Hamburger Todeswinter: Ruinen, Hunger, „Bunkermenschen“ – und ein Serienmörder
„Wenn man auf Rekorde erpicht ist, wenn man Experte für Ruinen werden will, wenn man sich ein Musterbeispiel für alles wünscht, was eine ausradierte Stadt an Ruinen zu bieten haben kann, wenn man eine ganze Ruinenlandschaft sehen möchte, öder als eine Wüste, wilder als ein Gebirge und so phantastisch wie ein Angsttraum, erfüllt vielleicht nur eine Stadt alle Voraussetzungen – Hamburg.“
Das schreibt Stig Dagerman, ein 23-jähriger schwedischer Journalist, als er im Spätherbst 1946 im Auftrag der Zeitung „Expressen“ eine Recherche-Reise nach Deutschland unternimmt. Stig Dagerman ist entsetzt. Apokalyptische Zerstörungen wie in Hamburg hat er noch nie gesehen.
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„Wenn man auf Rekorde erpicht ist, wenn man Experte für Ruinen werden will, wenn man sich ein Musterbeispiel für alles wünscht, was eine ausradierte Stadt an Ruinen zu bieten haben kann, wenn man eine ganze Ruinenlandschaft sehen möchte, öder als eine Wüste, wilder als ein Gebirge und so phantastisch wie ein Angsttraum, erfüllt vielleicht nur eine Stadt alle Voraussetzungen – Hamburg.“
Das schreibt Stig Dagerman, ein 23-jähriger schwedischer Journalist, als er im Spätherbst 1946 im Auftrag der Zeitung „Expressen“ eine Recherche-Reise nach Deutschland unternimmt. Stig Dagerman ist entsetzt. Apokalyptische Zerstörungen wie in Hamburg hat er noch nie gesehen. „Rostige Eisenträger ragen wie die Steven vor langer Zeit gesunkener Schiffe aus den Schutthaufen“, schreibt er. „Meterschmale Säulen, die ein künstlerisches Schicksal aus eingestürzten Häuserblocks herausgeschnitten hat, erheben sich aus weißen Haufen zerbrochener Badewannen oder grauen Haufen aus Stein, zerbröselten Ziegeln und kaputtgebratenen Heizkörpern.“
Hamburg ist im Winter 1946/46 eine Trümmerwüste
Dagerman sitzt in der Vorortbahn, fährt vom Bahnhof Hasselbrook bis zur Station Landwehr – und sieht aus dem Fenster ununterbrochen „auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel, einsame Hauswände, die mit ihren leeren Fensterlöchern wie aufgerissene Augen auf die Züge hinabstarren“.
Dagerman steigt aus und geht eine Weile „auf den früheren Bürgersteigen der früheren Straßen. Wir schauen durch gähnende Löcher in zerstörte Häuser hinein. Wir bleiben vor Häusern stehen, deren Außenwand weggerissen wurde wie in einem dieser populären Dramen, bei denen der Zuschauer das Leben auf mehreren Etagen gleichzeitig verfolgen kann.“
Dagerman entdeckt sogar Leben in diesem lebensfeindlichen Chaos. „Die Häuser sind eingestürzt, aber die Kellerdecken haben gehalten, was für Hunderte ausgebombter Familien ein Dach über dem Kopf bedeutet. Wir schauen durch die kleinen Fester in die kleinen Zimmer mit nackten Zementwänden, mit Ofen, Bett, Tisch und bestens einem Stuhl hinein. Auf dem Fußboden sitzen Kinder und spielen mit einem Stein, auf dem Ofen steht ein Topf.“
Im Juli und August 1943 haben alliierte Bomber an Hamburg Rache für das genommen, was die deutsche Luftwaffe zuvor im englischen Coventry und im spanischen Guernica angerichtet hat. Kein Luftangriff in der Geschichte war so verheerend wie der auf die Hansestadt: Ganze Viertel sind im Feuersturm untergegangen, etwa 40.000 Menschen ums Leben gekommen – wie viele genau, weiß niemand.
Wer nichts hat, was er auf dem Schwarzmarkt eintauschen kann, muss sterben
Jetzt, im Herbst 1946, ist der Krieg zwar bereits mehr als ein Jahr vorbei – aber die Trümmer sind noch lange nicht fort. Die Bevölkerung leidet fast noch schlimmer als zu Kriegszeiten. Nahrungsmittel sind äußerst knapp. Wer nicht irgendwas besitzt, was er auf dem Schwarzmarkt gegen einen Laib Brot eintauschen kann, ein Pfund Butter, etwas Kaffee, der muss verhungern.
