Nach Mordanschlag auf Dutschke: Hamburgs Studenten wollen Springer stürmen
Ostern 1968 liegt Revolution in der Luft. In Hamburg gehen Tausende Studenten, Schüler und Lehrlinge auf die Straße, liefern sich erbitterte Schlachten mit der Polizei. Auslöser ist ein Mordanschlag auf Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin. 55 Jahre nach den Osterunruhen lässt die MOPO zwei Männer zu Wort kommen, die damals mit dabei waren: den Revoluzzer Karlo Roth und den Polizeibeamten Detlev Hohn. Unglaublich packend, was sie zu erzählen haben.
Ostern 1968 liegt Revolution in der Luft. In Hamburg gehen Tausende Studenten, Schüler und Lehrlinge auf die Straße, liefern sich erbitterte Schlachten mit der Polizei. Auslöser ist ein Mordanschlag auf Studentenführer Rudi Dutschke in Berlin. 55 Jahre nach den Osterunruhen lässt die MOPO zwei Männer zu Wort kommen, die damals mit dabei waren: den Revoluzzer Karlo Roth und den Polizeibeamten Detlev Hohn. Unglaublich packend, was sie zu erzählen haben.
Deutschland Anfang der 60er Jahre: Kein Land, in dem über die Verbrechen des Nazi-Regimes offen gesprochen wird. Im Gegenteil. Nazis sitzen noch an den Schalthebeln, sind Richter, Professoren, Polizisten. Schüler werden immer noch wie selbstverständlich von Lehrern geschlagen. Mitbestimmen? Von wegen! Gehorchen ist angesagt. Sex? Um Gottes willen nicht vor der Ehe. Und dass der Bündnispartner USA einen mörderischen Krieg in Vietnam führt, hat man gefälligst hinzunehmen.

Doch die Jugend hat die Nase voll. Sie sagt: Nein! Die Aufrührer tragen Fahnen mit den Porträts von Mao, Marx und Che Guevara durch die Straßen. Sie skandieren: „Ho! Ho! Ho Chi Minh!“ Der Name des vietnamesischen Revolutionsführers wird zum Schlachtruf. Die Jugend will eine andere Republik, eine, die frei ist, in der alle mitreden dürfen. Sie träumen von einem sozialistischen Staat, der anders ist, nicht wie die DDR. Und die Alten? Die schauen sich dieses Schauspiel entsetzt, verunsichert oder empört an, je nachdem.
Attentäter fragt: Sind Sie Rudi Dutschke? Schon fallen die Schüsse
Der Tag, der das Land nachhaltig prägen wird, ist der Gründonnerstag, 11. April 1968. Josef Bachmann, ein Rechtsextremist, reist aus München nach West-Berlin, um den Mann zu treffen, den viele Konservative für die Inkarnation des Bösen halten, mindestens aber für einen Agenten des Warschauer Pakts. Direkt vor dem Gebäude des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) spricht Bachmann den Gesuchten an: „Sind Sie Rudi Dutschke?“ Als der mit „Ja“ antwortet, eröffnet der Attentäter das Feuer, trifft Dutschke zwei Mal in den Kopf, einmal in die Brust. Es ist 16.35 Uhr. Der Studentenführer überlebt.

Die Nachricht vom Attentat verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Ähnlich wie in Berlin kommt es in Hamburg noch am selben Abend zu ersten Protesten. Gegen 19.50 Uhr meldet ein Streifenwagen an die Funkzentrale, dass sich im Univiertel Hunderte Studenten versammeln und sich Richtung Springer-Verlag in der Neustadt bewegen. Parolen werden gerufen, Farbeier auf die Fassade geworfen. Polizeibeamte drängen die Demonstranten zurück. Etwa zur selben Zeit versammeln sich auf dem Gänsemarkt 300 Menschen vor der Geschäftsstelle des „Hamburger Abendblatts“, protestieren gegen Verleger Axel Springer, nennen ihn „Mörder!“ und werfen Scheiben ein. Ansonsten bleibt alles friedlich. Noch.
Dass sich das bald ändern wird, ist spätestens dann klar, als in den Spätnachrichten eine Erklärung des SDS-Bundesvorstands veröffentlicht wird: „Nach dem Attentat auf Dutschke werden wir unsere Angriffe auf den Springer-Konzern als Zentrum der systematischen Hetzkampagne konzentrieren“, heißt es da. Der SDS kündigt für die Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag Aktionen an allen Springer-Niederlassungen an.

