Schläge, Zwangsjacke, Fesseln: Das wurde psychisch Kranken in Hamburg angetan
Wer nicht spurt, wird geschlagen oder in eine Zwangsjacke gesteckt, nachts ans Bett gefesselt und mit Psychopharmaka vollgepumpt. So gingen Ärzte und Pfleger mit geistig behinderten Bewohnern der Alsterdorfer Anstalten um. Und in anderen psychiatrischen Krankenhäusern war die Behandlung nicht besser. Wer jetzt denkt, hier ist von der NS-Zeit die Rede, der irrt. Was wir hier beschreiben, ist noch bis weit in die 70er Jahren geschehen. Einfach nur skandalös, was hinter den Mauern dieser Anstalten vor sich ging. Was ein Opfer von damals berichtet.
Wer nicht spurt, wird geschlagen oder in eine Zwangsjacke gesteckt, nachts ans Bett gefesselt und mit Psychopharmaka vollgepumpt. So gingen Ärzte und Pfleger mit geistig behinderten Bewohnern der Alsterdorfer Anstalten um. Und in anderen psychiatrischen Krankenhäusern der Bundesrepublik war die Behandlung auch nicht besser. Wer jetzt denkt, hier ist von der Nazi-Zeit die Rede, der irrt. Was wir hier beschreiben, ist noch bis weit in die 1970er Jahren geschehen. Einfach nur skandalös, was hinter den Mauern dieser Anstalten vor sich ging. Opfer von damals berichten.
Der heute 75-jährige Werner Boyens sagt: „Alsterdorf – das war die Hölle.“ „Meine ganze Jugend habe ich in diesem Gefängnis zugebracht. Dabei war ich überhaupt nicht behindert. Die haben mich erst zum Behinderten gemacht!“
Werner Boyens klagt an: „Meine Jugend in Alsterdorf war die Hölle“

Ab 1947 lebt Boyens in Alsterdorf. Er ist da ein halbes Jahr alt. Warum seine Mutter ihn dort abgegeben hat? „Ich war unehelich! Meine Mutter hat dann einen Mann kennengelernt und geheiratet, und der wollte den ,Bastard‘ nicht. Also musste ich weg. Abgeschoben haben sie mich.“
Boyens wurde – wie alle anderen sogenannten Pflegebefohlenen – nicht beim Namen genannt. „Ich war 967“, sagt er, „jeder von uns hatte eine Nummer und mit der haben sie uns gerufen.“ Boyens erzählt, dass er abends mit dem Fuß ans Bett gekettet wurde. Das galt auch für die anderen 40, 50 Personen, die mit ihm die Nacht im riesigen Schlafsaal verbrachten. Wer mal musste, machte einfach ins Bett. Es roch ständig nach Kot, Urin und Reinigungsmitteln.
Wehe, ein Bewohner war aufsässig – und das war Boyens sehr oft! –, dann erging es ihm schlecht. Dann wurde er verprügelt. Mit Lederriemen oder Stromkabeln.
Boyens bekam die „Packung“ – die schlimmste Form der Bestrafung
Einmal wollte Boyens über die Mauer klettern, die den Frauen- vom Männerbereich trennte – der Kontakt zum anderen Geschlecht war streng verboten. „Ich war ein junger Mann, ich hatte Bedürfnisse“, so Boyens, „aber ich wurde erwischt und kam zur Strafe in den Wachsaal, die geschlossene Abteilung.“

Unglaublich, was dort mit ihm geschah: „Dann habe ich die Packung gekriegt“, erzählt er. Das bedeutet: Sie haben ihn dick eingewickelt in Bettlaken, nur den Penis und den Po sparten sie aus. „Dann haben mich vier Mann genommen und mich in eine Wanne mit Wasser gelegt, so zehn, 15 Minuten lang, bis alles triefend nass war. Anschließend haben sie mich auf ein Bett ohne Matratze gelegt, direkt auf die Federn. Und so habe ich dann da wochenlang gelegen, bis alles trocknen war. Dann haben sie mich endlich ausgewickelt und ich wurde in die Krankenstation verlegt, wo sie mich aufgepäppelt haben. Stützen mussten sie mich, ich hatte ja keine Muskeln mehr.“
Boyens berichtet, er sei mit Medikamenten ruhiggestellt worden. Zentropil habe er bekommen – gegen epileptische Anfälle, „dabei hatte ich gar keine. Und wenn ich mal wieder ausgerastet bin, weil ich endlich rauswollte, frei sein, dann haben sie mir Truxal gegeben”, ein Medikament, das psychomotorisch dämpfende Wirkung hat. „Dann bist du wie ein Zombie. Dann bist du kein Mensch mehr.”

