Tatort Scheideweg 35 in Hamburg: Das Drama der Familie Wächter
Stellen Sie sich vor, Sie sind in Schweden groß geworden. Von den Verbrechen der Nazis in Deutschland haben Sie zwar im Schulunterricht gehört, aber es ist die Geschichte eines fremden Landes. Was geht Sie das an? Dann stirbt Ihr Vater. Sie beschäftigen sich mit seinem Nachlass – und sind erschrocken, ja, entsetzt, als Sie feststellen, dass Ihr alter Herr gar nicht der war, für den Sie ihn gehalten haben. Dass er Jude war und im KZ saß. Davon hat er nie erzählt. Auch nicht von seinen Eltern und von deren grauenvollem Tod in einer Grube in einem Wald bei Riga. Genickschuss. Ende.
- Deutsch (Deutschland)
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Stellen Sie sich vor, Sie sind in Schweden groß geworden. Von den Verbrechen der Nazis in Deutschland haben Sie zwar im Schulunterricht gehört, aber es ist die Geschichte eines fremden Landes. Was geht Sie das an? Dann stirbt Ihr Vater. Sie beschäftigen sich mit seinem Nachlass – und sind erschrocken, ja, entsetzt, als Sie feststellen, dass Ihr alter Herr gar nicht der war, für den Sie ihn gehalten haben. Dass er Jude war und im KZ saß. Davon hat er nie erzählt. Auch nicht von seinen Eltern und von deren grauenvollem Tod in einer Grube in einem Wald bei Riga. Genickschuss. Ende.
„Meines Vaters Heimat – Was er mir nie erzählte“, so lautet der Titel eines Romans des schwedischen Autors Torkel S Wächter (61). Ein spannendes Buch, das niemand mehr weglegt, der einmal angefangen hat, darin zu lesen. Ein sehr bewegendes, berührendes Werk, denn auch wenn es sich um einen Roman handelt – die Story ist wahr. Torkel S Wächter erzählt darin seine eigene Geschichte. Und die seines Vaters und seiner Großeltern.
Am 6. Dezember 1941 beginnt die Reise ohne Wiederkehr
Sie spielt hier: in Hamburg. Hoheluft-West. Und zwar am Scheideweg. Wer sich in der Straße umsieht, wird feststellen, dass links und rechts nur Nachkriegsbauten stehen. Die alliierten Bomben haben 1943 ganze Arbeit geleistet. Fast nur dieses eine Gelbklinkerhaus mit den stuckverzierten Fensterumrandungen hat die Zeit überdauert: die Nummer 35. Es ist der Schauplatz einer Nazi-Barbarei. Am 6. Dezember 1941 werden Minna und Gustav Wächter, die hier lebten, deportiert. Eine Reise ohne Wiederkehr.
Minna Wächter, geborene Sonnenberg, kommt 1881 in Hamburg zur Welt, ist Nachfahrin sogenannter Sepharden – das sind Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Portugal und Spanien vertrieben worden sind und sich in Deutschland niederließen. Minna ist Torkel S Wächters Großmutter.
Gustav Wächter, sein Opa, wird 1875 als Spross einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, die mindestens seit dem 18. Jahrhundert in Hamburg ansässig ist.
Minna und Gustav heiraten am 22. Dezember 1901. Gustav legt die Prüfung für den mittleren Verwaltungsdienst ab, wird 1921 zum Obersteuerinspektor befördert – was gemessen an seiner Vorbildung eine steile Karriere ist. Er ist ein national gesinnter Mann, ein typisch deutscher Beamter, der auf Gründlichkeit, Pünktlichkeit und Loyalität Wert legt.
Minna und Gustav bekommen drei Söhne: John 1902, Max 1904. Der Nachzügler Walter wird 1913 geboren. Die Ausbildung ihrer Kinder nehmen die Eltern sehr ernst. Sie selbst haben nicht studieren können und wollen, dass es die Jungs mal leichter haben im Leben.
Die Wächters: Eine ganz normale deutsch-jüdische Familie in Hamburg
Gustav ist ein liebevoller Vater. Er schlägt seine Kinder nicht. Nicht einmal Hausarrest brummt er ihnen auf. Böse wird er nur, wenn einer seiner Söhne – meistens ist es Walter – schlechte Noten mit nach Hause bringt. Die Strafe besteht dann darin, dass er tagelang nicht mit dem Betreffenden redet.
Im Sommer verbringt Familie Wächter viel Zeit in Bispingen in der Lüneburger Heide, wo sie sich mit Verwandten und Freunden treffen. Zu Hause hält Familie Wächter regelmäßig einen Salon ab: Lustige Abende sind das mit Vorträgen, Klavier- und Geigenkonzerten, Sketchen und kleinen Theaterstücken, aufgeführt von den drei Brüdern und ihren Freunden.
