Vor 40 Jahren aufgeflogen: Die dunkle Wahrheit hinter den Hitler-Tagebüchern
Geht es Ihnen auch so? Müssen Sie schmunzeln, wenn Sie an die „Hitler-Tagebücher“ denken? Haben Sie dann auch gleich die Szene aus dem Film „Schtonk“ vor Augen, in der die Beteiligten sich darüber den Kopf zerbrechen, warum statt A. H. auf den schwarzen Kladden die Initialen F. H. prangen? Führer Hitler? Führers Hund? Oder bedeutet das Monogramm vielleicht Führer Hauptquartier? Absurd und lustig zugleich. Ein echter Schenkelklopfer. Doch die Wahrheit dahinter ist alles andere als lustig, sie ist viel dunkler.
Geht es Ihnen auch so? Müssen Sie schmunzeln, wenn Sie an die „Hitler-Tagebücher“ denken? Haben Sie dann auch gleich die Szene aus dem Film „Schtonk“ vor Augen, in der die Beteiligten sich darüber den Kopf zerbrechen, warum statt A. H. auf den schwarzen Kladden die Initialen F. H. prangen? Führer Hitler? Führers Hund? Oder bedeutet das Monogramm vielleicht Führer Hauptquartier? Absurd und lustig zugleich. Ein echter Schenkelklopfer. Doch die Wahrheit dahinter ist alles andere als lustig, sie ist viel dunkler.
40 Jahre nachdem sich der Hamburger Zeitschriftenverlag Gruner + Jahr (G+J) und das Magazin „Stern“ mit den vermeintlichen Hitler-Tagebüchern bis auf die Knochen blamiert haben, kommt jetzt raus: So witzig, wie wir alle dachten, ist die Geschichte gar nicht. Ganz im Gegenteil.
Hier hat nicht nur ein dreister Fälscher einen Verlag um mehr als neun Millionen Mark betrogen. Nein, Konrad Kujau ging es gar nicht allein darum, Kasse zu machen. Vielmehr hatte er eine politische Mission. Die falschen Hitler-Tagebücher waren ein gezielter Versuch, den schlimmsten Verbrecher der Menschheitsgeschichte reinzuwaschen, ihn als netten Onkel darzustellen.

Rückblick: Frühjahr 1983. Die ganze Medien-Welt blickt auf den Hamburger Zeitschriften-Verlag Gruner + Jahr, der auf einen ungeheuren Schatz gestoßen zu sein scheint: Hitlers persönliche Aufzeichnungen. Am 25. April 1983 verkünden auf einer Pressekonferenz Chefredaktion und Verlagsleitung den sensationellen Fund. Drei Tage später, am 28. April, beginnt der „Stern“ mit der Veröffentlichung. 30 Folgen sind geplant. Doch dazu kommt es nicht. Denn schon nach wenigen Tagen fliegt er auf: der größte Medienskandal, den es je gegeben hat in der Bundesrepublik.
Vor 40 Jahren leistet sich G+J den größten Medienskandal der BRD-Geschichte
Der dreiste Fälscher Konrad Kujau und der Journalist Gerd Heidemann sind die Hauptfiguren in dieser unglaublichen und doch wahren Geschichte. Heidemann ist nicht nur „Starreporter“ des „Stern“, sondern hat einen ganz gehörigen Spleen: Er ist verrückt nach Nazi-Militaria, nach allem, was mit der NS-Zeit zu tun hat. Für viel Geld hat er sich die „Carin II“ angeschafft, die Motoryacht von Reichsmarschall Hermann Göring. Der Pott ist sein ganzer Stolz.
Aber weil Heidemann total verschuldet ist, will er sich von dem Kahn trennen und bietet ihn 1980 Fritz Stiefel zum Kauf an: der Industrielle teilt Heidemanns Leidenschaft, ist selbst Eigentümer einer riesigen Militaria-Sammlung. Doch das Treffen verläuft zunächst nicht so, wie Heidemann es sich erhofft hat: Stiefel hat kein Interesse an der „Carin II“. Aber zum Trost hat der Industrielle etwas im Gepäck, was den Reporter sofort elektrisiert: ein Tagebuch Hitlers. Einen Band. Es soll noch mehr geben. Heidemann glaubt an eine Sensation.

