Der „Engel von Hamburg“: Aracy rettete zahllosen Menschen das Leben
In Brasilien kennt ihren Namen jedes Kind: Aracy de Carvalho gilt dort als Heldin. Die brasilianische Post ehrte sie 2019 mit einer Sonderbriefmarke. In Israel wurde sie 1982 zur „Gerechten unter den Völkern“ ernannt – ein Titel, den die Gedenkstätte Yad Vashem solchen Personen verleiht, die während des Holocaust verfolgten Juden halfen. Merkwürdig, dass ausgerechnet in Deutschland über die Geschichte des „Engels von Hamburg“ bisher kaum berichtet wurde. Das wird sich jetzt ändern.
In Brasilien kennt ihren Namen jedes Kind: Aracy de Carvalho gilt dort als Heldin. Die brasilianische Post ehrte sie 2019 mit einer Sonderbriefmarke. In Israel wurde sie 1982 zur „Gerechten unter den Völkern“ ernannt – ein Titel, den die Gedenkstätte Yad Vashem solchen Personen verleiht, die während des Holocaust verfolgten Juden halfen. Merkwürdig, dass ausgerechnet in Deutschland über die Geschichte des „Engels von Hamburg“ bisher kaum berichtet wurde. Das wird sich jetzt ändern.
Denn am Donnerstag, 8. Juni, strahlt Arte einen 90-minütigen Film aus. Autorin und Regisseurin Gabriele Rose hat Spielszenen und Interviews geschickt zu einem spannenden Dokudrama verwoben. Es geht um die Geschichte einer Frau, die sich ihre Menschlichkeit bewahrte in Zeiten höchster Unmenschlichkeit, die große Risiken auf sich nahm, um das Leben anderer zu retten – und sich selbst nie als Heldin sah.
Aracy de Carvalho wird 1908 in Rio Negro in Brasilien geboren. Ihr Vater ist ein erfolgreicher portugiesischer Geschäftsmann, ihre Mutter stammt aus Deutschland. Aracy, die einzige Tochter, genießt als Kind ein wohlbehütetes Leben in Wohlstand.
Aracy de Carvalho bewahrte sich ihre Menschlichkeit in Zeiten größter Unmenschlichkeit

Mit 18 Jahren heiratet sie den Deutschen Johann Tess, doch die Ehe scheitert und Aracy will ihren Mann verlassen. Aber eine Scheidung gibt es nach brasilianischem Recht damals nicht. Eine Frau, die ihrem Mann den Rücken kehrt, ist gesellschaftlich geächtet.
Der Skandal ist so groß, das Gerede so unerträglich, dass sich Aracy gezwungen sieht, Brasilien zu verlassen: Sie geht mit ihrem Sohn Eduardo in die Heimat ihrer Mutter, nach Deutschland. Im Süden Hamburgs lebt ihre Tante Lucy Luttmer, bei der sie unterkommen kann.
Die deutsche Kultur ist Aracy vertraut. Gemeinsam mit ihren Eltern war sie in den 20er Jahren mehrfach in Hamburg zu Besuch und hat Deutschland als weltoffen, liberal und tolerant erlebt. Allerdings hat sich inzwischen einiges geändert. Als Aracy 1934 in Hamburg ankommt, ist Deutschland ein diktatorisch regierter Staat.

Aracy kümmert das zunächst wenig. Wohin das NS-Regime Deutschland und die Welt führen wird, ist ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme für sie nicht absehbar. Aracy lebt das Leben einer jungen, unpolitischen Frau: Sie sorgt sich um die Erziehung ihres fünfjährigen Sohnes, findet eine Wohnung auf der Uhlenhorst – Immenhof 18 lautet ihre Adresse – und bereist ganz Europa. 1936 besucht sie die Olympischen Spiele – und schreibt an ihre Mutter in Brasilien, Berlin sei „ein Wunder“. Eine Gegnerin des NS-Regimes ist sie nicht. Noch nicht.
Sie missachtet alle Regeln und stellt deutschen Juden Einreisevisa für Brasilien aus
Aracy spricht Deutsch, Portugiesisch, Englisch und Französisch. Mit ihren Sprachkenntnissen bewirbt sie sich beim brasilianischen Generalkonsulat, das sich damals im Haus Glockengießerwall 2 befindet. Im Sommer 1936 bekommt sie einen Posten in der dortigen Pass- und Visaabteilung. In ihrer neuen Funktion ist sie hautnah konfrontiert mit dem Terror, den das NS-Regime insbesondere gegen die jüdische Bevölkerung ausübt. Die Zahl der Menschen, die ins Konsulat drängen und um ein Visum für Brasilien bitten, weil sie Nazi-Deutschland den Rücken kehren wollen, wächst von Woche zu Woche.

