Säugling verhungert: Eine vermeidbare Tragödie
Als Polizisten im Frühjahr 1984 Baby Tim* fanden, war es schon zu spät. Ein Beamter musste sich übergeben, der Anblick des toten Säuglings war kaum zu ertragen. Der Junge, der in die verwahrloste Welt einer alkoholkranken Mutter geboren worden war, wurde nur etwas mehr zwei Monate alt, ehe sein Körper den Kampf gegen den Hunger verlor. Eine Tragödie auf allen Ebenen – aber auch eine, die hätte verhindert werden können.
Mit blauen Augen, braunen Haaren und einer kleinen Stupsnase kam Tim am 30. Januar 1984 im Badezimmer zur Welt. Seine Mutter Julia M. gebar ihn neben der Toilette ihrer Dachgeschosswohnung an der Kleinen Freiheit auf St. Pauli, ohne Heizung und Strom.
Wohnung total verdreckt, Tim über Tage oft allein
- Deutsch (Deutschland)
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Als Polizisten im Frühjahr 1984 Baby Tim* fanden, war es schon zu spät. Ein Beamter musste sich übergeben, der Anblick des toten Säuglings war kaum zu ertragen. Der Junge, der in die verwahrloste Welt einer alkoholkranken Mutter geboren worden war, wurde nur etwas mehr zwei Monate alt, ehe sein Körper den Kampf gegen den Hunger verlor. Eine Tragödie auf allen Ebenen – aber auch eine, die hätte verhindert werden können.
Mit blauen Augen, braunen Haaren und einer kleinen Stupsnase kam Tim am 30. Januar 1984 im Badezimmer zur Welt. Seine Mutter Julia M. gebar ihn neben der Toilette ihrer Dachgeschosswohnung an der Kleinen Freiheit auf St. Pauli, ohne Heizung und Strom.
Wohnung total verdreckt, Tim über Tage oft allein
Der kleine Tim war das neunte Kind der 42 Jahre alten Mutter. Die acht älteren Kinder musste Julia M. abgeben, sie kamen in die Obhut von Heimen. Gegenüber Bekannten soll sie gesagt haben, dass sie Tim nicht weggeben würde.
Ab dem 1. März 1984 gehen im Bezirksamt Mitte die ersten Hinweise auf die katastrophalen Umstände ein, in der das Neugeborene lebt: Seine Mutter ist Alkoholikerin, genau wie sein Stiefvater Manfred S. (61). Die Wohnung sei total verdreckt, das Baby oft über Stunden und Tage unbeaufsichtigt.
Bereits am 29. Februar waren Polizisten, gerufen von Verwandten, in der Wohnung. Die Beamten sind erschüttert über die Lebensumstände, schreiben sofort einen Bericht, in dem sie die Sozialarbeiter auffordern, sich umgehend um das Baby zu kümmern. Eine Polizistin ruft sogar direkt beim Amt für Soziale Dienste an. Die zuständige Beamtin soll versprochen haben, etwas zu unternehmen.
Später berichtet sie, sie habe elf Mal versucht, in die Wohnung zu kommen, doch es sei ihr nie geöffnet worden. Eine Dringlichkeit, die Tür durch die Polizei oder Feuerwehr öffnen zu lassen, sah die Frau offenbar nicht. Auch intern bleibt die Kommunikation beschränkt: Akten über M. werden offenbar ignoriert oder nicht weitergeben.
Er habe nicht nur das Bezirksamt, sondern auch die Sozialbehörde informiert, so Georg W., der Sohn des Stiefvaters. Es hätte sich niemand bei ihm gemeldet. W. damals: „Ich habe auf das hungernde Baby aufmerksam gemacht. Die Luft in der Wohnung war blau vom vielen Zigarettenrauch. Überall lagen Bier- und Schnapsflaschen, Abfall, Speisereste, verpilzte Zimmerpflanzen, der Gestank der beiden, ständig besoffene Leute – und mittendrin der kleine Tim.“
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Als er wiederholt keine Hilfe bekommt, ruft Georg W. die Polizei. Beamte öffnen am 6. April gewaltsam die Tür zur Wohnung – und finden das tote Kind: Das Leichengift hatte den kleinen Körper bereits geschwärzt, seine Kopfhaut ist greisenhaft verschrumpelt, im geöffneten Mund verhärteter Speichel, die kleinen Hände sind verkrampft. Ein Polizist muss sich übergeben. Ein anderer sagt kurz nach dem Einsatz: „Man hat schon viel gesehen, aber sowas noch nie.“
Das Kind kommt ins Kinderkrankenhaus nach Altona. Trotz aller ärztlichen Bemühungen wird der kleine Tim gegen 19.25 Uhr offiziell für tot erklärt. Er wurde nur zwei Monate alt.