Wer von den Bewohnern der Alsterdorfer Anstalten dazu in der Lage war, hat gearbeitet. Boyens‘ Arbeitsplatz war die „Malerei“. „Da war ich viele Jahre. Ich habe die Wohnungen der Pfleger gestrichen und tapeziert. Und wenn in der Kirche auf dem Anstaltsgelände was an den bleiverglasten Fenstern zu reparieren war, dann habe ich das auch gemacht. Und was glauben Sie, was der Lohn war? Mal 50 Pfennig. Mal eine Mark. Nicht pro Tag. Nicht pro Woche. Pro Monat!“
35 Jahre hat Boyens in Alsterdorf gelebt – bis zu seiner Flucht 1982. „Daran gedacht, abzuhauen, hatte ich schon lange. Aber ich kannte nichts anderes als Alsterdorf. Wir Bewohner wurden ja gezielt in völliger Unselbstständigkeit gehalten. Deshalb hat es lange gedauert, bis ich so weit war.“

Ein Geselle aus der Alsterdorfer Malerwerkstatt – selbst kein Patient – half Boyens bei der Flucht. Zum verabredeten Zeitpunkt war er mit einem Pkw zur Stelle, Boyens stieg ein – und weg war er.
Boyens wandte sich ans Sozialgericht, sorgte dafür, dass er seinen gerichtlich bestellten Vormund loswurde. Er holte erfolgreich den Hauptschulabschluss nach, heiratete und erlernte zwei Berufe: Bootsbauer und Elektriker.
Gerne hätte er Kinder gehabt. Als das nicht klappte, ging er zum Arzt – der stellte fest, dass er sterilisiert worden war. Heimlich. Wohl als er 14 oder 15 Jahre alt war, hatte irgendein Alsterdorfer Arzt entschieden, Boyens sei es nicht wert, sich zu reproduzieren. „Als ich das erfuhr, wollte ich nicht mehr leben.“
Luise Schwarzer war in Alsterdorf nur eine Nummer: 1268
Eine andere ehemalige Bewohnerin der Alsterdorfer Anstalten ist Luise Schwarzer. Sie ist inzwischen 86 Jahre alt. Sie kam 1938 dorthin – nicht etwa weil sie behindert war, sondern das Ergebnis eines Seitensprungs ihrer Mutter. „Ihr Mann, ein Soldat, der gerade an der Front war, verlangte, dass ich verschwinde“, sagt sie. Bis heute hat sie oft das Gefühl, dass es besser gewesen wäre, nicht zu existieren. Auch sie berichtet, dass sie in den Alsterdorfer Anstalten nur eine Nummer war: 1268.

Was das Schlimmste für sie in Alsterdorf war? Da muss sie nicht lange nachdenken: „Schwester Anni“. Der Name klingt freundlich. Irgendwie mütterlich. Aber der Sadismus dieser Pflegerin war kaum zu überbieten. „Die hatte so einen Stock, damit hat sie mir auf meine Beine geschlagen, bis sie blutig waren“, erzählt sie. „Dann gab es diese Schutzjacke mit Ärmeln, die man auf dem Rücken zusammenbinden konnte – die wurde mir angezogen. Da konnte sie mir ganz wunderbar ins Gesicht schlagen. Und Schwester Anni hatte eine gute Handschrift, sage ich Ihnen.“ Ein anderes Mal wurde Luise Schwarzer gezwungen, in die mit kaltem Wasser gefüllte Badewanne zu steigen. „Da hat Schwester Anni dann ihrer Helferin, der Olga F., befohlen, mich immer wieder an den Beinen zu ziehen, sodass ich fast ertrunken wäre.“
Luise Schwarzer hatte Glück: Eine Ärztin erkannte ihre Stärken. Sie durfte in eine Wohngruppe außerhalb der Anstalt ziehen. Später hat sie als Magd auf einem Bauernhof, als Cutterin in einem Filmstudio und als Assistenz in der Poststelle der Baubehörde gearbeitet. Heute lebt sie in einer Seniorenwohnanlage, nachdem sie lange in einer eigenen Wohnung gewohnt hat.

