Sie kam aus Hamburg: Das Rätsel um Anne Franks Freundin Ilse
Vor 75 Jahren, im Sommer 1947, kam Anne Franks Tagebuch in den Handel und hat bis heute Millionen Leser gefesselt und gerührt – es ist ein Stück Weltliteratur und das wohl wichtigste Dokument des Holocaust. Eine Rolle spielt darin auch Ilse Wagner. Sie war eine der besten Freundinnen von Anne Frank – und Hamburgerin! Was wissen wir über die junge Jüdin? Die MOPO hat sich auf Spurensuche begeben.
„Ilse Wagner ist ein fröhliches und nettes Mädchen, aber sie ist sehr genau und kann stundenlang jammern. Ilse mag mich ziemlich gern. Sie ist auch sehr gescheit, aber faul.“ Am 15. Juni 1942 schreibt Anne Frank diese Sätze in ihr berühmtes Tagebuch. Und auch später taucht dort immer wieder Ilse Wagners Name auf. Anne und Ilse gründen beispielsweise zusammen mit drei weiteren Freundinnen einen Tischtennisclub, dem sie den seltsamen Namen „Der kleine Bär minus 2“ geben.
Vor 75 Jahren, im Sommer 1947, kam Anne Franks Tagebuch in den Handel und hat bis heute Millionen Leser gefesselt und gerührt – es ist ein Stück Weltliteratur und das wohl wichtigste Dokument des Holocaust. Eine Rolle spielt darin auch Ilse Wagner. Sie war eine der besten Freundinnen von Anne Frank – und Hamburgerin! Was wissen wir über die junge Jüdin? Die MOPO hat sich auf Spurensuche begeben.
„Ilse Wagner ist ein fröhliches und nettes Mädchen, aber sie ist sehr genau und kann stundenlang jammern. Ilse mag mich ziemlich gern. Sie ist auch sehr gescheit, aber faul.“ Am 15. Juni 1942 schreibt Anne Frank diese Sätze in ihr berühmtes Tagebuch. Und auch später taucht dort immer wieder Ilse Wagners Name auf. Anne und Ilse gründen beispielsweise zusammen mit drei weiteren Freundinnen einen Tischtennisclub, dem sie den seltsamen Namen „Der kleine Bär minus 2“ geben.
Und gespielt wird regelmäßig im Speisesaal bei Familie Wagner. Denn dort gibt es eine Tischtennisplatte.

Vor 75 Jahren, am 25. Juni 1947, kam Anne Franks Tagebuch in den Handel. Wer es gelesen hat, weiß, dass Anne Frank auf den ersten Seiten sehr ausführlich all ihre Freundinnen beschreibt und davon berichtet, was sie nach der Schule mit ihnen unternimmt. Denn zu dieser Zeit – Mitte Juni 1942 – sind Anne Frank und ihre Familie noch nicht untergetaucht. Noch ist das Leben halbwegs normal – so normal es für Juden eben sein kann unter Nazi-Herrschaft.
Diese beiden niederländischen Frauen erforschen die Geschichte von Ilse Wagner
Zu Annes Freundinnen zählen Jacqueline van Maarsen, Sanne Ledermann, Hannah Goslar – und die erwähnte Ilse Wagner, die deshalb für uns von besonderem Interesse ist, weil sich herausgestellt hat, dass sie in der Schäferkampsallee in Eimsbüttel lebte, bevor sie und ihre Familie vor den Nazis nach Amsterdam flüchteten.
Mit anderen Worten: Eine der besten Freundinnen von Anne Frank war Hamburgerin!