Stiefel erzählt, dass er die schwarze Kladde ein Jahr zuvor von einem Mann gekauft hat, der sich Konrad Fischer nennt. Nach dem Treffen mit Heidemann nimmt Stiefel wieder Kontakt zu Fischer auf, teilt ihm mit, dass der Journalist großes Interesse an weiteren Tagebüchern habe. Doch Fischer erbittet zunächst Bedenkzeit.
Heidemann geht die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Er weiht Thomas Walde, den damaligen Leiter des Ressorts Zeitgeschichte beim „Stern“, ein. Die beiden umgehen die Chefredaktion und wenden sich direkt an die G+J-Verlagsleitung, schließlich benötigen sie voraussichtlich einen Haufen Geld, um die restlichen Tagebücher zu beschaffen. Heidemann und Walde erhalten grünes Licht für das Geheimprojekt.
Gerd Heidemann findet in Börnersdorf bei Dresden das Grab eines Piloten
Inzwischen glaubt Heidemann in Erfahrung gebracht zu haben, was in den letzten Kriegstagen mit den Tagebüchern passiert ist. Am 23. April 1945 soll ein Flugzeug mit wichtigen persönlichen Unterlagen des „Führers“ in Berlin gestartet, dann aber bei Börnersdorf nahe Dresden abgestürzt sein. Gemeinsam mit Thomas Walde macht sich Heidemann auf den Weg in die DDR. Auf dem Friedhof der sächsischen Gemeinde finden sie schließlich die Gräber der verunglückten Flugzeuginsassen – sie werten dies als Beleg für die Wahrheit der Fundgeschichte und später auch als Beleg für die Echtheit der Tagebücher.

Im Januar 1981 ist der Mann, der sich Fischer nennt, endlich bereit, sich mit Heidemann zu treffen. Bei Fischer handelt es sich um Konrad Kujau. Er, der wegen Urkundenfälschung vorbestraft ist, baut die Geschichte vom abgestürzten Flugzeug, die Heidemann ihm erzählt, geschickt in sein Lügenmärchen ein. Er behauptet, dass es von den Hitler-Tagebüchern 27 Bände gibt und dass sein Bruder, angeblich ein DDR-General, dabei helfen werde, sie in den Westen zu schmuggeln.
Dass Kujau alias Fischer in den folgenden zwei Jahren 62 Bände liefert, also fast dreimal so viel wie angekündigt, macht unerklärlicherweise niemanden misstrauisch. Hinweise, dass es sich um Fälschungen handeln könnte, schlagen Heidemann und Walde in den Wind. Ein Zeitzeuge – SS-General Wilhelm Mohnke, der letzte Kampfkommandant der Reichskanzlei – weist auf gravierende sachliche Fehler in den Tagebüchern hin, aber Heidemann und Walde sind überzeugt, dass sich der Zeuge einfach nur irrt.
„Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen“
Im April 1983 will der „Stern“ dann doch sicher gehen, dass die Tagebücher echt sind und beauftragt den Züricher Kriminalwissenschaftler Dr. Frei-Sulzer mit einer Expertise. Nach einem Vergleich von Auszügen aus den Tagebüchern mit anderen (vermeintlichen) Hitler-Handschriften stellt der Schriftexperte fest: Die Handschriften stimmen überein. Was er nicht wissen kann: Auch das zum Vergleich herangezogene Dokument stammt von Fälscher Kujau.
„Die Geschichte des Dritten Reiches wird in großen Teilen neu geschrieben werden müssen“, verkündet der „Stern“ am 25. April 1983 und beginnt mit dem Abdruck der Tagebücher, die angeblich „ungewohnte Einblicke in das private Leben des Führers“ gestatten. Als sofort öffentlich Zweifel an der Echtheit angemeldet werden, beispielsweise durch den Kölner Historiker Andreas Hillgruber, sieht sich Gruner + Jahr gezwungen, eine chemisch-physikalische Echtheitsprüfung durchführen zu lassen.

Das Gutachten des Bundeskriminalamts und der Bundesanstalt für Materialforschung liegt am 6. Mai 1983 vor – und es blamiert die Verantwortlichen bis auf die Knochen: Nicht nur, dass die Tagebücher eklatante historische Fehler enthalten. Auch sonst stimmt nichts: das Papier stammt aus der Nachkriegszeit, die Polyester-Fäden, mit denen die Hefte gebunden sind, ebenfalls. Und die Tinte der meisten Dokumente ist nicht älter als zwei Jahre. Ebenso hätte es eigentlich von vornherein auffallen müssen, dass es sich bei dem Monogramm auf den Tagebüchern nicht um „A. H.“ für Adolf Hitler handelt, sondern um „F. H.“.
Kujau kriegt vier Jahre Knast, Reporter Heidemann sogar fast fünf Jahre
Dass damals die „Stern“-Chefredaktion geschlossen zurücktritt, sich „Stern“-Herausgeber Henri Nannen öffentlich entschuldigt, Reporter Heidemann zu vier Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt wird, Fälscher Kujau mit vier Jahren davonkommt und Gruner + Jahr lange braucht, um verlorene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen – all das ist bekannt und aus heutiger Sicht eher als nebensächlich zu betrachten.
Wirklich interessant ist eine andere Frage: Was genau steht nun eigentlich in den sogenannten Hitler-Tagebüchern? Was davon ist so gravierend, dass nach Meinung der damals Beteiligten die Geschichte des Dritten Reiches neu geschrieben werden müsste?