Genauso knapp wie Essen ist Wohnraum. Güterwaggonweise kommen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten am Bahnhof an. Sogenannte Butenhamburger drängen in die Stadt, die sich während des Krieges aus Angst vor weiteren Luftangriffen auf dem Land in Sicherheit gebracht haben. Nun wollen sie zurück in ihre Heimat.
Wohin nur mit all diesen Menschen?
Die Hierarchie in Hamburgs Nachkriegsgesellschaft sieht so aus: An der Spitze stehen diejenigen, die so viel Dusel hatten, dass ihr Haus nicht zerstört wurde. Sie müssen zwar ein bisschen zusammenrücken, weil der Staat Flüchtlinge bei ihnen einquartiert, aber immerhin haben sie ein menschenwürdiges Heim.
Eine Stufe tiefer: die Zigtausenden, die in Ruinen hausen, in Kellern oder in Notunterkünften, die sich Nissenhütten nennen. Benannt sind sie nach dem kanadischen Offizier und Ingenieur Peter Norman Nissen, der sie erfunden hat. Die meisten Hamburger glauben jedoch, der Name rühre von den Nissen her, also den Eiern von Läusen. Und so ist das Vorurteil sehr verbreitet, dass die Menschen, die darin leben, schmutzig sind.
Ganz unten in der Hierarchie: die armen Teufel, die in ausgedienten Luftschutzbunkern Zuflucht gefunden haben, hinter zwei Meter dicken Betonwänden. Ohne Licht, ohne Luft. Ohne Aussicht – und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Ganz unten in der Hierarchie der Nachkriegsgesellschaft: die Bunkermenschen
„Bunkermenschen“, so hat der Journalist Josef Müller-Marein seine 1947 erschienene Reportage überschrieben, in der er die Menschen porträtiert, die dort leben. „An einer Bretterwand hängen Mäntel, Kleider, leere Rucksäcke; an der Außenmauer rinnt das Wasser“, so Müller-Marein. „Fenster sind nicht vorhanden, und die Luft ist so dick, dass man glaubt, man könne sie in Scheiben schneiden.“
„Man wird weitersehen“, so lautet der am häufigsten gesprochene Satz im Bunker. „Sie haben diesen Satz gesagt, als sie hier eintraten; sie haben den Bunker mit seinen harten Holzbänken, die statt der Betten als Lagerstatt dienen, mit seiner dumpfen Luft und seiner Dunkelheit als ein Provisorium hingenommen und sind dann darin steckengeblieben. Sie kamen, ein wenig auszuruhen, und blieben, um zu dulden.“
Tagsüber sind die Bunkerleute unterwegs, solange das Schuhwerk hält. Im Vorübergehen schauen sie sehnsüchtig in erleuchtete Fenster. Sie sehen einen Tisch, ein Bücherregal, ein Stück Tapete. Sie sehen ein paar Quadratmeter freien Raum, einen Flecken, auf dem sich keine Menschen drängen. „Und sie haben dabei“, so Müller-Marein, „ein würgendes Gefühl von Hungernden, die an einem gefüllten Bäckerladen vorüberkommen.“
Hamburg zum Jahreswechsel 1946/47: ein trister, grauer Ort. Da ist gar nichts, was Freude macht. Alle hoffen, dass wenigstens der kommende Winter mild wird. Frost, das ist das Letzte, was Hamburg jetzt gebrauchen kann.
Tänzerin Helga Bischoff: „Die Zuschauer brachten Eintritts-Briketts mit in die Vorstellung“
Und was kommt? Der kälteste Winter seit Menschengedenken. Mitte Dezember 1946 geht es mit Temperaturen von minus zehn Grad los. Um Weihnachten herum setzt zwar Tauwetter ein, aber wer hofft, dass das Schlimmste damit vorüber ist, sieht sich getäuscht: Im Januar gehen die Temperaturen wieder tüchtig in den Keller. Von der zweiten Januarhälfte an bis weit in den Februar herrscht Dauerfrost von minus 20 Grad – und kälter. Den tiefsten Wert erreichen die Temperaturen am 25. Februar 1947 mit minus 25 Grad.