Für Max wird das Theater zum Beruf. Er geht nach Berlin, fasst Fuß beim Film. John, der älteste Sohn, schlägt genau wie Gustav eine Beamtenlaufbahn ein. Und Walter, der Jüngste, der ein guter Sportler ist und in der HSV-Jugend und später in dem Arbeitersportverein Fichte (heute Grün-Weiß Eimsbüttel) Fußball spielt, steht gerade im Begriff, ein Universitätsstudium aufzunehmen. Das ganz normale Leben einer deutsch-jüdischen Familie in Hamburg also.
Doch mit der Machtübernahme Adolf Hitlers ändert sich das Leben der Wächters 1933 grundlegend. Vater Gustav Wächter wird von der Nationalsozialistischen Beamtengemeinschaft angezeigt: Er sei ein „reinrassiger Jude“, so der Vorwurf, stehe der „nationalen Erhebung verständnislos gegenüber“ und indem er am Arbeitsplatz „marxistische Propaganda“ betreibe, arbeite er aktiv „gegen das neue Deutschland“. Ein Verfahren beginnt, an dessen Ende Gustav Wächter aus dem Beamtenverhältnis entlassen wird. Er kann es nicht fassen.
Auch alle anderen Familienmitglieder verlieren ihre Arbeit. Sohn Max, der Schauspieler, bekommt als Jude keine Rollen, keine Engagements mehr. Er muss mit seiner Ehefrau Dora nach Hamburg zurückkehren, kann nur noch auf Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes auftreten und emigriert im Sommer 1938 nach Buenos Aires.
Mit Hitlers Machtübernahme 1933 ändert sich für die Wächters alles
John, der aktives Mitglied der SPD ist, wird verhaftet, ist in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert, überlebt aber und kann 1939 mit seiner Frau Else nach São Paulo fliehen. In Brasilien beginnt er ein neues Leben.
Und Walter, der Jüngste? Ihn holt 1935 die Gestapo, weil rauskommt, dass er Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) ist und Flugblätter gegen die Nazis verteilt hat. Monatelang ist er im Konzentrationslager Fuhlsbüttel (Kola-Fu) eingesperrt, wird abwechselnd verhört und gefoltert und schließlich 1936 vom Hanseatischen Oberlandesgericht wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ und „Beteiligung am kommunistischen Widerstand“ zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Als er die Zeit abgesessen hat, bekommt er von der Gestapo eine Frist von 14 Tagen, um das Land zu verlassen. Walter schließt sich der zionistischen Jugendorganisation Hechaluz an, die junge Menschen auf ein Leben in Palästina vorbereitet. Er geht zunächst nach Italien, wo er in einem Hechaluz-Camp eine landwirtschaftliche Ausbildung erhält.
Im Spätsommer 1938 müssen die Mitglieder des Camps das faschistische Land überstürzt verlassen. Eine Odyssee quer durch Europa beginnt: erst nach Kroatien, dann nach Ungarn. In Budapest wird Walter Wächter verhaftet und in einen Zug nach Deutschland gesetzt, wo er sich – die Nazi-Behörden haben ihm als ehemals politischem Gefangenen die Rückkehr in die Heimat untersagt – gar nicht aufhalten darf. Lebensgefahr! In Hamburg bekommt er am 9. November 1938 die Pogrome gegen jüdische Geschäfte und Synagogen mit. Schließlich gelingt ihm die Flucht nach Schweden.
Die drei Söhne können fliehen, aber die Eltern werden ermordet
Während es die drei Söhne schaffen, sich in der Fremde ein neues Leben aufzubauen, sind Minna und Gustav Wächter dem nationalsozialistischen Rassenwahn schutzlos ausgeliefert. Am 6. Dezember 1941 werden sie gemeinsam mit 800 anderen Juden – darunter auch der berühmte Oberrabbiner Joseph Carlebach und seine Familie – deportiert. Alle Angehörigen des Transports glauben, die Reise gehe nach Riga, wo nach der Besetzung durch die Wehrmacht ein jüdisches Ghetto eingerichtet worden ist. Tatsächlich endet die Zugfahrt aber in Skirotava, einem kleinen Verladebahnhof, der etwa zwölf Kilometer von der lettischen Hauptstadt entfernt liegt. Von dort müssen die Verschleppten zu dem bereits überfüllten Arbeitslager „Jungfernhof“ marschieren.
Dieses Lager ist die Hölle auf Erden. Es handelt es sich um ein ehemaliges Staatsgut, das für die Aufnahme von mehreren tausend Menschen völlig ungeeignet ist. „Es gab keine Türen, keinen Ofen, die Fenster waren offen, das Dach nicht in Ordnung. Es waren 45 Grad Kälte und der Schnee fegte durch die Scheune“, erinnert sich ein Überlebender.
