Hamburger Hafenarbeiter schrieb an Hitler: „Gebt mir meine Else zurück!“
Emil Matulat – ein einfacher Hafenarbeiter bei der Reederei Hapag – hat Hitler anfangs wohl sehr verehrt. So sehr sogar, dass er 1933 in die NSDAP eintrat. Aber als die Nazis ihm das Kind nahmen, da kam er ins Grübeln – und hat gekämpft wie ein Löwe. Er schrieb Briefe an SS-Chef Heinrich Himmler, an Reichsmarschall Hermann Göring, an Propagandaminister Joseph Goebbels, ja, sogar an Diktator Adolf Hitler persönlich und stellte immer wieder die gleiche Forderung: „Gebt mir meine Else zurück!“ Die Reaktion lässt staunen.
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Dass er ein Hitler-Bärtchen unter der Nase trug, ist sicherlich kein Zufall. Emil Matulat – ein einfacher Mann, Hafenarbeiter bei der Reederei Hapag – hat Hitler anfangs wohl sehr verehrt. So sehr sogar, dass er 1933 in die NSDAP eintrat. Aber als die Nazis ihm das Kind nahmen, da kam er ins Grübeln – und hat gekämpft wie ein Löwe. Er schrieb Briefe an SS-Chef Heinrich Himmler, an Reichsmarschall Hermann Göring, an Propagandaminister Joseph Goebbels, ja, sogar an Diktator Adolf Hitler persönlich und stellte immer wieder die gleiche Forderung: „Gebt mir meine Else zurück!“
Das Wunder ist: Er hatte Erfolg damit. Matulat kochte die NS-Prominenz mit seinen Eingaben so lange weich, bis sie ihm die Erlaubnis erteilte, Else aus dem KZ Ravensbrück abzuholen. Ein einzigartiger Vorgang! Aus zwölf Jahren NS-Diktatur ist kein ähnlicher Fall überliefert.
Das Kind, das er rettete, lebt heute 86-jährig in England. Dorthin wanderte Else Baker 1963 aus, weil sie dachte, in der Fremde über das Trauma, das sie als Kind erlitt, besser hinwegzukommen. Ein Irrtum. Bis heute vergeht kein Tag, an dem sie nicht dunkle Gedanken hat. „Ich weiß, dass es auch Gutes gibt auf der Welt“, sagt Else Baker im Gespräch mit der MOPO. „Aber ich muss mich sehr bewusst daran erinnern.“
Sie selbst bezeichnet sich als zynischen Menschen. Aber wie sollte sie auch anders sein bei dem, was sie hinter sich hat?
Nazi-Rassenideologen stigmatisierten sie als „Zigeuner-Mischling“
Die Geschichte beginnt im Dezember 1935. Da wird Else Baker geboren, und zwar als Tochter der Hausangestellten Elsa Schmidt, die zwar als groß und blond beschrieben wird, also optisch dem Ideal der Nazis entspricht, aber dennoch von NS-Rassenideologen als „Halb-Zigeunerin“ eingestuft wird.
Tochter Else ist ein Jahr alt, als die Mutter sie weggibt. Warum ausgerechnet die Matulats das Kind in Pflege nehmen, ist rätselhaft. Die Eheleute sind 48 bzw. 43 Jahre alt und haben bereits drei Kinder.
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Eine mögliche Erklärung lautet: Emil Matulat glaubt, damit einem Wunsch Hitlers zu entsprechen. Später, bei seinen Eingaben an die NS-Prominenz, soll er argumentiert haben, er habe sich doch nur an das gehalten, was der „Führer“ verlangte: nämlich mitzuhelfen, die Waisenhäuser zu leeren. „Ich habe ein Kind aufgenommen, ein Kind, wie der Führer sich das wünscht, blauäugig und mit blonden Zöpfen.“
Wie auch immer es zur Adoption kommt – Else wird jedenfalls im Haus der Matulats am Kamillenweg sehr behütet groß. Da draußen in Osdorf ist es fast wie auf dem Land: Kornfelder, Wiesen, Gärten, hohe Bäume. Else ist das Nesthäkchen, wird von Ilse, Gerda und Kurt Matulat, ihren „Geschwistern“, geliebt und umsorgt. Else zweifelt keine Sekunde daran, dass Emil und Auguste Matulat ihre leiblichen Eltern sind.