40 Jahre lang gab es auf diese Frage keine Antwort, denn nachdem Gruner + Jahr 1983 die Veröffentlichung der Tagebücher gestoppt hatte, ließ der Verlag die schwarzen Kladden im Archiv verschwinden. Ausnahme: Ein Band ging an das Haus der Geschichte in Bonn, einer an das Polizeimuseum Hamburg, ein weiterer wurde an eine anonyme Person versteigert.
NDR macht erstmals die kompletten falschen Tagebücher öffentlich
Inzwischen aber ist es einem Team des NDR gelungen, an Kopien heranzukommen. Die falschen Hitler-Tagebücher sind seit Februar 2023 in vollem Umfang veröffentlicht, und wer sich die Mühe macht, sie zu lesen, dem offenbaren sich die Motive des Fälschers schnell: So hat Kujau die Ermordung der europäischen Juden völlig ausgeklammert. Holocaust, Gaskammer, Vernichtungslager – alles das kommt mit keinem einzigen Wort vor. Stattdessen lässt Kujau „seinen Führer“ an etlichen Stellen darüber sinnieren, ob es nicht möglich wäre, die Juden umzusiedeln, ihnen eine neue Heimat zu verschaffen. Beispiele:
31. Juli 1941: Zu dieser Zeit ist der systematische Mord an Juden bereits in vollem Gange. Kujau aber legt seinem Hitler in den Mund, man solle die Juden zur schnellen Auswanderung bewegen oder ihnen „einen sicheren Landstrich in den besetzten Gebieten suchen, wo sie sich selbst ernähren und verwalten können.“
20. Januar 1942: Das ist der Tag, als auf der Wannseekonferenz die Vernichtung der Juden beschlossen wird. Der Fake-Hitler schreibt: „Erwarte die Meldungen der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen unbedingt einen Platz im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können.“
29. November 1942: „Wir kommen nicht weiter mit dem Judenproblem. Keiner will sie haben, selbst unbesiedeltes Gebiet stellt man uns für die Umsiedelung nicht zur Verfügung.“
In den Tagebüchern wird ein Hitler kreiert, der vom Holocaust nichts wusste

Für den Politikwissenschaftler Hajo Funke, der die falschen Hitler-Tagebücher analysiert hat, ist klar: Kujaus Fälschung stellt den systematischen Versuch dar, Hitler von sämtlichen Verbrechen reinzuwaschen. Hier wird ein Hitler kreiert, der vom Holocaust nichts weiß und der – nebenbei bemerkt – auch am Zweiten Weltkrieg unschuldig ist. Der, so wird dem Leser weisgemacht, wurde ihm von den Briten aufgezwungen…
Wer eigentlich war Konrad Kujau? Jedenfalls nicht der komische Vogel, der nach der Verbüßung seiner Strafe in etlichen Talkshows den lustigen Ganoven mimte und die Nation zum Lachen brachte. Heute wissen wir: Er hatte engste Verbindungen ins rechtsextremistische Milieu, hat sich selbst als Nazi bezeichnet. In seiner Stammkneipe hat er regelmäßig den Hitlergruß gezeigt, trug 1983, als er verhaftet wurde, einen SS-Ring am Finger.
Interessant auch, wer sein engster Freund war: kein Geringerer als Lothar Zaulich, Pressesprecher der Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA), eine gefährlich Neonazi-Gruppe, die den Holocaust leugnete.
Seltsam, dass all das 1983, als der Skandal um die Hitler-Tagebücher hohe Wellen schlug, nicht zur Sprache kam.
Fälscher Konrad Kujau hatte enge Verbindungen zu Rechtsextremisten
Heute wissen wir dank der NDR-Recherche, was in den Hitler-Tagebüchern stand: Geschichtsklitterung und viel blanker Unsinn. Umso erstaunlicher, dass die Verantwortlichen bei Gruner + Jahr und in der „Stern“-Redaktion vor 40 Jahren so sehr an die Authentizität der „Hitler-Tagebücher“ glaubten, dass sie keine Sekunde zögerten, sie zu veröffentlichen.
„Verstörend“ nennt Politikwissenschaftler Hajo Funke das. Es sei unglaublich, „dass die Fälschung erst durch die Untersuchung des verwendeten Papiers aufgeflogen ist – und nicht schon durch den Inhalt von Kujaus Machwerk. Die Lektüre hätte eigentlich genügen müssen, um massives Misstrauen auszulösen.“
P. S.: Am vergangenen Montag gab der Bertelsmann-Konzern bekannt, dass die gefälschten Hitler-Tagebücher im Laufe des Jahres an das Bundesarchiv übergeben und dort zugänglich gemacht werden. Bundesarchiv-Präsident Michael Hollmann sagte, die gefälschten Tagebücher zeigten einen „dreisten Versuch, den brutalen Verbrechen des Nationalsozialismus einen menschlichen Anstrich zu geben, der in den 1980er-Jahren in der Gesellschaft auf Resonanz traf“. Die Dokumente sollen am Standort Koblenz auf Dauer aufbewahrt und im Rahmen des gesetzlichen Auftrags zugänglich gemacht werden.