Auf dem Gut müssen die Gefangenen Schwerstarbeit in der Landwirtschaft leisten. Wer dazu körperlich nicht in der Lage ist, wird von der SS aussortiert: Im März 1943 kommt es zur sogenannten „Aktion Dünamünde“. Dabei handelt es sich um ein perfides Täuschungsmanöver. Die Häftlinge werden in dem Glauben gelassen, sie würden in ein neues besseres Lager verlegt. Mit Bussen und Lkw werden die Menschen stattdessen in den Wald von Bikernieki bei Riga verfrachtet und in bereits ausgehobene Gruben getrieben. Sogleich eröffnet ein Erschießungskommando das Feuer. An einem einzigen Tag werden 1800 Häftlinge aus dem KZ Jungfernhof kaltblütig ermordet.
Neuanfang in Schweden: Aus Walter Wächter wird Michaël Wächter
Davon, wie seine Eltern gestorben sind, erfährt Walter Wächter erst nach dem Krieg. In seiner neuen Heimat Schweden zieht er einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben. Er nimmt den Namen Michaël an, studiert Psychologie, wird Hochschuldozent, gründet seine eigene Beratungsfirma, arbeitet für das Militärpsychologische Institut der schwedischen Armee, schreibt etliche Bücher und rund 1000 Artikel für diverse schwedische Zeitungen und Magazine. Er ist ein bekannter Mann in Schweden.
Insgeheim sehnt sich Michaël Wächter nach Deutschland, besucht Hamburg immer mal wieder, nimmt zweimal sogar seinen Sohn Torkel mit. Aber er vermeidet es, über sein früheres Leben zu sprechen. Auf Nachfragen reagiert er gereizt. Er erzählt nichts von seiner Vergangenheit. Als er 1983 stirbt, nimmt er sein Geheimnis mit ins Grab.
Damit hätte die Geschichte zu Ende sein können. Doch dann steigt Torkel S Wächter 17 Jahre nach dem Tod seines Vaters auf den Dachboden und taucht ein in den Nachlass seines Vaters. Er wischt den dicken Staub von den Kartons, kramt in den Unterlagen und stößt auf Briefe, die ein gewisser Walter Wächter 1935 aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel an Eltern und Geliebte geschrieben hat.
Wer ist dieser Mann, der – das geht aus den Unterlagen hervor – das gleiche Geburtsdatum hat wie Michaël Wächter?
Erst denkt Torkel, dass es sich womöglich um einen Zwillingsbruder handeln könnte. Bis ihm aufgeht: Walter und Michaël – das sind ein und dieselbe Person.
Von da an lässt Torkel S Wächter nicht mehr locker. Zwei Jahrzehnte lang widmet er sich der Aufgabe, der Geschichte seines Vaters, seiner Familie nachzugehen. Eine schmerzhafte Suche nach der Wahrheit beginnt, nach der eigenen Identität.
Torkel S Wächter recherchiert 20 Jahre lang die Geschichte seiner Familie
Um die Briefe seines Vaters lesen zu können, lernt er die deutsche Sprache. Er bereist auf den Spuren seiner Familie vier Kontinente, lässt sich von einem Rabbiner ins Judentum einweisen, besucht die Synagoge. Und natürlich kommt er immer wieder nach Hamburg: Mitarbeiter der KZ Gedenkstätte Neuengamme unterstützen ihn bei der Recherche. Mitglieder eines Sütterlin-Arbeitskreises helfen ihm, die Handschrift seines Vaters und seiner Großeltern zu entziffern.
Als Torkel S Wächter das Geheimnis seiner Familie entschlüsselt hat, setzt er sich hin und schreibt alles auf. All das, was sein Vater ihm nie erzählt hat. Drei Bücher entstehen. Der Roman „Meines Vaters Heimat – Was er mir nie erzählte“ ist der Höhepunkt.
2006 nimmt Torkel S Wächter die deutsche Staatsbürgerschaft, die die Nazis seinen Großeltern aberkannten, zusätzlich zur schwedischen an. Seine Kinder genauso. Eine Geste. Ein Zeichen. „Um zu dokumentieren“, so sagt er, „dass die Nazis ihr Ziel, diese deutsch-jüdische Familie auszulöschen, nicht erreicht haben. Die Geschichte der Familie Wächter, sie endet nicht 1941 mit der Deportation nach Riga. Sie geht weiter.“
Sie können Torkel S Wächter kennenlernen – er ist zurzeit in Hamburg auf Lesereise
Torkel S Wächter hält sich derzeit in Hamburg auf. Er ist auf Lesereise in der Hansestadt. Sie können ihn hier live erleben:
Mittwoch, 20. April, 19.30 Uhr: Veranstalter: Stadtteilzentrum Rahlstedt, Ort: Gymnasium Rahlstedt. Hauptgebäude (Atrium), Zugang: Doberaner Weg (ehemals Heestweg).
Donnerstag, 21. April, 19.30 Uhr: Veranstalter: Geschichtswerkstatt Billstedt, Ort: Mehrgenerationenhaus der Kirchengemeinde Schiffbek, Öjendorf, Merkenstraße 4
Freitag, 22. April, 19 Uhr: Veranstalter: Ledigenheim Kleiner Michel, Ort: Michaelisstraße 5.