Stasi-Arrest statt Hippie-Festival: Die Segel-Odyssee einer Hamburger Jugendgruppe
Es gibt zahlreiche Berichte über Fluchtversuche von DDR-Bürgern zur Zeit der deutschen Teilung. Ungewöhnlich ist das Erlebnis einer Gruppe Jugendlicher, bei der es andersherum lief: Sie segelte im Jahr 1970 mit einem selbstgebauten Boot von Travemünde ins mecklenburgische Kühlungsborn. Nicht ganz freiwillig: Der Sturm, der auch das legendäre Hippie-Festival auf Fehmarn heimsuchte, war ihnen zum Verhängnis geworden. Statt beim letzten Festival-Auftritt des US-Sängers Jimi Hendrix, wo sie eigentlich hinwollten, kämpften sie auf der Ostsee um ihr Leben und landeten Schließlich im Hausarrest der Stasi. Doch damit begann die verrückte Geschichte erst so richtig – an deren Ende SED-Chef Walter Ulbricht den Jungs nach einem MOPO-Artikel höchstpersönlich mehrere tausend D-Mark überwies.
Wenn der Altengammer Volker Antonzcyk heute die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von seinem alten Schiff anschaut, leuchten seine Augen noch immer. Zu schön ist die Erinnerung an die Zeit vor etwa 50 Jahren, als er mit seinen Pfadfinder-Freunden von der „Grauen Jungenschaft Hamburg-Wandsbek“ herumreiste, an Autos und Bussen herumschraubte und schließlich auch ein ausgemustertes Rettungsboot mit ein paar Planen und einem Schwert in ein ansehnliches Segelboot verwandelte.
Es gibt zahlreiche Berichte über Fluchtversuche von DDR-Bürgern zur Zeit der deutschen Teilung. Ungewöhnlich ist das Erlebnis einer Gruppe Jugendlicher, bei der es andersherum lief: Sie segelte im Jahr 1970 mit einem selbstgebauten Boot von Travemünde ins mecklenburgische Kühlungsborn. Nicht ganz freiwillig: Der Sturm, der auch das legendäre Hippie-Festival auf Fehmarn heimsuchte, war ihnen zum Verhängnis geworden. Statt beim letzten Festival-Auftritt des US-Sängers Jimi Hendrix, wo sie eigentlich hinwollten, kämpften sie auf der Ostsee um ihr Leben und landeten Schließlich im Hausarrest der Stasi. Doch damit begann die verrückte Geschichte erst so richtig – an deren Ende SED-Chef Walter Ulbricht den Jungs nach einem MOPO-Artikel höchstpersönlich mehrere tausend D-Mark überwies.
Wenn der Altengammer Volker Antonzcyk heute die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von seinem alten Schiff anschaut, leuchten seine Augen noch immer. Zu schön ist die Erinnerung an die Zeit vor etwa 50 Jahren, als er mit seinen Pfadfinder-Freunden von der „Grauen Jungenschaft Hamburg-Wandsbek“ herumreiste, an Autos und Bussen herumschraubte und schließlich auch ein ausgemustertes Rettungsboot mit ein paar Planen und einem Schwert in ein ansehnliches Segelboot verwandelte.
Hamburger Jungenschaft wollte zum Jimi Hendrix-Konzert
Die „Alt Dimo“ (in Anspielung auf ein altes Fahrtenlied) erhielt einen kleinen Kanonenofen und ein Hüttendeck, in dem immer genügend Schnaps gelagert wurde. Auch eine vollbusige Galionsfigur gab es, selbstgeschnitzt von Gruppenleiter Rudi Lorbeer.
Im September 1970 wollten die Pfadfinder mit dem Boot von Travemünde zum legendären „Love-and-Peace-Festival“ auf der Insel Fehmarn fahren, zu dem der US-Superstar Jimi Hendrix erwartet wurde. „Die Jungs waren zu viert auf dem Boot“, berichtet Volker Antonczyk. „Ich bin mit meinem Mercedes nach Fehmarn gefahren, weil ich Mäntel und Räucherstäbchen zum Verkaufen dabei hatte.“

Im Nachhinein hat man dem 73-Jährigen all das erzählt, was während der Überfahrt passiert ist. Am Tag des 5. September 1970 aber war er völlig ahnungslos über das Schicksal seiner Freunde – Handys gab es schließlich noch nicht.