Sie erfährt die Wahrheit dann auf sehr brutale Weise.
Sieben Jahre ist sie alt und geht in die zweite Klasse, als eines Morgens gegen vier Uhr Männer mit langen Ledermänteln vor dem Haus stehen. Emil Matulat ist bei der Arbeit. Die Männer halten seiner Frau ein Papier unter die Nase und sagen, das Kind muss mitkommen. Jetzt. Sofort.
Den ersten Deportationsversuch 1943 kann Emil Matulat noch verhindern
Else versteht überhaupt nicht, was vor sich geht. Wenig später findet sie sich in einer riesigen Halle im Freihafen wieder. Von dort werden an diesem 11. März 1943 Roma und Sinti nach Auschwitz deportiert. „Ganz viele Menschen waren da versammelt“, erinnert sich Else Baker. „Auch viele Kinder. Alle hatten Eltern und Großeltern bei sich. Ich aber war ganz allein.“
Was sie nicht weiß: dass sich ihre leibliche Mutter zu diesem Zeitpunkt auch in der Lagerhalle befindet. Aber wie hätte sie sie erkennen sollen? Sie hat sie ja nie bewusst gesehen, wusste ja nicht einmal, dass es sie gibt.
Als Emil Matulat von der Arbeit kommt, erzählt ihm seine völlig verzweifelte Frau, was passiert ist. Er eilt zum Stadthaus, dem Sitz der Gestapo, macht schließlich einen Verantwortlichen ausfindig – und kann ihn überzeugen, das Kind wieder rauszurücken.
Als ein Jahr später, am 18. April 1944, erneut Beamte an der Tür klopfen, kann Emil Matulat die Deportation nicht verhindern. Beim Abschied kommt es zu dramatischen Szenen. Jetzt erfährt Else, dass Auguste und Emil Matulat „nur“ Pflegeeltern sind. „Da, wo du jetzt hinkommst, siehst du deine richtige Mutter“, sagt Auguste Matulat, will das Kind auf diese Weise trösten. „Aber ich habe geschrien“, erinnert sich Else Baker heute. „,Ihr lügt!‘ hab ich gerufen und dass ich keine ,richtige‘ Mutter will.“
Kurz darauf sitzt sie in einem Viehwaggon und befindet sich auf einer nicht enden wollenden Reise. „Ich weiß noch, dass ich durch die Lücke von diesen schweren Schiebetüren geguckt habe. Ich kann mich erinnern, dass ich den Nachthimmel mit den Sternen sah. Ich dachte daran, dass meine Mutter, mein Vater und meine Schwestern die gleichen Sterne sehen können wie ich. Das hat mir Trost gegeben.“
Else erreicht im Viehwaggon Auschwitz, die Hölle auf Erden
Als der Zug endlich hält, ist da plötzlich großes Geschrei. „Männer in schwarzen Uniformen trieben uns an. Als ich aus dem Waggon sprang, fiel mein Koffer zu Boden, in den meine Eltern Zahnbürste, Waschlappen und Unterwäsche eingepackt hatten. Ich wollte die Sachen wieder zusammenpacken, doch die Uniformierten schrien nur: ,Lass liegen! Komm, komm!‘“
Sie ist in Auschwitz angekommen. In der Hölle auf Erden.