Die Hamburgerin Helga Bischoff, damals 20 Jahre alt, ist Tänzerin am Flora-Theater im Schanzenviertel. Ihr fröstelt heute noch, wenn sie an die Temperaturen im Zuschauerraum denkt. „Es war bitterkalt. Wir hatten ja so gut wie kein Brennmaterial. Es gab einfach nix! Deshalb zahlten unsere Zuschauer damals auch nicht mit Geld, sondern mit einem Eintritts-Brikett. Und nach Ende der Vorstellung wurden wir vom Publikum nicht etwa mit Blumen beschenkt, sondern mit Butter, Käse und Brot. Darüber waren wir glücklich, kann ich Ihnen sagen!“
Die Kälte ist so ungeheuerlich, dass der Warenverkehr zusammenbricht. Der Frost lässt die Flüsse gefrieren, sodass an einen Transport auf dem Wasserweg nicht zu denken ist. Straßen und Schienennetz sind wegen der Kriegsschäden und der enormen Schneemassen ebenfalls nur schwer passierbar. Nur wenige funktionstüchtige Lokomotiven stehen der Reichsbahn zur Verfügung. Die Folge: Die Kohle aus dem Ruhrgebiet trifft verspätet ein.
Oder sie trifft gar nicht ein. Manche Züge sind besenrein, wenn sie ankommen. Denn die Kohlendiebe haben sich schon alles geholt.
Ralf Zander hat später als Polizeibeamter Karriere gemacht – damals aber lungert er als Zehnjähriger nachts am Rangierberg in Rothenburgsort herum und wartet auf die Güterzüge. Wenn einer rückwärts den Rangierberg runterrollt, dann ist der Moment gekommen: Ralf Zander schwingt sich mit der Behändigkeit eines Affen den Waggon hoch, um seinen Sack mit Kohlen zu füllen.
Ralf Zander wurde als Zehnjähriger zum Meisterdieb
Ralf Zander wird zum Meisterdieb: „Nach und nach schärften sich meine Sinne. Ich konnte schnuppern, ob sich auf einem Waggon Briketts, Bunkerkohle, Nusskohle, Koks oder Schmiedekohle befand. Gefahren witterte ich schneller als andere. Großen Respekt hatte ich vor den ,Rotkäppis‘, den britischen Militärpolizisten, die mit wendigen Jeeps heransausten und ungeniert von der Schusswaffe Gebrauch machten. Einmal als wir einen Waggon mit Schuhsohlengummi knackten, passierte es: Als wir flüchteten, ballerten sie hinter uns her. Wir hatten Glück, keiner wurde getroffen. Mit meinem Anteil konnten zu Hause mehrere Paar Schuhe besohlt werden.“
Der Mangel an Kohle gefährdet die Stromversorgung der Stadt, denn ohne das schwarze Gold können die Elektrizitätswerke keinen Strom erzeugen. S-Bahn- und Straßenbahn-Betrieb werden eingeschränkt. Um Energie zu sparen, müssen 700 Firmen den Betrieb einstellen, Schulen werden geschlossen, Gaststätten dürfen nur bis 19 Uhr öffnen. 37.000 Bürger sind „stromarbeitslos“ – und damit ohne Erwerb. Die Menschen verfeuern ihr Mobiliar, fällen die Bäume in den Grünanlagen, machen Parkbänke zu Kleinholz, um nicht zu erfrieren.
Zeitzeugin Ursula Loest wohnt damals in einem Behelfsheim an der Flughafenstraße, und es ist so kalt, dass die Wände von innen vor lauter Eiskristallen nur so glitzern. „Wir hatten Hunger, Hunger, jeden Tag Hunger. Immer kreisten unsere Gedanken um die eine Frage: Woher bekomme ich heute was zu essen?“
Diese beiden heirateten in dem furchtbaren Winter 1946/47
Mitten in diesem schlimmen Winter, am 28. Dezember 1946, heiratet sie ihre große Liebe: den Maurer Heinz Loest, der sich immer was einfallen lässt, um sich und seine Frau am Leben zu erhalten. „Einmal hatte er in einem Schneiderei-Betrieb zu tun und sah ein Paket grünes Nähgarn herumstehen“, erzählt sie. „Das hat er dann mitgehen lassen und auf dem Schwarzmarkt verkauft. Ein anderes Mal war er für eine Drogerie tätig. Da hat er so viel Seife, wie er konnte, in seinen Eimer gepackt, Sand drübergeschaufelt und ist getürmt. So war das damals. Die Sitten waren roh. Wer überleben wollte, wurde zum Dieb.“
Und mancher wird gar zum Mörder: Als hielte die Todeskälte nicht auch so genügend Schrecken bereit, versetzt im Winter 1946/47 ein Serientäter die Stadt in Panik.