„Die Stimmung war gut bei Rotwein und Omelett auf dem Schiff, als plötzlich ein Sturm aufzog“, so Volker Antonczyk. „Ein Sturm so heftig, dass das Festival auf Fehmarn zwischenzeitlich unterbrochen werden musste.“ Währenddessen trieben die Jugendlichen immer weiter vom Festland ab – in Richtung DDR. „Die Jungs versuchten zu drehen. Das Boot verfügte über einen alten Motor, der jedoch nicht stark genug war.“
Langsam kam Panik auf. Als sich die „Alt Dimo“ zum zweiten Mal auf die Seite legte, griff einer der Jungen wie von Sinnen zu einer Stange und versuchte, die Scheibe des Hüttendecks einzuschlagen. „Er wollte nicht mit dem Schiff untergehen“, sagt Volker Antonzcyk. Seine Freunde mussten ihn mit einem Seil fesseln, um Schlimmeres zu verhindern.
Antonzcyk und seine Freunde landeten in der DDR
Da alles andere zwecklos erschien, beschloss Gruppenführer Rudi, vor dem Wind zu fahren – geradewegs auf die ostdeutsche Küste zu. „Zwischendurch machten die Jungs mit Seenotraketen die Fähre „Peter Pan“ auf sich aufmerksam“, so der 73-Jährige. „Doch die informierte nur die Travemünder Küstenwache und fuhr weiter. So waren sie wieder auf sich alleine gestellt.“

Erst kurz vor Mitternacht kam endlich Land in Sicht: Die Kühlungsborner Küste. Niemand war da, um die Fremden in dem sozialistischen Staat in Empfang zu nehmen. „Es war stockfinster, die Stille war gespenstisch“, berichtet Volker Antonzcyk aus den Erzählungen seiner Freunde. Er selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Festival, wo sich das Wetter etwas beruhigt hatte und die meisten Gäste schon in ihren Zelten waren. „Dann gerieten sie in das Scheinwerferlicht eines Motorades: ein Volkspolizist. Der war zum Glück ganz nett und hat erstmal einen Schnaps mit den Jungs getrunken.“

Doch schon kurze Zeit später war die Stasi da und brachte sie nach einem intensiven Verhör in ein Hotel, in dem sie unter Hausarrest gesetzt wurden. Erst am Montag durften sie zurück in den Westen – ohne die „Alt Dimo“.
MOPO-Artikel von 1970 erzählt die Geschichte
„Rudi vereinbarte mit den DDR-Behörden, dass wir das Schiff später abholen. Und so kehrten wir nach zwei Wochen zurück“, berichtet Antonzcyk. Diesmal war auch der heute 73-Jährige dabei – mit einer Kamera im Gepäck. Er hatte dem MOPO-Reporter Erich Schmidt Fotos für einen Artikel über das Erlebnis versprochen.

„Vor Ort stellten wir fest, dass das Schiff zu kaputt war, um es mitzunehmen.“ Und so kehrten die Pfadfinder nur mit der Gallionsfigur im Gepäck zurück – und einem Film mit heimlich für Erich Schmidt geschossenen Fotos. „Wir dachten, dass die Geschichte damit abgeschlossen ist“, sagt Volker Antonzcyk. Doch nachdem er seinen Artikel geschrieben hatte, brachte der MOPO-Reporter die Jungen auf die Idee, einen Brief an den DDR-Staatsvorsitzenden Walter Ulbricht zu schreiben.
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„In meiner Erinnerung haben wir in dem Brief ein bisschen zu doll auf die Tränendrüse gedrückt. Dass wir eine sozialistische Jugendgruppe aus dem Arbeitermilieu seien mit einem Klempner als Hortenführer und unser gesamtes Erspartes für die „Alt Dimo“ ausgegeben hätten“, so Antonzcyk. „Und tatsächlich ist das Unglaubliche wahr geworden: Wir haben eine Antwort aus der DDR bekommen. Dazu hat Ulbricht persönlich uns 3500 West-Mark überwiesen.“ Mit dem Geld finanzierten die Jungen ihre „Alt Dimo 2“.

Der MOPO-Artikel mit dem Titel „Herr Ulbricht, helfen Sie uns!“ erschien am 7. Oktober 1970. Im Jahr 2020 begann Volker Antonzcyk mit der Aufarbeitung der Geschichte, hat unter anderem Kontakt zum Kühlungsborner Museum „Grenzturm e.V.“ und DDR-Flüchtlingen aufgenommen und sich auf die Suche nach dem Brief an Walter Ulbricht gemacht. Den Jimi Hendrix-Auftritt, der wegen des Sturmes auf den nächsten Tag verschoben worden war, haben die Freunde übrigens verpasst – wie das gesamte restliche Festival. „Aber das hat uns nicht mehr gestört. Wir waren heilfroh, dass die Sache so ein positives Ende genommen hat. Und dass wir etwas zu erzählen hatten“, sagt Volker Antonzcyk.