Eigentlich müsste Aracy sie alle wegschicken. Die autoritäre nationalistische Regierung Brasiliens unter Diktator Getúlio Vargas ist selbst antisemitisch eingestellt. Im geheimen Runderlass 1127 weist das brasilianische Außenministerium 1937 alle diplomatischen Vertretungen an, keine Visa mehr auszustellen an Personen mit „semitischer Herkunft“.
Allerdings ist nicht klar definiert, wann ein Mensch „semitischer Herkunft“ ist. Es gibt also einen gewissen Handlungsspielraum für die Mitarbeiter der Pass- und Visaabteilungen – und den nutzt Aracy so weit wie möglich aus. In einer Zeit, in der Hass und Unrecht den Alltag bestimmen, hört sie auf ihr Gewissen und verhilft Juden zur Ausreise.
Nach den Pogromen am 9. und 10. November 1938, als die Nazis Synagogen anzünden und jüdische Geschäfte plündern und zerstören, nimmt die Zahl ausreisewilliger Juden nochmal sprunghaft zu. Jetzt wollen alle weg, so schnell wie möglich. Aber wohin? Nicht nur Brasilien hat Vorbehalte gegen Juden, auch Staaten wie die USA, Kanada und Uruguay schotten sich ab, sogar die Schweiz hat die Grenzen längst dichtgemacht.
Wie viele Menschen genau sie rettete, weiß niemand
Und so wird aus der Not vieler jüdischer Bürger Verzweiflung: Vor den ausländischen Konsulaten überall im Reich bilden sich lange Schlangen: Jeder klammert sich an die Hoffnung, doch noch irgendwie ein Visum ergattern zu können.
Der Hamburger Hans Hochfeld beispielsweise ist 1938 27 Jahre alt. Er musste aufgrund der NS-Rassengesetze sein Jurastudium an der Uni abbrechen. In Deutschland sieht er keine Zukunft mehr…
Oder Karl Franken: Er war Geschäftsführer des Hamburger Modehauses „Feldberg“ an der Mönckebergstraße, verlor dann aber seinen Job, als die jüdischen Eigentümer dem Druck der Nazis nachgaben und das Geschäft weit unter Wert verkauften – nach der Arisierung wird es in „Textilhaus Eichmeyer“ umbenannt. Karl Franken will nur noch weg…

Und dann sind da noch Margarethe Levy und ihr Mann Hugo, ein jüdischer Zahnarzt, die in der Pogromnacht nur knapp der Verhaftung durch die Nazis entgehen und sich verstecken müssen. Sie haben panische Angst…
Vier von unzähligen Juden aus Hamburg und dem Rest des Reiches, die höchst wahrscheinlich in Auschwitz, Treblinka oder Theresienstadt ermordet worden wären, hätte Aracy ihnen nicht geholfen.
Aracy nimmt große Risken auf sich. Sie ignoriert die Vorschriften des brasilianischen Außenministeriums, stellt Hunderten von Verzweifelten Einreisedokumente aus und verschweigt, dass es sich bei den Antragstellern um Juden handelt. Als das ab Oktober 1938 nicht mehr möglich ist – die deutschen Behörden kennzeichnen die Reisepässe von jüdischen Bürgern nun mit einem roten „J“ – findet sie ein Schlupfloch: Touristenvisa. Sie auszustellen, ist an weniger Vorschriften gebunden. Touristenvisa sind zwar zeitlich begrenzt, aber mit ihnen können die Flüchtlinge erstmal ausreisen und sich später illegal in Brasilien aufhalten.
Vizekonsul João Guimarães Rosa unterstützt sie. Er wird später ihr Ehemann
In einigen Fällen geht Aracys Unterstützung noch weit über die Erteilung von Visa hinaus: Angeblich bringt sie Juden in ihrem Dienstwagen über die Grenze nach Dänemark. Während der Pogrome 1938 versteckt sie Juden bei sich zu Hause und versorgt sie mit Lebensmitteln. Einige ihrer Schützlinge bringt sie im Dienstfahrzeug zum Hafen. In anderen Fällen begleitet sie Personen bis zur Schiffskabine und schmuggelt für sie im Diplomatengepäck Schmuckstücke an Bord, die sonst von den NS-Behörden konfisziert worden wären. Eine Gegenleistung verlangt Aracy für ihre Hilfe nie. „Wir hätten gerne bezahlt“, so Grete Callmann, die dank Aracy 1938 mit ihrem Ehemann nach Brasilien ausreisen kann. „Aber sie sagte nur: Sie schulden mir nichts.“

