Nazis verprügelt? Hamburgerin droht Horror-Knast in Ungarn – Eltern verzweifelt
Schon seit 13 Monaten sind sie auf der Flucht vor der Justiz und der Polizei: die 23-jährige Hamburgerin Caro R. (Name geändert) und neun weitere junge Antifaschisten aus Sachsen und Thüringen. Ihnen allen wird vorgeworfen, im Februar 2023 in Budapest Neonazis, die dort an einem internationalen Faschisten-Treffen teilnahmen, tätlich angegriffen und teils schwer verletzt zu haben. Nun wollen sich die Gesuchten stellen – unter einer Bedingung.
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Schon seit 13 Monaten sind sie auf der Flucht vor der Justiz und der Polizei: die 23-jährige Hamburgerin Caro R. (Name geändert) und neun weitere junge Antifaschisten aus Sachsen und Thüringen. Ihnen allen wird vorgeworfen, im Februar 2023 in Budapest Neonazis, die dort an einem internationalen Faschisten-Treffen teilnahmen, tätlich angegriffen und teils schwer verletzt zu haben. Nun wollen sich die Gesuchten stellen – unter einer Bedingung.
Die Eltern der 23-jährigen Hamburgerin haben sich an die MOPO gewandt. Vater und Mutter haben die Befürchtung, dass ihr Kind an die ungarischen Behörden übergeben werden könnte. Das wollen sie verhindern. Deshalb das Angebot der Eltern: Mehrere der Gesuchten wären bereit, sich zu stellen – falls die deutsche Justiz die Garantie abgibt, sie nicht auszuliefern. Seit am vergangenen Freitag die Bundesanwaltschaft den Fall an sich gezogen hat, stehen die Chancen dazu gar nicht so schlecht.
Die Mutter sagt über ihre Tochter: „Caro ist ein friedliebender Mensch. Als gewalttätig haben wir sie noch nie erlebt. Sie ist jemand, der sich sehr um Gerechtigkeit sorgt und sich für andere einsetzt.“ Aber eine Terroristin? „Niemals.“
Eine der zehn Gesuchten stammt aus Hamburg: eine 23-jährige Meteorologie-Studentin
Zu den Vorwürfen, die gegen ihre Tochter und die anderen Beschuldigten erhoben werden, möchte die Mutter nichts weiter sagen. „Es ist nicht unser Part als Eltern, uns zu Schuld oder Unschuld zu äußern“, so die Frau. „Das ist die Aufgabe von Gerichten. Wir als Eltern fordern einen fairen und rechtsstaatlichen Prozess für unser Kind – und den bekommt eine Linke, eine Antifaschistin im rechtspopulistisch regierten Ungarn Victor Orbáns garantiert nicht.“
Rückblick: Februar 2023. Tausende von Neonazis aus ganz Europa versammeln sich in Budapest – so wie jedes Jahr. „Tag der Ehre“ heißt die Veranstaltung. Es hat inzwischen eine lange Tradition, dass Rechtsextremisten am 11. Februar ihrer vermeintlichen Helden gedenken: der vielen deutschen Soldaten, SS-Männer und ungarischen Nazi-Kollaborateure, die 1945 bei dem Versuch, den Belagerungsring der Roten Armee zu durchbrechen, ums Leben kamen. Gegen dieses jährliche Nazi-Heldengedenken unternimmt der ungarische Staat nichts. Kritiker werfen Regierungschef Viktor Orbán vor, er gehe mit dem Rechtsextremismus äußerst nachsichtig um.
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Im Februar 2023 wurden die Nazi-Feierlichkeiten gestört – durch Antifaschisten aus ganz Europa, die die Absicht hatten, dem „Nazi-Pack“ die Suppe zu versalzen. Bei mehreren Zusammenstößen wurden neun Rechtsextremisten teils schwer verletzt. Es gibt Videoaufnahmen, auf denen die Angriffe zu sehen sind.
Eine Sonderkommission der ungarischen Polizei fahndet seither mit großer Energie nach den mutmaßlichen Tätern. Mehrere Beschuldigte werden mit europäischem beziehungsweise internationalem Haftbefehl gesucht. Polizei und Verfassungsschutz in Deutschland haben bereits einige Anstrengungen unternommen, um die Beschuldigten zu finden. Eine Person wurde im Dezember in Berlin gefasst und sitzt dort in Haft – über eine Auslieferung ist noch nicht entschieden.
Nach zehn Personen wird gefahndet, darunter nach der Hamburgerin
Nach zehn Personen wird weiter gefahndet, darunter Caro R. aus Hamburg. „Meine Frau und ich sind mehrere Tage lang observiert worden“, erzählen die Eltern. Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz hätten auch schon vor der Tür gestanden und ihre „Hilfe“ beziehungsweise ihre „Vermittlung“ angeboten – „das haben wir abgelehnt“, so der Vater. Der Höhepunkt war eine Hausdurchsuchung in der Wohnung der Schwester von Caro R., die allerdings ergebnislos verlief.
