Mysteriöses Schiffsunglück in Hamburg: Welches Geheimnis birgt dieses Wrack?
Hamburgs Hafen ist nicht erst seit gestern das Tor zur Welt. Hiesige Kaufleute unterhalten schon im 16. Jahrhundert Handelsverbindungen mit fernen Ländern. Schiffe legen an und legen ab, sind bis an den Rand bepackt mit Waren aus allen Erdteilen. Am 2. Juli 1622 ereignet sich in Hamburg ein furchtbares Schiffsunglück, das bis heute Rätsel aufgibt.
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Hamburgs Hafen ist nicht erst seit gestern das Tor zur Welt. Hiesige Kaufleute unterhalten schon im 16. Jahrhundert Handelsverbindungen mit fernen Ländern. Schiffe legen an und legen ab, sind bis an den Rand bepackt mit Waren. Am 2. Juli 1622 ereignet sich in Hamburg ein furchtbares Schiffsunglück, das bis heute Rätsel aufgibt.
An diesem Tag soll die „Hillighe Georg“ in See stechen. Wie es damals Brauch ist, gibt Eigner Peter Janssen zum Abschied eine Feier. Er hat für den Abend Geschäftsfreunde und deren Frauen eingeladen. Nachdem an Land fürstlich gespeist wurde, bittet Janssen schließlich die ganze Gesellschaft zu einem Umtrunk an Bord seines Schiffes, das auf der Elbe vor Neumühlen auf Reede liegt.
Zur Erbauung seiner Gäste lässt Peter Janssen Salutschüsse abfeuern. Aus allen Rohren wird geschossen. Einmal, zweimal. Die Bitte der erschrockenen Damen, diesen Lärm zu unterlassen – so berichtet ein Chronist – ignorieren die Seeleute, zünden eine dritte Salve – und lösen so die furchtbare Explosion aus. „Mit erschrecklichem Donnerskrachen und feuriger Lohe“, so heißt es in der Überlieferung, fliegt das Schiff in die Luft.
Ein solches Unglück hat es in Hamburg bis dahin nicht gegeben. Deshalb hält ein Künstler das ungewöhnliche Ereignis in einem Kupferstich fest. Auf dem Bild – heute Eigentum des Museums für Hamburgische Geschichte – ist zu sehen, dass am Ufer die Menschen entsetzt zuschauen, wie eine gewaltige Stichflamme in den Himmel schießt und Körperteile durch die Luft fliegen. 45 Menschen sterben, darunter der Schiffseigner, seine Frau, zwei Söhne, elf Besatzungsmitglieder und eine Reihe hoch angesehener Kaufleute.
Am 2. Juli 1622 explodiert vor Neumühlen die „Hillighe Georg“
Aber wie konnte es zu einer solche Explosion überhaupt kommen? Das fragen sich damals viele. Laut Ladepapieren hätten sich kaum feuergefährliche Güter an Bord befinden dürfen: Fässer mit Stärkemehl, einige Tonnen Kupferplatten und 300 Ballen farbiger Brokatstoff. Aber offenbar waren die Papiere gefälscht, denn auch Schwarzpulver war an Bord. Wofür war es gedacht?
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1981 ist der Elbbagger „Odin“ damit beschäftigt, die Fahrrinne der Elbe vor Wittenbergen (Rissen) von Schlick zu befreien. Dabei kommt es zu einem der spektakulärsten Unterwasserfunde, die es in Norddeutschland je gegeben hat. Die Besatzung des Baggerschiffs stößt auf das Wrack eines 30 Meter langen sogenannten Kraweels, ein für damalige Zeiten typisches Handelsschiff. Nach und nach befördert der Elbbagger acht Tonnen Kupferbarren ans Tageslicht, Musketen, Messer und Messingschalen. Professor Jörgen Bracker, der zu dieser Zeit das Museum für Hamburgische Geschichte leitet – ein gelernter Archäologe –, ist elektrisiert.
