Überall steigende Preise: „Wir erleben extreme Zukunftsängste“
Während die einen sich sorgen, ob sie sich in diesem Jahr den Familienurlaub in St. Peter oder Scharbeutz noch leisten können, sorgen Preisexplosionen bei Gas und Lebensmitteln bei anderen für existenzielle Ängste. Klaus Wicher ist Landesvorsitzender des Hamburger Sozialverbandes. Die MOPO sprach mit ihm über Menschen, die für ihre Tankrechnung arbeiten, Eltern, die nicht wissen, wie und wo sie noch sparen sollen und darüber, was er von der Aussetzung der Mehrwertsteuer hält.
MOPO: Herr Wicher, die Preise steigen extrem, wie erleben Sie das in den Beratungen? Mit welchen Fragen kommen die Menschen derzeit zu Ihnen?
Während die einen sich sorgen, ob sie sich in diesem Jahr den Familienurlaub in St. Peter oder Scharbeutz noch leisten können, sorgen Preisexplosionen bei Gas und Lebensmitteln bei anderen für existenzielle Ängste. Klaus Wicher ist Landesvorsitzender des Hamburger Sozialverbandes. Die MOPO sprach mit ihm über Menschen, die für ihre Tankrechnung arbeiten, Eltern, die nicht wissen, wie und wo sie noch sparen sollen und darüber, was er von der Aussetzung der Mehrwertsteuer hält.
MOPO: Herr Wicher, die Preise steigen extrem, wie erleben Sie das in den Beratungen? Mit welchen Fragen kommen die Menschen derzeit zu Ihnen?
Klaus Wicher: Wir erleben extreme Zukunftsängste, etwa mit Blick auf die Preise für Gas und Heizöl. Da werden jetzt die Vorauszahlungen neu festgesetzt und es kommt teilweise zu 70, 80 Prozent mehr, die jeden Monat bezahlt werden sollen. In einer unserer Geschäftsstellen etwa hat sich die Vorauszahlung für Heizkosten um 73 Prozent erhöht, also fast verdoppelt. Wir kriegen das noch hin, aber viele arme Menschen fragen sich „Ich müsste dafür was zurücklegen, aber woher soll ich das Geld nehmen?“
Ja, woher? Kann man das an anderer Stelle einsparen?
Wenn Paprika plötzlich 150 Prozent teurer sind, kauft man halt keine Paprika mehr, aber das Problem ist ja: Alle Lebensmittel sind teurer geworden, egal, ob Rispentomaten oder Butter, sogar Kartoffeln, egal ob man im Supermarkt oder im Discounter einkauft. Die Folge sind immer längere Schlangen bei den Tafeln, die selbst immer weniger Ware gespendet bekommen. Wir merken das auch in unserem Sozialkaufhaus, da wird um zwei, drei Euro gefeilscht. Fünf Euro können da eine unüberwindliche Hürde sein. Soll ich mal ein ganz konkretes Beispiel nennen?
Bitte.
Zu uns kam eine Floristin, die mit ihrem Verdienst immer zur Haushaltskasse beigetragen hat, während der Mann Hauptverdiener war. Nun geht aber ihr kompletter Verdienst für die Tankrechnung drauf, weil sie einen langen Anfahrtsweg hat. Und solche Menschen gibt es viele.

Und mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das nicht aufzufangen?
Das sagt sich so leicht. Viele nehmen das Auto, weil sie auf dem Weg etwa noch Kinder wegbringen, einkaufen, die sind in permanenten Zeitnöten.
Was bedeuten die finanziellen Nöte der Eltern für die Kinder?
Wir hören oft die Frage, „Was kann ich meinen Kindern noch bezahlen, wenn das ganze Geld für Essen, Trinken, Heizung weggeht?“. Nachhilfe, Klassenfahrten, Kino, Fahrgeld zu Freunden, all das steht auf der Kippe und das ist für die Kinder dramatisch, das nimmt ihnen die Chancen, sich zu entwickeln. Das betrifft in Hamburg jedes vierte Kind!
Was raten Sie diesen Menschen in den Beratungen?
Oft versuchen wir herauszubekommen, wo eine Person noch Geld herbekommen kann, etwa Wohngeld. Gibt es Entlastungen, wird etwa die GEZ erstattet? Gibt es Krankheiten, die einen Mehrbedarf begründen?
Kommen auch Menschen zu Ihnen, die nicht von der Hand in den Mund leben?
Ja, natürlich gibt es auch welche mit kleinen Sparguthaben. Da wurden vielleicht 15.000 Euro mühsam für das Alter angespart und jetzt wird das immer weniger. Auch das sorgt für existenzielle Ängste.
Was fordern Sie?
Die laufenden Einnahmen müssen erhöht werden, für Grundsicherung, Hartz IV. Beim Wohngeld müssten die Grenzen für die Berechtigung niedriger werden. Im schlimmsten Fall bekommt einer nun mehr Mindestlohn, verliert aber dafür sein Wohngeld. Die Menschen, die für ein niedriges Einkommen arbeiten, zahlen anteilig viel mehr für Miete als Menschen, die gut verdienen.
Das könnte Sie auch interessieren: Hamburger berichtet: Wie mich die Armut krank gemacht hat
Wäre die Aussetzung der Mehrwertsteuer sinnvoll? Von der auch Gutverdiener profitieren?
Das ist nicht ideal, aber eine Möglichkeit. Die andere wäre Umverteilung: den Spitzensteuersatz erhöhen, Erbschaften besteuern, große Unternehmen mehr einbinden. Aber das wird ja nicht kommen.
Was halten Sie von Rückerstattungen an den Tankstellen?
Nicht zielführend. Viele arme Menschen haben kein Auto, auch wenn das immer unterstellt wird. Eine tolle Entlastung hingegen ist das 9-Euro-Ticket für drei Monate. Wir fordern schon lange vom Hamburger Senat, dass Bedürftige gratis den HVV nutzen könnten. Hamburg könnte auch die Grundsicherung für Rentner aufstocken, so wie München das macht. Die zahlen 21 Euro über den Regelsatz. Darf ich noch was sagen?
Gerne.
In Artikel 1 des Grundgesetzes steht, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. In Armut zu leben, ist aber nicht würdevoll.