Allerdings ist über Ilse Wagner, die im Alter von 14 Jahren ermordet wurde, sehr wenig bekannt. Es steht nicht einmal fest, ob auf dem Foto, das wir haben, tatsächlich Ilse zu sehen ist. Hannah Goslar – eine der wenigen Überlebenden aus der Mädchen-Clique – glaubt zwar, dass es Ilse ist, aber beschwören kann sie es nicht.
Die Herkunft Ilse Wagners wird im Tagebuch mit keinem Wort erwähnt. Dass es sich bei ihr um eine Hamburgerin handelt, das hat die niederländische Kinderbuchautorin Janny van der Molen in Erfahrung gebracht, von der es bereits zwei Bücher über Anne Frank gibt. 2013 veröffentlichte Janny van der Molen den Band „Buiten is het oorlog“ („Draußen herrscht Krieg“) und 2022 den Band „Vergeet mij niet“ („Vergesst mich nicht“). Das letzte Buch widmet van der Molen ganz und gar den zwölf Mädchen und Jungen aus Anne Franks Umfeld, von denen sechs aus Deutschland stammten: Minutiös beschreibt die Autorin, wer sie waren und was aus ihnen wurde.
Janny van der Molen hat ein Buch über die Freunde Anne Franks geschrieben

„Nur bei Ilse Wagner, da habe ich auf Granit gebissen“, erzählt Janny van der Molen. „Ich hätte so gerne auch sie in meinem Buch porträtiert – aber auf geheimnisvolle Weise war über sie nur sehr wenig in Erfahrung zu bringen. Das hat mich geärgert. Als mein Buch dann erschienen war, habe ich mir geschworen, diese Lücke zu füllen und alles daran zu setzen, auch Ilse vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren.“
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Nun will sie ihr Versprechen einlösen. Dazu hat sie kürzlich Hamburg besucht. Im Staatsarchiv in Wandsbek, in der Gedenkstätte der Israelitischen Töchterschule an der Karolinenstraße und im Institut für die Geschichte der deutschen Juden am Schlump stieß sie auf wertvolle Dokumente und Informationen. Begleitet wird Janny van der Molen bei ihren Recherchen von der niederländischen Journalistin Patty-Lou Leenheer, Inhaberin der Podcast-Produktionsfirma „Audiodroom“, die gemeinsam mit ihrem Partner Richard Grootbod eine Podcast-Serie über Ilse Wagner plant.
Die Wagners flohen 1939 nach Amsterdam – sie glaubten, dort in Sicherheit zu sein
Hier eine Zusammenfassung dessen, was bisher über Ilse Wagner in Erfahrung gebracht werden konnte: Sie kam am 26. Januar 1929 in Hamburg zur Welt, besuchte vermutlich die Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße und wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf: Ihr Vater Salomon Alfred Wagner (geb. 1891) war Prokurist der Hamburger Privatbank Hesse Newman & Co., die sich an der Ferdinandstraße in der Altstadt befand (dort gibt es heute noch das Hesse Newman Haus).

Während der Novemberpogrome 1938 wurde Salomon Alfred Wagner – so wie Hunderte anderer Hamburger Juden auch – von den Nazis verhaftet. Die Gestapo verschleppte ihn ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin. Nach seiner Freilassung im Januar 1939 setzte Salomon Alfred Wagner alles daran, seine Familie und sich selbst so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. Die Drei wanderten Ende März 1939 nach Amsterdam aus, wo seit 1934 ein Onkel und eine Tante von Ilse Wagner lebten. Bei ihnen bekam die Familie Unterschlupf. Später fanden die Wagners eine eigene Wohnung in der Straße President Steijnplantsoen.
Im Mai 1940 überrannte die Wehrmacht die Niederlande, und für Juden ändert sich schlagartig alles. Anne Frank schreibt in ihrem Tagebuch: „Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht in die Straßenbahn; Juden dürfen in kein Auto; Juden dürfen nur von 3–5 einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Friseur; Juden dürfen von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten…“ Und sie zählt noch viele weitere Einschränkungen auf, die die Nazis verhängt haben.
1940 überfällt die Wehrmacht die Niederlande – und das Leben für Juden wird unerträglich
Wann sich Anne Frank und Ilse Wagner das erste Mal begegneten, ist nicht genau bekannt. Ilse war befreundet mit Hannah Goslar – sie besuchten die gleiche Synagoge. Hannah Goslar wiederum war seit ihrem vierten Lebensjahr eng mit Anne Frank befreundet. Ab Sommer 1941 besuchten sie alle gemeinsam dasselbe jüdische Lyzeum in Amsterdam. Dort bildete sich die bereits erwähnte Mädchen-Clique. Gemeinsam Ping-Pong spielen und Eis essen – das waren die Lieblingsbeschäftigungen des Freundeskreises.