Was aus Schwester Anni S. geworden ist, fragen wir? Luise Schwarzer: „Die hat noch bis in die 60er Jahre in Alsterdorf Kinder gequält.“
2017 wird die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ ins Leben gerufen: Sie zahlt Opfern Entschädigung
Lange, viel zu lange hat es gedauert, bis endlich öffentlich das Unrecht anerkannt wurde, das nach 1945 Bewohnern der Alsterdorfer Anstalten und anderer psychiatrischer Kliniken widerfahren ist. Auf Drängen der Evangelischen Stiftung Alsterdorf – so heißen die Anstalten heute – riefen Bund und Länder 2017 die Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ ins Leben.
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5000 Anträge aus dem Bundesgebiet gingen ein, darunter 300 von ehemaligen Bewohnern der Alsterdorfer Anstalten. Die meisten erhielten 9000 Euro. Bei Werner Boyens waren es aufgrund seiner besonderen Leidensgeschichte 14.000 Euro.
Was Boyens über die Entschädigung denkt? Er überlegt eine ganze Weile, dann sagt er: „Was für eine Entschädigung? Dieser lächerliche Betrag ist doch wohl ein Witz.“ Boyens wird immer wütender. „Selbst 100.000 Euro wären zu wenig für das, was uns angetan wurde. Sie haben mir meine Jugend gestohlen, haben mich sterilisiert. Ich konnte keine Kinder haben. Und ich warte immer noch darauf, dass sich die Bundesrepublik Deutschland bei mir entschuldigt. Das hat sie bis heute nicht.“
160 Jahre Stiftung Alsterdorf: Wie Nächstenliebe ins Gegenteil umschlug

Die Alsterdorfer Anstalten, wo sich diese furchtbaren Dinge abgespielt haben, ist vor genau 160 Jahren gegründet worden, und zwar aus christlicher Nächstenliebe heraus. Der Hamburger Pastor Heinrich Sengelmann (1821-1899) kaufte damals mit Spenden ein kleines Fachwerkhaus in Alsterdorf, in das am 19. Oktober 1863 vier geistig behinderte Jungen einziehen – der Tag gilt heute als Gründungsdatum der Stiftung. Als Sengelmann 1899 stirbt, leben 600 geistig, körperlich und seelisch Behinderte in den Alsterdorfer Anstalten. Sie genießen bereits weit über Hamburg hinaus hohes Ansehen.
Während des Ersten Weltkriegs findet der Sozialdarwinismus viele Anhänger. Der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche übertragen die Theorie Darwins, wonach das Kranke und Schwache durch natürliche Auslese zugrunde geht, auf gesellschaftliche Verhältnisse. Aus Kostengründen und um das Volk gesund zu halten, fordern sie die Tötung unheilbar Kranker und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“.

Radikale Thesen, die ab 1933 in die Tat umgesetzt werden. Alsterdorf beteiligt sich ganz aktiv daran: Oberarzt Dr. Gerhard Kreyenberg und der Leiter der Stiftung, Pastor Friedrich Lensch, wählen im Rahmen der Euthanasie-Aktion T4 mehr als 600 Bewohner aus, die zu Tötungsanstalten abtransportiert werden. Mindestens 513 Menschen aus Alsterdorf werden so während der NS-Zeit ermordet.
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Nach 1945 gibt es an den Alsterdorfer Anstalten keinen klaren Neuanfang. Die Verbrechen werden vertuscht. Der größte Teil der Mitarbeiter – zum allergrößten Teil alte Parteigenossen – behalten ihre Posten. Viele von ihnen verrichten ihre Arbeit weiter mit derselben Verachtung und Unmenschlichkeit wie zuvor.

„In diesem Milieu konnten sich die alten Ideen von Zucht und Ordnung, von Bestrafung und Isolation bei Fehlverhalten und Begünstigung bei Wohlverhalten natürlich trefflich fortsetzen“, sagt Dr. Michael Wunder, der ehemalige Leiter des Beratungszentrums in Alsterdorf. „Und mit den neuen medikamentösen Möglichkeiten konnte der Wachsaal zur Dopingstation mutieren, in dem nicht nur pädagogisches Versagen pharmakologisch vertuscht, sondern unangepasstes Verhalten drastisch bestraft wurde.“
Noch bis in die 70er Jahre werden Bewohner der Alsterdorfer Anstalten ihrer Menschenwürde beraubt. Das ändert sich erst, als eine neue Generation von Pflegern den Mut hat, gegen die Zustände aufzubegehren. Dazu gehört Birgit Schulz, die 1975 bis zum Beginn ihres Sozialpädagogik-Studiums als Aushilfe in Alsterdorf anfängt. Schon am ersten Tag dreht sich ihr der Magen um. Die Station, auf der sie arbeitet, trägt den Namen „Haus Carlsruh“: eine 1890 erbaute türkis gestrichene marode Baracke, in der 44 schwer behinderte Männer vor sich hinvegetieren und teils mit Lederriemen an Heizkörper oder Bänken angebunden sind. Der Gestank nach Urin, Kot und Desinfektionsmittel ist furchtbar.