„Das Gerede von einer Untergrundzelle war von Beginn an ein Hirngespinst“
Die Eltern der Gesuchten sind verärgert darüber, dass ihre Kinder in der Öffentlichkeit vorverurteilt würden. Die Strafverfolgungsbehörden würden den Eindruck erwecken, als gehe es hier um Mitglieder einer Terror-Vereinigung, einer RAF 2.0. Dazu Ulrich von Klinggräff, Anwalt eines der zehn Gesuchten, gegenüber der MOPO: „Das Gerede von einer Untergrundzelle war von Beginn an ein Hirngespinst. Das ist blanker Unsinn.“
Tatsache ist allerdings, dass sich unter den Gesuchten zwei Männer befinden, die von Ermittlern dem Umfeld der Leipziger Studentin Lina E. zugerechnet werden, die in Dresden wegen Mitgliedschaft in einer linksextremistischen, kriminellen Vereinigung verurteilt worden ist, weil sie mehrfach Rechtsextremisten angegriffen habe. Die übrigen Gesuchten sind junge Frauen und Männer aus Sachsen, Thüringen und Hamburg – bislang ohne nachweisbares Bekanntschaftsverhältnis zu Lina E.
Was den Gesuchten blüht, wenn sie gefasst und an die ungarische Justiz ausgeliefert werden, zeigt der Fall von Ilaria S., die gleich nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen in Budapest festgenommen wurde, danach mehr als ein Jahr in U-Haft saß und inzwischen in Ungarn vor Gericht steht. Am ersten Tag des Strafprozesses im Januar 2024 wurde sie in Ketten in den Gerichtssaal geführt – wie eine Schwerverbrecherin. Das hat in Italien für Entsetzen gesorgt.
Völlig überzogene Strafen und entsetzliche Haftbedingungen in Ungarn
Die italienische Öffentlichkeit ist auch darüber empört, was Ilaria S. über die Zustände im Gefängnis berichtet. In einem Brief schreibt sie, dass sie ihre 3,5 Quadratmeter große Zelle nur für eine Stunde täglich verlassen dürfe. Im Sommer werde die Zelle unzureichend belüftet, im Winter nur teilweise beheizt. Die Zelle sei von Bettwanzen, Mäusen und Kakerlaken befallen. Ilaria S. prangert außerdem an, dass sie sechs Monate lang keinen Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen durfte.
Die ungarische Staatsanwaltschaft fordert für die Italienerin bis zu 16 Jahre Haft – und hat ihr angeboten, ihr fünf Jahre Rabatt zu geben, falls sie gesteht, einer kriminellen Vereinigung anzugehören. Diesen „Deal“ lehnt sie aber ab.
Angesichts der Haftbedingungen und der völlig unverhältnismäßigen Strafandrohung hat die italienische Justiz inzwischen Konsequenzen gezogen: Der mailändische Generalstaatsanwalt Cuno Tarfusser will einen jungen Italiener, der ebenfalls an den Auseinandersetzungen im Februar 2023 in Budapest beteiligt gewesen sein soll, nun nicht mehr abschieben. Der ausgestellte internationale Haftbefehl sei „zu invasiv“ angesichts des Zwecks der Ermittlungen. Außerdem verwies Tarfusser darauf, dass die ungarischen Ermittlungen einen „politischen Charakter“ hätten.
Deutsche Justiz soll sich Beispiel an der italienischen nehmen
Jetzt fordern die Eltern der in Deutschland Gesuchten, dass sich die hiesige Justiz ein Beispiel an der italienischen nimmt – und von einer Auslieferung absieht. Die Eltern erinnern daran, dass die EU 2022 Milliardenzahlungen eingefroren hat, da sich Ungarn nicht an vereinbarte rechtsstaatliche Reformen hält. „Im Falle einer Verurteilung in Ungarn erwartet die Beschuldigten ein im Vergleich zu Deutschland unangemessen hohes Strafmaß“, heißt es in einer Erklärung der Eltern. „Wir werden nicht mitansehen, wie unsere Tochter 15, 20 oder mehr Jahre in einem ungarischen Kerker verschimmelt“, so die Mutter von Caro R. im Gespräch mit der MOPO.
Bundesanwaltschaft hat den Fall an sich gezogen – Auslieferung nun unwahrscheinlich
Bislang war für den Fall die Generalstaatsanwaltschaft in Dresden zuständig. Sie hatte durchblicken lassen, dass sie nur dann von einer Auslieferung absehen würde, wenn die Beschuldigten ein umfassendes Geständnis ablegen. Aus Sicht der Verteidiger eine völlig unannehmbare Forderung. Anwalt Klinggräff spricht von „Erpressung“. Er sagt: „Von den Beschuldigten zu verlangen, auf strafprozessuale Rechte zu verzichten, also etwa auf ihr Recht zu schweigen, ist nach meinem Verständnis rechtsstaatswidrig.“
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Am vergangenen Freitag wurde bekannt, dass es in dem Fall nun eine ganz neue Wendung gibt: Wie die Bundesanwaltschaft bestätigte, hat sie das Verfahren an sich gezogen. Beobachter gehen davon aus, dass damit eine Auslieferung nach Ungarn unwahrscheinlicher wird. Nun spricht einiges dafür, dass die Eltern dem Ziel, dass die Kinder in Deutschland ein rechtsstaatliches Verfahren bekommen, ein ganzes Stück nähergekommen sind.
Eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft teilte mit, dass gegen die Gesuchten in der Bundesrepublik wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung ermittelt wird.