„Ich wollte nach Hamburg wegen HSV“: Wie Bassam aus Syrien hier eine neue Heimat fand
Er ist noch ein Kind, als Bassam Alsalem klar wird: Wenn ich überleben will, muss ich hier weg, meine Heimat verlassen. Seine Heimat ist Syrien – und wird täglich mit Bomben und Raketen beschossen. Alsalem wagt die gefährliche Flucht über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland. Sein Ziel: Hamburg – weil hier der HSV ist.
Krieg, Vertreibung, Flucht: Obwohl wir tagtäglich die Bilder aus der Ukraine sehen, klingen diese Worte für uns trotzdem irgendwie abstrakt. Was es bedeutet, buchstäblich um sein Leben rennen zu müssen, haben glücklicherweise die wenigsten von uns erfahren. Bassam Alsalem jedoch schon. Mit 15 floh der heute 22-Jährige aus Syrien. In Hamburg hat er eine neue Heimat gefunden, seine „zweite Heimat“, wie er im Gespräch mit der MOPO erzählt.
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Er ist noch ein Kind, als Bassam Alsalem klar wird: Wenn ich überleben will, muss ich hier weg, meine Heimat verlassen. Seine Heimat ist Syrien – und wird täglich mit Bomben und Raketen beschossen. Alsalem wagt die gefährliche Flucht über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Deutschland. Sein Ziel: Hamburg – weil hier der HSV ist.
Krieg, Vertreibung, Flucht: Obwohl wir tagtäglich die Bilder aus der Ukraine sehen, klingen diese Worte für uns trotzdem irgendwie abstrakt. Was es bedeutet, buchstäblich um sein Leben rennen zu müssen, haben glücklicherweise die wenigsten von uns erfahren. Bassam Alsalem jedoch schon. Mit 15 floh der heute 22-Jährige aus Syrien. In Hamburg hat er eine neue Heimat gefunden, seine „zweite Heimat“, wie er im Gespräch mit der MOPO erzählt.
Der junge Mann kommt im schicken Business-Outfit zum Interview, er hat im Anschluss ein Vorstellungsgespräch bei einem Hamburger Online-Moderiesen. „Ich hoffe sehr, das klappt“, sagt er angespannt. Seit gut sechs Jahren ist Bassam in Hamburg. „Ich habe mir hier echt etwas aufgebaut“, erzählt er stolz. Freunde, Arbeit, ein stabiles Umfeld – und sogar einen eigenen Podcast! Der heißt wie er: „Bassam“.
„In Syrien war es Routine, Angst zu haben“
Darin erzählt der 22-Jährige, wie nach dem arabischen Frühling plötzlich Bomben auf seine Stadt regneten. In Daraa, wenige Kilometer von der jordanischen Grenze entfernt, lebten vor dem syrischen Bürgerkrieg rund 100.000 Einwohner. Wie viele es jetzt noch sind, weiß man nicht – die Bomben und Raketen haben viele von Alsalems Nachbarn getötet. „Es war für mich und alle anderen dort Routine, Angst zu haben“, erzählt er. Am größten sei die Angst gewesen, „wenn die Flugzeuge kamen. Du weißt ja nicht, wo die ihre Munition abwerfen. Fliegen sie weiter? Oder lassen sie das TNT direkt über dir fallen?“
Es gebe Leute, die seien „einfach verschwunden“, erzählt der junge Mann. Sie seien von Bomben getroffen, getötet worden. „Von denen blieb einfach nichts übrig, die sind weg, die gibt es nicht mehr.“ Ihre Familien könnten sie nicht einmal begraben, klagt Alsalem an.
Oft rannte auch er um sein Leben. Einmal fielen nachts in eineinhalb Minuten 32 Bomben auf sein Viertel. Die Erinnerungen an diese Nacht seien verschwommen, erzählt Alsalem. „Ich weiß noch, dass ich geschlafen habe und mein Bruder hat mich aufgeweckt. ,Wir müssen schnell zum Keller!‘, schrie er.“ Wie sie dort landeten, weiß Alsalem nicht mehr. „Ich war unter Schock. Ich glaube, mein Bruder hat mich bis zu unserer Haustür getragen und von da bin ich selbst gelaufen.“
Das Haus der Alsalems hat nämlich keinen Keller, die Familie musste bei Bombenalarm zu den Nachbarn flüchten, wo es einen stabilen Unterschlupf gibt. Es habe in der Nacht völliges Chaos geherrscht, erzählt Alsalem. „Alle schrien, die Frauen, die Kinder. Hunde bellten, Kühe haben sich losgerissen und liefen rum.“ Und dann plötzlich: Stille. „Wenn neben dir eine Bombe explodiert, dann hörst du nichts mehr.“ Der junge Mann blickt zu Boden, wenn er davon erzählt, schaut ins Leere. Man merkt, dass er in diesem Moment wieder eintaucht in diese Horror-Nacht. „Und dann der Geruch“, fährt er fort. „Ich kann das nicht beschreiben, es riecht verbrannt. Alles verbrannt.“
Kindheit in Syrien: die „Hölle auf Erden“
Was Alsalem in Syrien erlebt hat, bezeichnet er selbst als „Hölle auf Erden“. Im Podcast berichtet er von unfassbarer, kaum zu beschreibender Gewalt. „Gegen alle, ob jung oder alt, gegen Kinder, gegen Frauen, alle.“ Zivilistinnen seien vergewaltigt worden, Männer erschossen. Kleinen Kindern habe man bei vollem Bewusstsein die Fingernägel rausgezogen. „Wer macht so etwas?! Welcher Mensch macht so etwas?!“, fragt Alsalem wütend.
