„Operation Gomorrha“: Wieso die Bomben auf Hamburg dieser Frau das Leben retteten
80 Jahre sind vergangen seit der schlimmsten Katastrophe, die je über die Stadt hereinbrach. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, sagt die Bibel. Und so kam es: Ende Juli, Anfang August 1943 erhielt Hamburg die Quittung für Hitlers Krieg. Die „Operation Gomorrha” kostete rund 35.000 Bewohnern das Leben (genau weiß es niemand), verwandelte Stadtteile wie Rothenburgsort, Hammerbrook und Hamm in eine Trümmerwüste. Für die heute 87-jährige Marione Ingram waren die alliierten Bombenangriffe beides: Albtraum und Rettung zugleich.
80 Jahre sind vergangen seit der schlimmsten Katastrophe, die je über die Stadt hereinbrach. Wer Wind sät, wird Sturm ernten, sagt die Bibel. Und so kam es: Ende Juli, Anfang August 1943 erhielt Hamburg die Quittung für Hitlers Krieg. Die „Operation Gomorrha” kostete rund 35.000 Bewohnern das Leben (genau weiß es niemand), verwandelte Stadtteile wie Rothenburgsort, Hammerbrook und Hamm in eine Trümmerwüste. Für die heute 87-jährige Marione Ingram waren die alliierten Bombenangriffe beides: Albtraum und Rettung zugleich.
Marione Ingram wohnt heute in Washington D. C., nur wenige Straßen vom Weißen Haus entfernt. Aufgewachsen ist sie an der Hasselbrookstraße in Hamm. Wieso die Bombenangriffe ihre Rettung waren? Weil ihre jüdische Mutter nur wenige Tage zuvor den Deportationsbefehl erhalten hatte.
Ohne die Bomben, die auf Hamburg fielen, wäre das damals siebenjährige Mädchen gemeinsam mit Mutter und Geschwister deportiert worden in den sicheren Tod. Im Chaos, das auf die Bombenangriffe folgte, konnte die Familie untertauchen. Wie ihr das gelang, wer ihr half und wo sie sich versteckte – dazu später mehr.

Als Marione Ingram 1935 geboren wird, ist der Zweite Weltkrieg noch nicht ausgebrochen, aber der Krieg der Nazis gegen die jüdische Minderheit, der läuft bereits. Kinder auf der Straße spucken Marione an, werfen mit Steinen nach ihr. Monika, das Mädchen, das zwei Etagen tiefer wohnt, teilt Marione eines Tages mit, sie werde nicht länger mit ihr spielen, weil sie ein „Judenschwein“ sei.
Zwei Tage vor den Bombenangriffen erhielt ihre jüdische Mutter den Deportationsbefehl
Die Eltern Margarete und Emil Oestreicher haben 1934 geheiratet. Der Vater, ein Lebensmittelhändler, ist „Arier“ und wird von den Nazis immer wieder unter Druck gesetzt, die Ehe zu annullieren. Einmal wird er, der überzeugte Antifaschist, von Schergen der SA überfallen, an einen Laternenpfahl gebunden und schwer misshandelt.
Während die Nazis auf ihn einschlagen, drohen sie ihm damit, ihn und seine jüdische Familie zu töten, wenn er sich nicht von seiner Frau scheiden lässt. „Er beschwichtigte sie, indem er einwilligte, in die Luftwaffe einzutreten”, erzählt Marone Ingram.
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Im November 1941 – inzwischen ist der Krieg in vollem Gange – beginnt die Deportation der Hamburger Juden. Hans, Mariones Onkel wird Anfang November nach Minsk deportiert und kurz darauf ermordet. Wenige Tage später kommen die Nazis und holen auch Großmutter Rosa ab.
Marione Ingram, gerade sechs Jahre alt, tritt dem SS-Mann, der die Oma packt, vors Schienenbein, attackiert ihn mit Fäusten. Aber dass ihre Großmutter deportiert wird, kann sie nicht verhindern. Sie sieht sie nie wieder.