Am Nachmittag des 20. Januar spielt ein Junge namens Kurt in den Ruinen einer zerbombten Akkumulatorenfabrik in der Nähe des S-Bahnhofs Landwehr – bis ihm der Schreck in die Glieder fährt. Der Buttje stolpert über eine Leiche: eine schlanke, mittelblonde Frau mit halblangen Haaren und blauen Augen, etwa 18 bis 22 Jahre alt. Offenbar wurde sie mit einer Schnur erdrosselt. Die Frau ist nackt. Es ist nichts an ihr, wodurch sie identifizierbar wäre.
Der Trümmermörder legt seine Leichen stets auf Trümmergrundstücken ab
Wäre es bei dieser einen Leiche geblieben, würden wir 75 Jahre später nicht weiter darüber reden. Aber in den folgenden drei Wochen werden drei weitere Tote gefunden: ein älterer Mann, ein kleines Mädchen und eine 35- bis 40-jährige Frau. Die Mordopfer sind vom Täter an weit auseinanderliegenden Orten in der Stadt abgelegt worden, aber immer in Ruinen. Und immer sind sie nackt. Hinweise, die auf ihre Identität schließen lassen, finden sich nicht.
Jetzt leiden die Hamburger nicht nur unter Kälte und Hunger, sondern auch noch unter der Angst, zum nächsten Opfer des Killers zu werden. Der dringende Rat der Polizei lautet: Bloß nicht zu dicht an Trümmergrundstücken vorbeigehen! Wer weiß, wer da plötzlich auftaucht und einem die Schlinge um den Hals legt!
Der Täter muss so schnell wie möglich gefunden werden, das ist Oberkommissar Ingwersen, der die Ermittlungen leitet, klar. Er lässt 60.000 Plakate mit den Gesichtern der Toten drucken. Und die Staatsanwaltschaft setzt eine Belohnung in Höhe von 5000 Reichsmark und 1000 Zigaretten aus. Das ist damals ein Vermögen. Wenn jemand was weiß, dann wird er kaum widerstehen können – da ist sich Ingwersen sicher.
Aber nichts. Es kommen keine brauchbaren Hinweise. Noch jahrelang wird ermittelt – ohne Erfolg. Nicht nur dass der Täter nie gefasst wird. Bis heute ist nicht mal bekannt, wer die vier Opfer waren. Eine äußerst mysteriöse Geschichte. Irgendwie passend zu diesem furchtbaren Jahreswechsel.
Nach drei Monaten Frost glauben die Hamburger schon fast daran, dass nie mehr Frühling wird. Dann endlich, am 19. März 1947, sinkt das Thermometer erstmals nicht unter null. Der Hungerwinter ist überstanden. Ihm zum Opfer gefallen sind bis dahin offiziell 85 Menschen. Tatsächlich aber sind es wohl mehrere Hundert gewesen, denn nur Erfrorene werden von der Statistik erfasst, nicht Verhungerte und Menschen, die an kältebedingten Krankheiten gestorben sind.
„Wir sind noch einmal davongekommen“, dieses Stück von Thornton Wilder ist das erste, das die Kammerspiele nach Ende dieses unvergesslichen Winters aufführen. Es ist kein Zufall, dass die Wahl auf dieses Schauspiel fällt.
PS: Im Sommer 1947 hat der Katastrophenwinter noch ein Nachspiel: Staatsoper, Schauspielhaus und Thalia-Theater geben ein mehrtägiges Gastspiel in Recklinghausen. Auf diese Weise sagen Hamburgs Bühnen Danke – dafür, dass die Recklinghauser „Zeche Ludwig“ sie während des Winters an der alliierten Militärregierung vorbei heimlich mit Kohlen beliefert hat. Eigentlich ist an ein einmaliges Gastspiel gedacht. Doch daraus entwickeln sich die „Ruhrfestspiele“, das größte Theaterfestival Europas.
Unser Literaturtipp: „Deutscher Herbst“ von Stig Dagerman, Guggolz-Verlag, Berlin 2021, 22 Euro