Irgendwann, es war Anfang 2015, entschied der damals 15-Jährige, dass er in Syrien keine Zukunft hat. Die Familie kratzte sämtliches Geld zusammen, auch ein Onkel in Kuwait gab etwas dazu. 3500 Dollar kamen so zusammen – der Preis für die Freiheit. Der Moment, als sich Alsalem von seinen Eltern verabschiedete, sei „der schlimmste in meinem Leben“ gewesen, sagt er im Podcast. „Ich mache die Augen zu und ich sehe sie vor mir. In diesem Moment. Der letzte Blick von ihnen. Das ist hier gespeichert.“
Was ihn auf seiner Flucht erwarten würde, wusste er nicht, als er sich von seinen Eltern verabschiedete. Er wusste nur: „Ich wollte nach Deutschland.“ Warum? „Ich wollte ein ganz normales Leben. Ich wollte nachts den Kopf aufs Kissen legen, ohne Angst zu haben“, erzählt Alsalem der MOPO. Seit seinem Abschied hat er seine Eltern nicht wiedergesehen. Sie leben mittlerweile in Damaskus.
„Ich dachte nur: ,War’s das jetzt?’“
Zwei Städte kannte der Teenager in Deutschland: München und Hamburg. „Wegen Fußball“, sagt er. Seine Brüder hätten zuhause immer Bundesliga geguckt, am liebsten Spiele vom FC Bayern und vom HSV, erzählt Alsalem. Das Logo der Rothosen gefiel ihm dabei besonders, „die Raute und die Farben.“ Der damals 15-Jährige beschloss, dass Hamburg das Ziel seiner Flucht sein sollte.
Dazwischen lagen mehrere Grenzübertritte, die brutalen Schergen des IS, die Fahrt übers Mittelmeer, die Balkanroute, stundenlange Zug- und Busfahrten, Tage ohne Dusche, dafür voller Angst, Hunger und Durst. Der schlimmste Moment seiner Flucht sei gewesen, als er im Schlauchboot auf der Ägäis saß und ihm klar wurde, dass das Boot ein Loch hatte, schildert Alsalem. „Ich dachte nur: ,War’s das jetzt?’“
Mit 35 anderen habe man ihn in der Türkei nahe Izmir in das Boot gesetzt, es sei mitten in der Nacht und stockfinster gewesen. „Die Schlepper haben uns gesagt: ,Da drüben, die Lichter. Orientiert euch an den Lichtern, dann seid ihr in Griechenland.‘ Aber wir haben irgendwann keine Lichter mehr gesehen“, sagt Alsalem. Die Wellen seien zu hoch gewesen, „das Meer war sauer.“
„Man guckt in den Himmel und sagt sich: ,Mach du das, Gott!’“
Kurz nachdem das Boot abgelegt hatte, sei ihnen klar geworden, dass es vollläuft. „Da war ein Loch. Es ging dann die ganze Zeit nur noch darum, das Loch zuzuhalten“, erzählt Alsalem. Dann fiel der Motor aus, es sei „unglaublich kalt“ gewesen, „alle zitterten, alle waren nass. Die Wellen, die Kälte, die Kinder schreien. Man guckt in den Himmel und sagt sich: ,Mach du das, Gott!’“
Ein Mann an Bord schaffte es, den Motor wieder zum Laufen zu bringen. Dreieinhalb, vier Stunden später erreichte das Boot eine griechische Insel. Welche, weiß Alsalem nicht. Aber: „Alle haben überlebt.“
Die griechische Polizei brachte Alsalem mit anderen Geflüchteten zusammen nach Athen, von dort ging es weiter über Serbien und Ungarn nach Wien und München. Der heute 22-Jährige floh als einer von Millionen Menschen über die berüchtigte Balkan-Route – sein Ziel immer vor Augen: Hamburg. Nach drei Wochen Flucht kam er im Spätsommer 2015 endlich hier an.
Alsalem wurde zunächst in Alsterdorf, später in Dulsberg in Einrichtungen für minderjährige Flüchtlinge untergebracht. Um sich die Zeit zu vertreiben, hätten sie viel Fußball gespielt, erzählt er im Podcast. Ein Heimspiel im Volkspark bei „seinem“ HSV hat er allerdings noch nie besucht.
Wie der Podcast „Bassam“ entstand
2016 lernte Alsalem bei einem „Welcome Dinner“ den Hamburger Journalist und Autor Tim Sohr kennen. „Ich wusste damals schon: Ich will Bassams Geschichte erzählen. Aber das muss groß sein, und eigentlich muss Bassam sie selbst erzählen“, erzählt Sohr der MOPO. Vor ein paar Monaten sei dann die Idee zu diesem Podcast entstanden. „Für mich ist das die intimste Form einer Erzählung“, sagt Sohr.
Knapp zehn Stunden lang haben die beiden miteinander gesprochen, zwei Wochen hat Sohr gebraucht, um aus Alsalems Geschichte das Skript für „Bassam“ zu schreiben. „Aber eigentlich schrieb sich das von allein. Bassam ist ein toller Erzähler“, so der Autor.
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Genau deshalb lohne es sich auch, den Podcast zu hören, Bassam zuzuhören, sagt Sohr: „Meldungen in den Nachrichten sind immer so gesichtslos, abstrakt. Aber Bassams Geschichte ist beispielhaft, sie zeigt, was Krieg und Vertreibung bedeuten. Wirklich bedeuten.“
„Bassam“ gibt es überall dort zu hören, wo es Podcasts gibt, zum Beispiel bei Spotify.