Dass die Studenten es ausgerechnet auf diesen Verlag abgesehen haben, hat Gründe. Während linksliberale Medien offen mit den Studenten sympathisieren, die seit Monaten fast jeden zweiten Tag gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze auf der Straße sind, schüren die Springer-Zeitungen den Hass und fordern „hartes Durchgreifen“ gegen die „akademischen Gammler“ und die „behaarte Affen“. Von „Abschieben“ und „Ausmerzen“ ist die Rede. Der Attentäter hat das wohl wörtlich genommen, davon sind die Studenten überzeugt. Die Parole lautet: „,Bild‘ hat mitgeschossen!“
Student Karlo Roth: „Es lebe die Revolution“
Sprecher des SDS in Hamburg ist Karl Heinz Roth, genannt „Karlo“, ein 25-jähriger Medizinstudent. Der Franke ist vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund nach Hamburg geschickt worden, um der dortigen SDS-Gruppe Schwung zu verleihen, denn die schwächelt ein wenig, ist an der Uni nur zweitstärkste Kraft hinter dem Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB). Auf einer Uni-Vollversammlung am Tag nach den Schüssen auf Dutschke ergreift der sprachgewaltige junge Mann das Wort, setzt sich über den zögernden AStA hinweg. Karlo Roth ruft: „Es lebe die Revolution. Auf zum Springer-Haus!“

55 Jahre danach erinnert sich Karlo Roth, inzwischen 80, an jene Tage: „Wir hatten schon häufiger vor Springer demonstriert, deshalb kannten wir das Terrain gut. Wir hatten Lageskizzen gefertigt, und dank einiger Elektrotechnik-Studenten, die den Polizeifunk abhörten, wussten wir immer genau, was die andere Seite vorhat.“ Rund 3000 Studenten beteiligen sich an der Aktion. Kein Fahrzeug soll das Springer-Gebäude verlassen. Die druckfrische Zeitung soll auf keinen Fall ausgeliefert werden, das ist das Ziel.
Wasserwerfer vor dem Springer-Verlag
Die Verlagsleitung jedoch drängt die Polizei, für die Lieferwagen eine Schneise durch die Demonstranten zu schlagen. Gegen 22.50 Uhr gibt die Einsatzleitung das Stichwort: „Blendax“, was so viel heißt wie: „Wir putzen euch weg!“ Es folgt der erste Durchbruchsversuch: Vorne fahren Wasserwerfer, dahinter die Lieferautos, deren Scheiben mit Zeitungsbündeln gepanzert sind.

Die Polizei trifft eine folgenschwere Fehlentscheidung: Ausgerechnet über die Caffamacherreihe, dort, wo es eine U-Bahn-Baustelle gibt und wo die Studenten mit Baumaterialien eine riesige Barrikade errichtet haben, soll der Durchbruch erfolgen. Es kommt zu einer heftigen Schlacht. Am Ende müssen die Beamten einsehen, dass es da kein Durchkommen gibt. Es regnet Steine auf sie herab. Alle Fahrzeuge müssen drehen. Erst der zweite Durchbruchsversuch gegen Mitternacht gelingt.
Detlev Hohn ist entsetzt über die Brutalität seiner Kollegen von der Polizei
An vorderster Front mit dabei: Detlev Hohn, der damals 24 Jahre ist, also genau in dem Alter, in dem auch die meisten Demonstranten sind. Doch er steht auf der anderen Seite der Absperrgitter, ist Polizeioberwachtmeister. Er, Spross einer sozialdemokratischen Familie, wird während der Osterunruhen als Kameramann eines Film-Trupps in den Einsatz geschickt. Er sieht die Brutalität seiner Kollegen durch den Sucher – und ist entsetzt.