„Wir mussten uns nackt ausziehen“, erzählt Else. „Die Kleider mussten wir auf einen großen Haufen werfen. Nach dem Duschen fand ich meine Sachen nicht wieder. Irgendwann lagen nur noch wenige Kleidungsstücke da. Ich nahm mir einen durchlöcherten Schlüpfer und ein Sommerkleid, das viel zu groß war.“ Else Baker fängt heute noch an zu weinen, wenn sie daran denkt. „Das waren dann meine einzigen Kleider“, sagt sie schluchzend. „Ich hatte nicht mal Schuhe.“
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Else bekommt eine Nummer in den Arm tätowiert: Z 10540. Andere Gefangene erklären ihr, was das „Z“ bedeutet: Zigeuner. Aber was sind Zigeuner eigentlich? Sie hat keine Ahnung. „Ich war doch erst acht Jahre alt!“
Else erinnert sich bis heute mit Schaudern an die Baracke, in die sie gestoßen wurde. Furchtbar dunkel sei es darin gewesen. „Da waren Vier-Stock-Betten, in denen völlig abgemagerte Menschen mit ausdruckslosem Gesicht und kahl geschorenem Kopf lagen, die mich mit leerem Blick anstarrten. Ich hatte so was ja noch nie gesehen. Es war furchtbar.“
Else bekommt eine Nummer in den linken Unterarm tätowiert: Z 10540
Else entdeckt einen Schuppen, der randvoll ist mit Leichen. Andere sagen ihr, dass die alle verbrannt werden. Aber das glaubt sie nicht. „Man verbrennt Holz, aber doch keine Menschen“, denkt sie
Else hat Glück. Eine ältere Gefangene – sie heißt Wanda – nimmt sich ihrer an. Wanda ist Kapo, ein Funktionshäftling: Sie bewacht die übrigen Gefangenen und deshalb genießt sie Privilegien. Sie hat einen eigenen Verschlag, und da darf jetzt auch Else schlafen, auf einem Tisch, zugedeckt mit einem kleinen Teppich. Manchmal hat Wanda Lebensmittel, die andere Gefangene nicht bekommen.
In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wird das sogenannte „Zigeunerlager“ von Auschwitz aufgelöst. Das bedeutet: Knapp 3000 Roma und Sinti werden innerhalb kürzester Zeit vergast. Else sagt, sie habe nur deshalb überlebt, weil sie sich außerhalb der Baracke im hohen Gras versteckt hat. Über das, was sie in dieser Nacht gesehen hat, könne sie nicht reden, sagt sie. Immer noch nicht.
Sie selbst wird mit einer Gruppe weiterer Gefangener in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück nördlich von Berlin gebracht. Dort sei es noch furchtbarer als in Auschwitz gewesen. „Schon in der Frühe mussten wir Appell stehen“, so Else. „Oft wurde ich von den SS-Frauen geschlagen. Schlagen und Auspeitschen waren an der Tagesordnung. Die zwei Monate in Ravensbrück kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich glaube, viel länger hätte ich das nicht überlebt.“
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Emil Matulat hat seit der Deportation seiner Adoptivtochter keine Ruhe gegeben. Er, der die Behörden in Hamburg und in Berlin mit seinen Eingaben regelrecht bombardiert, stößt zunächst auf Unverständnis: „Es gibt so viele arische Kinder, die jetzt elternlos geworden sind – nehmen Sie sich doch einfach ein anderes“, so empfiehlt es ihm ein Beamter. Matulat reagiert mit großer Entrüstung: „Glauben Sie eigentlich, ich wechsele meine Kinder wie schmutzige Wäsche?“ Sein Kind sei die Else, und die Else wolle er zurück.
Im KZ Ravensbrück sind Schlagen und Auspeitschen an der Tagesordnung
Auch Matulats Tochter Ilse beteiligt sich an dem Kampf. Gemeinsam mit ihrem Vater wird sie bei der Gestapo im Hamburger Stadthaus vorstellig. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was hier abläuft, im Sinne unseres Führers ist“, wirft die junge Frau dem Beamten an den Kopf. „Und wenn doch, dann hasse ich ihn dafür.“ Daraufhin springt der Gestapo-Mann auf und droht ihr, dass andere schon für sehr viel weniger ins KZ gesteckt worden seien.