Aufgrund der Ehe mit einem Nicht-Juden sind Margarete Oestreicher und ihre drei Töchter vor Verfolgung sicher. Vorerst. 1943 aber ändert sich das. Nun werden auch solche Juden deportiert, die mit einem Arier verheiratet sind.
Als Margarete Oestreicher Ende Juli den Deportationsbefehl erhält, ist sie so verzweifelt, dass sie versucht, sich das Leben zu nehmen: Die kleine Marione findet ihre Mutter mit dem Kopf im Gasofen und kann sie im letzten Moment retten.
„Unsere Wohnung fühlte sich plötzlich an wie eine Gefängniszelle im Todestrakt“
Nun erst erfährt das Mädchen von der drohenden Deportation. „Ich habe mich gefühlt, als säße ich auf einer tickenden Zeitbombe. Unsere Wohnung fühlte sich für mich plötzlich an wie eine Gefängniszelle im Todestrakt.“

Zwei Tage später beginnt die „Operation Gomorrha“. Dass das die Rettung ist, wird Margarete Oestreicher und ihren Töchtern erst später klar. Als die Bomben niederprasseln, die ganze Straße brennt, ja, das ganze Viertel in Flammen steht, das Haus in der Hasselbrookstraße von einer Explosion erschüttert wird, da haben sie Angst um ihr Leben, so wie alle anderen auch.
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Sogar noch ein bisschen mehr: Denn während die „Arier“ die Möglichkeit haben, einen Schutzraum oder einen Bunker aufzusuchen, ist das den Juden verwehrt. Margarete Oestreicher versucht trotz des Verbots, in den Luftschutzkeller ihres Hauses zu kommen, hofft auf das Mitgefühl der Nachbarn und schlägt mit der Düse eines Feuerlöschers auf die eiserne Tür. Zwar öffnet der Luftschutzwart kurz, schlägt sie aber wieder zu, als er die „Juden“ sieht.
Wo eben noch Hamm und Hammerbrook waren, gab es nur noch einen lodernden Scheiterhaufen
An der Seite ihrer Mutter irrt Marione ziellos durch den Feuersturm. Es ist schlimmer als die Hölle. „Durch die zerbombten Fensteröffnungen konnten wir sehen, wie orangefarbene und gelbe Flammen auf Klavieren tanzten, aus Bücherschränken Scheiterhaufen machten und Bettgestelle umzüngelten“, so Marione Ingram. „Heiße Luft und Gase schossen mit unglaublicher Wucht durch die Straßen und rissen alles, was nicht fest verankert war, mit sich auf den großen lodernden Scheiterhaufen, der eine Stunde zuvor noch Hamm und Hammerbrook gewesen war.“

Es sind furchtbare Szenen, die sich vor den Augen der damals Siebenjährigen abspielen: Sie sieht mit an, wie Menschen im geschmolzenen Asphalt steckenbleiben, hinfallen, ersticken, verbrennen. Überall sind Leichen zu sehen. „Die Flammen hatten sie ihrer Haare und Kleidung beraubt, ihre Körper waren versengt und aufgebläht, ihre Haut aufgesprungen. Aufgrund des Geruchs von verbranntem Fleisch drehte sich uns der Magen um, und wir wollten weinen, aber wir hatten zu wenig Flüssigkeit in uns, um Tränen zu produzieren oder uns zu übergeben. Stattdessen klammerte ich mich an Mutter und grub mein Gesicht in ihr Kleid.“
Humpelnd, voller Blasen und aus Ohren und Nase blutend können sich Marione und ihre Mutter in einen Bombenkrater retten. Darin finden sie Schutz, überleben – und ergreifen die günstige Gelegenheit, die sich ihnen bietet. Sie nutzen das Chaos und tauchen unter. Inkognito schließen sie sich einem Evakuierungstreck an, flüchten zunächst nach Süddeutschland. Ihnen ist klar: Vermissen wird sie niemand. Alle werden denken, sie sind umgekommen.
Marione und ihre Mutter halten sich für fast zwei Jahre in diesem Schuppen versteckt