Als die Demonstranten über den Karl-Muck-Platz (heute Johannes-Brahms-Platz) fliehen, werden sie von Polizeibeamten regelrecht gejagt, erzählt Hohn. Erwischen die Beamten einen, prügeln sie mit ihren Gummiknüppeln gnadenlos auf ihn ein. „Um Gottes willen, das dürfen sie nicht“, denkt Hohn damals. „Und dann hatten wir vom Filmtrupp eine Idee: Wir haben den Scheinwerfer angemacht und draufgehalten. Weil unsere Kollegen glaubten, dass es der NDR ist, der sie da aufnimmt, haben sie sofort aufgehört mit dem Prügeln.“
Hohn hat 1968 Sympathien für die Anliegen der Studenten. „Was für eine furchtbare Zeit war das doch!“, sagt er kopfschüttelnd. „Frauen brauchten eine Erlaubnis ihrer Männer, wenn sie arbeiten wollten. Kinder mussten einen Diener machen oder einen Knicks, wenn sie Erwachsene begrüßten. Und in Bremen war ein ehemaliger SS-Offizier sogar Polizeipräsident. Schrecklich!“
Am Ostermontag erreicht die Gewalt in Hamburg ihren Höhepunkt: Zunächst findet ein Ostermarsch statt, der friedlich bleibt. Doch gleich danach kommt es zu neuer Konfrontation, als Demonstranten auf das inzwischen mit Stacheldraht und Absperrgittern gesicherte Springer-Gebäude zumarschieren. Um ein Haar gibt es im Kornträgergang einen Toten: Aus Gründen, die bis heute nicht aufgeklärt sind, fährt plötzlich ein einzelner Springer-Lieferwagen direkt auf die Demonstranten zu. Ein junger Mann wird schwer verletzt, muss ins Krankenhaus.
„Die ganze Wut entlud sich“
Als abends auch noch bekannt wird, dass die Polizei zwei SDS-Aktivisten festgenommen hat, verlagern sich die Straßenschlachten zum Polizeipräsidium am Berliner Tor. Studenten werfen Steine. Das beantworten Polizeibeamte mit massivem Schlagstockeinsatz. Detlev Hohn erzählt, dass seine Kollegen die Studenten regelrecht verprügelt hätten. „Die ganze Wut entlud sich. Ich höre noch, wie sowohl von Polizisten als auch von Demonstranten immer lauter gerufen wurde: ,Aufhören! Aufhören!‘ Minutenlang standen wir uns fassungslos gegenüber. Ich war nicht der einzige Polizist, der unser Vorgehen überzogen fand.“
„Aggressivität und Inkompetenz“ attestiert Hohn der Polizeiführung von damals. „Aus Sicht unserer Einsatzleitung waren die Studenten keine Demonstranten mit Grundrechten, sondern Verbrecher, die es wagten, den Anweisungen der Obrigkeit zuwiderzuhandeln. Viele der kleinen Beamten, vor allem solche, die vom Land gekommen sind, sahen das genauso: Eine Unverschämtheit! Diese Studenten tun nicht, was die Polizei sagt. Da wird eben draufgehauen.“

„Chaos in der City“, titelt die MOPO tags darauf. Die einzige Nicht-Springer-Zeitung in der Stadt kritisiert einerseits die „kleine Gruppe von Rebellen“, die „es auf die Spitze trieb“, prangert aber auch die „Knüppelorgie“ der Polizei an, deren Beamte „vergessen haben, was man ihnen auf der Polizeischule beigebracht hat: Kühler Kopf und Besonnenheit.“
Karlo Roth ist heute Historiker und lebt in Bremen
Auch die folgenden Monate kommt die Stadt, kommt das ganze Land nicht zur Ruhe. Anfang Mai 1968 versucht die Staatsgewalt Rädelsführer Karlo Roth aus dem Verkehr zu ziehen und einzusperren. Vergeblich. Er taucht ab, ist ein Jahr auf der Flucht und organisiert von seinen Verstecken aus weiter Aktionen.

Nachdem sich der SDS 1970 selbst aufgelöst hat, beendet Roth sein Medizinstudium, wird 1973 Assistenzarzt am Hafenkrankenhaus, studiert Geschichte und schreibt etliche Bücher, insbesondere über den Nationalsozialismus. Heute ist er Vorstandsmitglied der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und lebt in Bremen.
Das könnte Sie auch interessieren: Hamburg vor 50 Jahren: „Räumt das Haus, ihr Schweine!”: Als bei Springer in Hamburg die Bomben explodieren
Detlev Hohn macht Karriere bei der Polizei. Dort verändert sich nach Ostern 1968 Vieles. Innensenator Heinz Ruhnau (SPD) revolutioniert die Polizeiausbildung. Der Grundgedanke des sogenannten „Hamburger Modells“ lautet: Der Bürger ist nicht der Feind. „Ein Polizeibeamter muss in der Lage sein“, so Detlev Hohn, „die Welt um sich herum zu verstehen und die Veränderungen als das zu begreifen, was sie sind: nämlich eine stetige normale Weiterentwicklung. Er darf diese Veränderung nicht als Bedrohung auffassen.“

Mehr zur Geschichte der 68er Studentenbewegung in Hamburg gibt es hier: https://sds-apo68hh.de. Hohn hat versucht, seine Arbeit stets nach diesem Grundsatz zu machen. Bis zu seiner Pensionierung 2003 leitet er als Polizeioberrat das Kommissariat 34 Langenhorn/Fuhlsbüttel. Er lebt heute als Pensionär in Stelle (Landkreis Harburg).