Die Behandlung der Patienten: unmenschlich, entwürdigend. Sie werden vollgestopft mit Psychopharmaka, damit sie ruhig sind und die Pfleger nicht so viel Arbeit mit ihnen haben. Birgit Schulz wird vom Oberpfleger zurechtgewiesen, weil sie es wagt, einem Behinderten, der Durst hat, etwas zu trinken zu geben. „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie stören den ganzen Ablauf. Die Behinderten nässen dann nachts noch mehr ein.“
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Birgit Schulz will am liebsten sofort wieder kündigen. Dann hört sie davon, dass es weitere Mitarbeiter gibt, die auch etwas ändern wollen. Diesem sogenannten „Kollegenkreis“ schließt sie sich an. Demos werden organisiert, Flugblätter verteilt, Forderungen erhoben – etwa, dass ein Freizeitzentrum gegründet wird, damit sich die Bewohner sinnvoll beschäftigen können.

1979 macht die Presse den Skandal öffentlich
Als der Vorstand der Alsterdorfer Anstalten alle Kritik als „Halbwahrheiten“ zurückweist und einem der Wortführer aus dem „Kollegenkreis“ die Kündigung schickt, platzt die Bombe: „Versteckt, verdrängt, vergessen“, so lautet die Überschrift einer Reportage, die am 20. April 1979 im „Zeit-Magazin“ erscheint und die auf eindringliche Weise das alltägliche Grauen in den Alsterdorfer Anstalten beschreibt: „Es herrscht Gewühl, fiebriger Tumult. Wer nicht ziellos im Kreis herumwandert, in hastigem Zickzack den Raum durchkreuzt, sich die Bretterwände entlangtastet, lehnt taumelnd an den Fensterbrettern oder hockt zusammengesackt an den leeren Tischen“, heißt es in dem Artikel. „Hier ist keiner ein ,Monster‘, hier sind alle Opfer, nicht nur ihrer Behinderung, sondern vor allem der unsäglichen Verhältnisse, die den Schaden erst anrichten, der in einer ,Heil- und Pflegeanstalt‘ angeblich gemildert oder behoben werden soll.“
Die Enthüllungen lösen eine Lawine aus – innerhalb wie außerhalb der Anstalten. Das führt zu einem Paradigmenwechsel: Anfang der 80er Jahre verschwinden nach und nach die menschenunwürdigen Massenunterkünfte. Zeitgemäße Wohnmodelle – Einzelzimmer und Wohngruppen – entstehen. Viel verändert sich: 1988 benennen sich die „Alsterdorfer Anstalten“ in „Evangelische Stiftung Alsterdorf“ um. Aufgrund des öffentlichen Drucks wird die eigene Geschichte aufgearbeitet.
Stiftung Alsterdorf arbeitete eigene Vergangenheit vorbildlich auf
Damit einher geht die Öffnung des Geländes. Keine Spur mehr vom Gefängnischarakter vergangener Zeiten. Der Alsterdorfer Markt, das 2003 eingeweihte Herzstück der Stiftung, wird zu einem Treffpunkt mit Einkaufsmöglichkeiten, Gastronomie und kulturellen Angeboten. Behinderte Menschen professionell dabei zu unterstützen, ihr Leben weitgehend selbstständig zu führen, das ist heute das Ziel.

Inzwischen hat die Stiftung drei Bücher herausgegeben, in denen die eigene Geschichte aufgearbeitet wird – ohne etwas zu beschönigen. Soeben erschienen ist der Band „Ausgeschlossen – Eingeschlossen“ von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler (Kohlhammer-Verlag, 24 Euro). Das Buch erzählt die Geschichte der Stiftung von den Anfängen bis zur Gegenwart, mit allen Höhen, aber auch allen Tiefen. In der neuen Ausgabe des MOPO-History-Magazins „Unser Hamburg“ ist der Geschichte der Alsterdorfer Anstalten ein ganzes Kapitel gewidmet.