Den Stiefvater finden Beamte völlig betrunken. Auf die Frage, wo seine Lebenspartnerin sei, antwortet er: „Ich hab‘ keine Ahnung, wo die Julia ist. Wahrscheinlich treibt sie sich mit fremden Männern am Hansaplatz herum.“ Sie sei oft tagelang in Kneipen unterwegs. Er sei es gewesen, der Babywäsche gekauft und ein Bett gebaut habe. Zu Tims Tod sagt er: „Ich war die letzten Tage nicht da, hab‘ nichts mitbekommen. Das Baby schrie ja nie.“
Polizisten der Davidwache durchkämmen St. Pauli, suchen nach Julia M. und finden sie erst eine Woche später in einem Lokal am Brauerknechtgraben (Neustadt). Der Hinweis kam per Telefon.
Im Laufe der Polizei-Ermittlungen und zu Beginn des Prozess am 26. Februar 1986 kommen zahlreiche Details ans Licht. Eins davon: Der kleine Tim wurde wohl sieben Tage nicht gefüttert. Er verhungerte qualvoll.
Julia M. verfolgt den Prozess vor der Großen Strafkammer 21 des Landgerichts ruhig, fast apathisch. Sie wirkt zuweilen teilnahmslos, versucht aber auch, einen selbstsicheren Eindruck zu machen. Sie und Manfred S. müssen sich wegen fahrlässiger Tötung und Aussetzung eines hilflosen Kindes verantworten.
Aufgewachsenen in Heimen, vergewaltigt vom Vater
Der Prozess wühlt auch die eigene Leidensgeschichte der Frau auf: Sie war ohne Mutter in Heimen aufgewachsen. Als 14-Jährige wurde sie vom Vater vergewaltigt, mit 17 landete sie auf dem Kiez. „Da hab‘ ich das Saufen angefangen“, sagt sie. Teils habe sie zwei Schnapsflaschen am Tag konsumiert.
Am 28. März, zwei Tage vor dem Auffinden ihres verhungerten Kindes, sei sie in Kiez-Kneipen „total versackt“. Sie habe gehofft, dass Manfred S. sich um das Kind kümmere. Der sagt, das Baby hätte das Essen verweigert. Dass Tim total abgemagert war, sei ihm nicht aufgefallen. Er selber habe „quasi ständig“ unter Alkoholeinfluss gestanden.
Ein Kinderarzt sagt vor Gericht, dass seinen Untersuchungen zufolge Tim in seinem ganzen Leben zu wenig Nahrung erhalten habe. „Er litt an chronischer Unterernährung.“
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Ein Psychologe erklärt, dass Julia M. nicht nur Alkoholikerin sei. „Sie ist eine willensschwache Persönlichkeit, die kaum für sich selbst sorgen kann, geschweige denn für andere. Von Anfang an war sie nicht in der Lage, ein Kind zu betreuen.“ Er bescheinigt den Angeklagten eine verminderte Schuldfähigkeit. Zu Manfred S. sagt er: „Es kann sein, dass er im alkoholisierten Zustand den Säugling schlicht vergessen hat.“
So lauteten die Urteile
Letztlich spricht der Richter den Angeklagten frei: Er sei nicht in der Lage gewesen, seinen Konsum zu kontrollieren. Ein Schuldvorwurf im strafrechtlichen Sinne könne ihm nicht gemacht werden. Julia M. wird dagegen zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Sie habe lichte Momente gehabt, in denen sie sich Sorgen gemacht, aber nicht gehandelt habe. Eine Gefängnisstrafe halte er für nicht angemessen, die Frau brauche Hilfe.
Die Sozialarbeiterin, die versucht hatte, das Kind zu besuchen, war wegen fahrlässiger Tötung mitangeklagt, das Verfahren wurde aber eingestellt. Der Polizeibericht habe keine Hinweise auf eine akute Lebensgefahr gegeben. Das Verhalten sei angemessen gewesen, so der Richter, der trotzdem ein Behördenversagen attestierte: „Es hat fatale Kommunikationsfehler gegeben, die zum Tod des kleinen Tim entscheidend beigetragen haben.“
*alle Namen geändert