Ohne Unterstützung durch Dritte wäre das alles nicht möglich: Gegner des Hitler-Regimes helfen Aracy, darunter Wilhelm Unger von der Schifffahrtslinie Hamburg-Süd. Er sorgt dafür, dass jüdische Auswanderer an den NS-Behörden vorbei große Teile ihres Eigentums, ja sogar sperrige Möbel, mit nach Übersee nehmen können. Unger hat einen Freund, der im Einwohnermeldeamt arbeitet: Er stellt Juden, die in anderen Teilen Deutschlands, in Österreich und in Polen leben, eine Bescheinigung aus, sie seien in Hamburg gemeldet – denn allein für Menschen aus Hamburg und Umgebung ist Aracy überhaupt nur zuständig.
Ihr wichtigster Unterstützer aber ist João Guimarães Rosa, der 1938 die Stelle als Vizekonsul im brasilianischen Generalkonsulat in Hamburg antritt – und Aracys Liebhaber wird. Er teilt ihre Verachtung für die Nazis, warnt sie vor den möglichen Konsequenzen, hilft ihr aber auch, wo er kann. Immer wenn der Chef nicht da ist, zeichnet er als Stellvertreter die Visa ab, die sie jüdischen Bürgern erteilt. Wie durch ein Wunder fliegt die Sache nie auf.
Als Brasilien 1942 die Fronten wechselt und an der Seite der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eintritt, internieren die Nazis sämtliche brasilianischen Diplomaten für einige Monate in einem Hotel in Baden-Baden. Das gilt auch für Aracy und ihren Geliebten. Später werden sie gegen deutsche Diplomaten, die in Brasilien interniert sind, ausgetauscht und kehren in die Heimat zurück.
Die beiden heiraten. Aracy widmet sich jetzt ganz der Arbeit ihres Mannes, der eine steile Doppelkarriere macht: als Diplomat genauso wie als Schriftsteller. Er, der 1967 im Alter von 59 Jahren an einem Herzinfarkt stirbt, zählt heute zu den bedeutendsten Autoren Brasiliens. Seine Werke „Sagarana“, „Grande Sertão“ und „Mein Onkel, der Jaguar“ werden auch ins Deutsche übersetzt.
Viele der Juden, denen Aracy das Leben rettet, bauen sich in Brasilien ein neues Leben auf. Anfang der 80er Jahre wenden sich einige von ihnen an die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und berichten dort, was Aracy für sie getan ht. 1982 wird sie daraufhin als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. In Zeitungsinterviews erzählt sie erstmals öffentlich von dem, was sich 40 Jahre zuvor im brasilianischen Generalkonsulat in Hamburg ereignet hat.
Arte zeigt am 8. Juni das Dokudrama: „Aracy – Der Engel von Hamburg“
Wie viele Menschen Aracy gerettet hat, weiß heute niemand. Die einen schätzen, dass es 80 gewesen sind, andere gehen von mehreren Hundert aus. Anders als Oskar Schindler hat Aracy nie eine Liste mit den Namen geführt.

Der „Engel von Hamburg“, wie sie genannt wird, leidet die letzten Jahre unter Alzheimer. Sie ist 102, als sie im Februar 2011 in São Paolo stirbt. Sie selbst sah sich nicht als Heldin. Als sie im hohen Alter mal nach den Gründen gefragt wurde, warum sie ihr Leben riskierte, um andere Menschen zu retten, antwortete sie: „Na, weil es richtig war.“
Der Film „Aracy – Der Engel von Hamburg“ wird am Donnerstag, 8. Juni 2023, ab 20.15 Uhr auf Arte gezeigt. Danach ist der Film bis zum 16. November 2023 in der Arte-Mediathek zu sehen.