht vermerkt eine „Stockschlag-Marke am linken Unterschenkel“, genau dort, wo das Wadenbein durchtrennt wurde. Wenige Tage später wird Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) behaupten: „Polizeigewalt hat es nicht gegeben.“
Opfer leidet noch jahrelang unter den Folgen der Polizeigewalt
Noch lange Zeit wird die damals 26-Jährige unter den körperlichen und psychischen Schäden des Schlagstockeinsatzes leiden, ist monatelang auf Krücken angewiesen und wird erst eineinviertel Jahre nach dem Schlagstockeinsatz wieder in der Lage sein, Flamenco zu tanzen. Die MOPO berichtete hier über ihr Schicksal.
Das alles ist unbestritten und dokumentiert. Doch die Polizei-Aufnahmen in nächtlicher Dunkelheit lassen eine eindeutige Identifikation des Beamten, der ohne erkennbaren Grund auf Lola D. einprügelte, nicht zu. Fest steht, dass sie der „Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 1160“ aus Baden-Württemberg angehört haben müssen.
Die ermittelnde Staatsanwaltschaft hat bald eine kleine Gruppe von drei Beamten ausfindig gemacht, die als Täter infrage kommen. Die Verdächtigen verweigern die Aussage, ihr Vorgesetzter kann sie auf dem Polizeivideo ebenfalls nicht eindeutig identifizieren.
Verfahren wird umgehend eingestellt – und wieder eröffnet
Welcher der Polizisten den Schlag ausgeführt hat, lässt sich auf dem Video tatsächlich nicht klar erkennen. Also stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen Körperverletzung im Amt im März 2018 das erste Mal ein. Aufgrund einer massiven öffentlichen Kritik an der mangelnden Verfolgung polizeilicher Übergriffe, wird das Verfahren im Juli 2018 wieder aufgenommen, 2019 aber erneut zu den Akten gelegt.
Nur auf Drängen des Anwalts von Lola D., Dieter Magsam, werden die Ermittlungen im August 2022 ein drittes Mal wieder aufgenommen und im Februar diesen Jahres tatsächlich die Handys und Computer der verdächtigen Polizisten beschlagnahmt, obwohl die Ermittler über sechs Jahre nach dem Gipfel-Vorfällen nicht wirklich daran glauben, hier noch Verwertbares zu identifizieren.
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Doch sie irren. Es finden sich in den Geräten noch Chats aus dem Gipfeljahr, einige gelöschte Dateien können die Kriminaltechniker zudem wieder herstellen. Als die Mitarbeiter der Hamburger Dienststelle für Interne Ermittlungen (DIE) die sichergestellten Dateien auswerten, können sie kaum glauben, was sie sehen.
„BFE: Jagen und keine Gnade“
So finden sie auf dem Mobiltelefon des beschuldigten Polizeiobermeisters K. ein am 9. Juli 2017 – einen Tag nach dem Vorfall – erstelltes Bild, das eine Hamburger Hafensilhouette zeigt mit dem Schriftzug: „BFE: Jagen und keine Gnade“. Drei Wochen nach den Ereignissen antwortet der damals 28-jährige Polizist in einem Chat einem Bekannten auf die Frage, wie er den G-20-Einsatz in Hamburg erlebt hat, wörtlich: „Schlimm. Diese ganze Gewalt und Zerstörung. Das war ein Scherz. Es war Mega gut! Hoffe nur, dass ich keine Post aus HH bekomme.“
Auf die anschließende Nachfrage, ob er „ordentlich ausgeteilt“ habe, antwortet K. mit einem schlichten „Ja.“ Die Aussage seines Chatpartners, „die haben es ja auch verdient“, kommentiert er mit: „Ich denke doch auch“ und gibt kurz darauf an: „Für uns war es […] Gut“.