Nach einigem Hin und Her geschieht schließlich das Wunder: Im September 1944 erhält Emil Matulat ein Schreiben von Martin Bormann, dem Chef der Partei-Kanzlei der NSDAP: Matulat dürfe seine Tochter aus Ravensbrück abholen. Das Kind, das er am 27. September 1944 in Empfang nimmt, erkennt er allerdings kaum wieder. Else lacht nicht, weint nicht, zeigt keinerlei Gefühlsregungen. Wie eine „verschüchterte Mumie“ sei sie gewesen, so wird Emil Matulat es später in einem Wiedergutmachungsantrag formulieren.
Bevor sie gehen darf, muss Else noch schriftlich erklären, dass sie über alles, was sie in den Lagern gesehen hat, strengstes Stillschweigen bewahrt. Die erste Unterschrift ihres Lebens – sie hat sie im KZ Ravensbrück geleistet.
Nach sechsmonatiger Abwesenheit kehrt Else im Oktober 1944 in ihre alte Schulklasse zurück. Die Häftlingsnummer auf dem linken Unterarm deckt Auguste Matulat jeden Morgen mit einem Pflaster ab. Ihren Mitschülern erzählt Else, sie habe Verwandte im Harz besucht. Davon, dass sie im KZ war und was sie dort erlebte, erzählt sie nur ihrem Vater und auch das nur ein einziges Mal. Danach schweigt sie. Verdrängt alles. Für Jahrzehnte.
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Else macht in Groß Flottbek eine Friseurlehre, wandert 1963 nach England aus, wo sie einen Mann namens Baker heiratet und sich vom linken Unterarm ihre Häftlingsnummer entfernen lässt. Die Tätowierung ist weg, das Trauma bleibt. Else leidet zunehmend an Depressionen.
Irgendwann bricht sie endlich das Schweigen, nimmt Kontakt zum Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg auf, erzählt von ihrem Schicksal, gibt Interviews, hält Vorträge und stellt Nachforschungen an. Sie erfährt, dass ihre leibliche Mutter Elsa Schmidt – nachdem auch sie in Auschwitz und Ravensbrück war – vermutlich 1944 als Gefangene eines Außenlagers des KZ Buchenwald ums Leben kam. Die Umstände und der genaue Zeitpunkt ihres Todes sind ungeklärt.
Sie wandert nach England aus, aber das Trauma wird sie nicht los
Tot sind auch drei der vier leiblichen Geschwister Elses: Elisabeth, Dieter und Uwe – so hießen sie – wurden in Auschwitz vergast. Nur Rosemarie, die Jüngste, übersteht den Holocaust. Else macht sie in der Schweiz ausfindig und besucht 1995 gemeinsam mit ihr die Stätten des Grauens: Auschwitz und Ravensbrück.
Emil und Auguste Matulat – für Else Baker sind sie immer ihre richtigen Eltern gewesen. Bis heute hält sie Kontakt zu Nichten und Neffen, Großnichten und Großneffen. Zu allen wichtigen Familienanlässen ist sie eingeladen. Alle paar Jahre nimmt sie die Reise von England nach Hamburg auf sich. Zuletzt vor ein paar Tagen, als eine Beerdigung anstand.
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Heute wünschte sich Else Baker, sie hätte es früher geschafft, über Auschwitz und Ravensbrück zu sprechen. Denn als sie endlich so weit war, war Emil Matulat – er starb 1971, zwei Jahre nach seiner Frau – schon nicht mehr am Leben. „So habe ich ihm leider nie dafür gedankt“, sagt Else Baker, „dass er seine eigene Existenz riskiert hat, um mein Leben zu retten.“