Vater Emil Oestreicher, der als Soldat in Belgien stationiert ist, erhält nach den Angriffen auf Hamburg Heimaturlaub, ist erleichtert, als er erfährt, dass seine Familie noch lebt und wendet sich an einen kommunistischen Freund, Adolf Pimber, der in der Mellenbergstraße in Rahlstedt einen Bauernhof hat. Dort richtet Emil Oestreicher für seine Familie ein Versteck ein: Von da leben Margarete Oestreicher und ihre Töchter in einem Schuppen im hinteren Teil des Grundstücks. Immer, wenn Besuch kommt, müssen sich sie sich in einem Erdbunker verstecken, dessen Eingang hinter einem Haselnussbusch verborgen ist. Keinen Mucks dürfen sie dann von sich geben.
Von Oktober 1943 bis Mai 1945 harren die Frau und ihre Töchter unter diesen lebensfeindlichen Umständen aus. Ständig leiden sie unter Hunger, denn da sie als Illegale über keine Lebensmittelkarten verfügen, bekommen sie auch keine Zuteilungen.
Nur dank der Lebensmittelpakete, die Emil Oestreicher so oft schickt, wie er kann, halten sich Mutter und Töchter über Wasser. Ansonsten sind sie eineinhalb Jahre völlig abhängig von dem Wohlwollen, das Adolf Pimber und seine Frau Marie ihnen entgegenbringen. Es sind eineinhalb Jahren geprägt von Hunger, Verzweiflung und Einsamkeit. Aber dank der Hilfe der Familie Pimper überleben Margarete Oestreicher und ihre Töchter das Nazi-Regime.

Nach dem Krieg zerbricht die Ehe von Emil und Margarete Oestreicher. Während der Vater in Hamburg bleiben will, und sich vornimmt, als Nazi-Jäger auch den letzten Täter dingfest zu machen, will die Mutter das Land verlassen, will keine Deutschen mehr sehen, die deutsche Sprache nicht mehr sprechen. Ihre Töchter gehen mit ihr in die USA. Marione beginnt ein Studium in New York. Psychologie und Kunst. Außerdem wird sie Aktivistin. In der US-Bürgerrechtsbewegung, in der Antikriegsbewegung, in der Frauen- und der Homosexuellen-Bewegung engagiert sie sich. Sie wird mehrfach verhaftet.
Marione wandert in die USA aus: „Ich will kein Opfer, ich will Kämpferin sein“
Noch heute, mit 88 Jahren, mischt sie mit, protestiert, wo immer sie es für wichtig hält. Während der Präsidentschaft von Donald Trump hat sie oft vor dem Weißen Haus gestanden, um ihn zum Teufel zu wünschen. Was sie antreibt? „Die wichtigste Lehre, die ich aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und dem Beispiel meines Vaters gezogen habe, ist, dass sich die Menschheit gegen Unterdrückung wehren muss, wo immer sie zutage tritt“, sagt sie. „Ich will kein Opfer, ich will Kämpferin sein.“
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Wegen der Operation Gomorrha leidet Marione Ingram noch heute unter Albträumen. Immer wieder von neuem durchlebt sie nachts den Feuersturm. Ihre Lungen sind vom Rauch und der heißen Asche, die während der Bombenangriffe in der Luft lagen, irreversibel geschädigt. Und doch war die „Operation Gomorrha“ Marione Ingrams großes Glück: Denn ohne den Angriff würde sie schon lange nicht mehr existieren.

Sie gilt heute als letzte überlebende Zeugin, die sowohl den Holocaust als auch die Operation Gomorrha überstanden hat. In den vergangenen Jahren ist sie regelmäßig Gast in Hamburg, hat zusammen mit Schülern des Friedrich-Ebert-Gymnasiums in Heimfeld mehrere Schulprojekte begleitet.
Und als am 8. Mai 2023 der Tag das Kriegsendes erstmals als offizieller Gedenktag begangen wurde, war Marione Ingram Ehrengast. Beim Festakt an der Nikolaikirche, zu dem Bürgerschaft und Senat gemeinsam geladen hatten, hielt sie eine vielbeachtete Rede.