Ein paar Tage später chatten K. und eine andere Person, offensichtlich auch ein Polizeibeamter, über einen bevorstehenden Einsatz. Wer von beiden was schrieb, ist in dem wiederhergestellten Chat nicht mehr zuzuordnen. „In NRW Zecken verprügeln“, sei das Ziel eines bevorstehen Einsatzes, schreibt der eine, und erklärt: gemeint seien damit linke Demonstrant:innen. Und einer der beiden Beamten zieht nach einem anderem Einsatz seine „persönliche Bilanz“, mit der er „äußerst zufrieden“ sei, da er nun „neues Pfefferspray“ brauche, und ein Demonstrant, „der gegen meinen Trupp gelaufen“ sei, danach „nicht mehr laufen“ konnte.
Hamburger Ermittler attestieren Polizisten menschenverachtendes Verhalten
So gewaltverherrlichend lesen sich die seitenlangen Chatprotokolle. Zudem schreibt der Polizeiobermeister K. in einem Chat an einen Kollegen, er habe „Zweifel an der Intelligenz jedes Polizeibeamten, der kein Rassist ist“.
In einem Ermittlungsvermerk der DIE vom Juli diesen Jahres heißt es zu diesen Chats, sie ließe auf „eine hohe Gewaltbereitschaft und menschenverachtendes Verhalten … und eine rassistische Gesinnung“ des Beschuldigten K. schließen.“ Zudem sei auf dem Gerät ein Chat sichergestellt worden, „welcher den Verdacht erhärtet, dass es sich bei K. um den Täter handelt“.
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Der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft aber reichten diese Hinweise nicht für eine Anklage. Vor wenigen Tagen stellte die Generalstaatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren gegen die drei Beamten nun endgültig ein, obwohl zumindest bei dem Beamten K. deutliche Hinweise vorlägen, „dass dieser im Verlaufe der Hamburger Einsätze Gewalt angewendet und Gefallen hieran gefunden hat“ und bei ihm zudem eine „hoch problematische Dienstauffassung erkennbar“ sei.
Anwalt von G20-Opfer: Für Polizisten gelten andere Maßstäbe
Dass der heute 35-jährige Beamte es aber gewesen sei, der Lola D. das Wadenbein brach, sei „nicht hinreichend nachweisbar“. Auch habe „die Auswertung der Dateien keinerlei Hinweise darauf erbracht, der den Schlag ausführende Beamte hätte auf der Grundlage eines zuvor gemeinsam mit einem oder beiden weiteren Mitbeschuldigten gefassten Tatplans gehandelt“ – dann wäre es juristisch nicht so entscheidend gewesen, wer genau den Schlag ausgeführt habe.
Anwalt Magsam kann diese Rechtsauslegung „nicht nachvollziehen“. Denn dutzende G20-Demonstrant:innen wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt, obwohl ihnen keine konkreten Rechtsbrüche nachgewiesen werden konnten, nur weil sie an einer Demonstration teilnahmen oder einer Gruppe angehört hatten, aus deren Mitte Straftaten begangen wurden. „Da sind aus einer Gruppe alle Mittäter, doch bei der Polizei gelten andere Maßstäbe.“
Auch der Linken-Abgeordnete Deniz Celik sieht ein „extremes Ungleichgewicht“ in der strafrechtlichen Aufarbeitung von G20: „Die Botschaft ist fatal: Täter in Uniform können sich auf Straffreiheit verlassen. Die Straflosigkeit der Polizeigewalt während des G20-Gipfels ist ein Beleg, dass die bisherigen Strukturen zur Aufklärung ungenügend sind.“
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„Nach solchen Chats ist die Entfernung des Verfassers aus dem Dienst absolut unumgänglich“, findet Anwalt Magsam. Doch obwohl die Stellungnahmen der DIE und des Generalstaatsanwaltes zu der menschenfeindlich-rassistischen Gesinnung des Polizisten K. Baden-Württemberg inzwischen erreicht haben, gibt es in den aktuellen Akten keinen einzigen Hinweis darauf, dass gegen Polizeiobermeister K. oder die anderen beschuldigten Beamten dienstrechtliche und disziplinarische Maßnahmen eingeleitet wurden.
Das zuständige Innenministerium will der MOPO dazu „aus Gründen des Personaldatenschutzes keine Auskunft“ erteilen. So könnte Polizeiobermeister K. auch heute noch in Uniform „zum Jagen ohne Gnade“ im Einsatz sein.