Im Frühsommer 1942 begannen die Nazis in den Niederlanden mit der systematischen Deportation von Juden, was Familie Frank dazu veranlasste, am 6. Juli unterzutauchen. Anne Frank, ihr Vater, ihre Mutter, eine dreiköpfige Familie namens Van Pels und der Zahnarzt Fritz Pfeffer bezogen ein Versteck im Hinterhaus von dem Gebäude, in dem Vater Otto Frank eine Firma betrieb. Zwei Jahre harrten Anne Frank und die anderen dort aus – bis zu dem Tag, an dem sie verraten wurden.
Und die Wagners? Für sie gab es kein solches Versteck. Salomon Alfred Wagner wurde im Sommer 1942 von den Nazis ins Arbeitslager Balderhaar-Klosterhaar verschleppt. Vermutlich kam er Anfang Oktober 1942 in das sogenannte Judendurchgangslager Westerbork südlich von Groningen. Er wurde von dort am 19. Oktober nach Auschwitz geschickt, wo er am 22. Oktober 1942 starb. Vermutlich kam er unmittelbar nach seiner Ankunft in die Gaskammer.
Anne Franks Familie ist vorbereitet: Im Juli 1942 bezieht sie ihr Versteck im Hinterhaus
Ilse, ihre Mutter Johanna und ihre Oma Golda blieben zunächst noch von Deportation verschont – bis zum Januar 1943. Da standen Gestapo-Leute vor der Tür, verhafteten die drei Frauen und brachten sie in das Lager Westerbork, wo sie am 30. März 1943 gemeinsam mit mehr als 1000 anderen Gefangenen in einen Güterzug steigen mussten, dessen Ziel das Vernichtungslager Sobibor war.

Keiner aus dem Transport überlebte: Ilse, ihre Mutter und ihre Oma starben am 2. April 1943. Ilse wurde lediglich 14 Jahre alt.
Die Familie Frank wurde, nachdem ihr Versteck 1944 aufgeflogen war, nach Auschwitz deportiert. Lediglich Vater Otto Frank überlebte den Holocaust. Tochter Anne und ihre Schwester Margot kamen im KZ Bergen-Belsen ums Leben, vermutlich Ende Februar oder Anfang März 1945. Anne Frank wurde nur 15 Jahre alt.
Ilse Wagner, ihre Eltern und ihre Oma werden in Sobibor bzw. in Auschwitz ermordet
Die Namen von 102.000 niederländischen Holocaust-Opfer – darunter Anne Frank und Ilse Wagner – finden sich auf dem 2021 fertiggestellten Holocaust-Mahnmal in Amsterdam, einem von Daniel Libeskind errichteten Labyrinth aus Backsteinwänden.

In Hamburg erinnern Stolpersteine an Ilse Wagner und ihre Angehörigen: Sie sind dort verlegt, wo das Haus stand, in dem die Familie bis zur Flucht nach Holland wohnte: Schäferkampsallee 11.
Janny von der Molens Spurensuche geht weiter: „Wir sind noch lange nicht fertig. Im Herbst reisen wir nach Sobibor, wo Ilse Wagner starb“, erzählt sie. Große Hoffnung setzen die Buchautorin und die Postcast-Macher von „Audidroom“ auf die Hamburger Öffentlichkeit. „Ich hoffe, dass wir Zeitzeugen finden, die die Wagners kannten oder die zumindest Fotos oder Dokumente von oder über sie haben“, sagt sie. „Die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß. Aber wer weiß. Wunder gibt es immer wieder.“
Die MOPO stellt gerne den Kontakt zu Janny van der Molen her. Schreiben sie uns: olaf.wunder@mopo.de. Oder klassisch per Post: MOPO, Olaf Wunder, Barnerstraße 14, 22765 Hamburg.