Bracker stellt die Theorie auf, dass es sich bei dem Wrack um die 1622 vor Neumühlen explodierte „Hillighe Georg“ handelt. Die große räumliche Distanz zwischen Unglücks- und Fundort erklärt er damit, dass sich das brennende Schiff losgerissen habe und mit der einsetzenden Ebbe noch 16 Seemeilen weiter flussabwärts abgetrieben sei – und dann sank.
Sind die „Hillighe Georg“ und der Fund von Wittenbergen identisch?
Jörgen Bracker ist schon lange im Ruhestand. Aber das Wrack von Wittenbergen geht dem 85-Jährigen nicht aus dem Kopf. Jetzt hat er ein Buch darüber verfasst: einen Roman zwar, aber mit dem Anspruch, so nah wie möglich bei den Fakten zu bleiben. Wer „1622 – ein erbärmliches Unglück“ liest, lernt viel über den Dreißigjährigen Krieg und darüber, welche Rolle Hamburg dabei spielte.
Der Konflikt, der 1618 damit beginnt, dass in der Prager Burg protestantische böhmische Adelige zwei Statthalter des katholischen Kaisers aus dem Fenster werfen, bekommt eine Dynamik, die immer neue Kriege heraufbeschwört: den Böhmisch-Pfälzischen, den Niedersächsisch-Dänischen, den Schwedisch-Französischen und den Spanisch-Niederländischen Krieg.
Die unterschiedlichen europäischen Konflikte verdichten sich zu einem einzigen großen Kampf, und nach wenigen Jahren gleicht Deutschland einem Leichentuch. Zwischen drei und neun Millionen Bürger – da sind sich die Forscher uneins – verlieren ihr Leben. Bei einer Gesamtbevölkerung Deutschlands von 15 bis 20 Millionen auf jeden Fall eine unfassbar große Zahl. Ganze Landstriche werden entvölkert, Dörfer und Städte gebrandschatzt und geplündert, die Bewohner vergewaltigt und ermordet.
Die Geschichte führt uns zurück bis in den Dreißigjährigen Krieg
Nur die Stadt Hamburg, sie bleibt von all dem verschont. Und zwar dank des glücklichen Umstands, dass der niederländische Festungsbaumeister Johan van Valckenburgh die Stadt rechtzeitig mit Wällen und Bastionen in eine uneinnehmbare Festung verwandelt. Kein Heer wagt es, Hamburg anzugreifen.
Und die Wirtschaft der Stadt boomt, je länger der Krieg dauert. Alle Kriegsparteien nutzen die Metropole an Alster und Elbe als Handels-, Nachrichten- und Finanzplatz. Vor allem aber: Die Hansestadt ist Hauptwaffenlieferant, versorgt alle beteiligten Mächte mit Kanonen, Musketen und Schwarzpulver. An jeder Schlacht, die geschlagen wird, verdient Hamburg mit.
Genau an dieser Stelle kommt die „Hillighe George“ ins Spiel. Professor Bracker ist überzeugt, dass das Schiff in den Waffenschmuggel eingebunden war. Er glaubt auch zu wissen, welches Ziel das Segelschiff hatte: den spanischen Kriegshafen Malaga. Das Schwarzpulver und die Musketen, die sich an Bord der „Hillighe Georg“ befanden, waren – so ist Bracker überzeugt – für die spanische Armee bestimmt. Das Kupfer ebenfalls. „Daraus gossen die Spanier Münzen – den Sold für die Krieger.“
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Bedarf an Kriegsgerät hat Spanien jedenfalls zu jener Zeit. 1621 besteigt in Madrid Philipp IV. den Thron, ein kriegslüsterner Herrscher, der entschlossen ist, sich die Niederlande, die sich einige Jahrzehnte davor ihre Unabhängigkeit von Spanien erstritten haben, zurückzuholen. Dafür stellt er ab 1622 eine gewaltige Armee von 60.000 Mann auf, also genau in dem Jahr, in dem die „Hillighe Georg“ explodiert.
Hamburg belieferte alle Kriegsparteien mit Waffen
Einkömmlich ist der Waffenschmuggel zwar, aber auch gefährlich. Kapitäne, die den Versuch unternehmen, an Bord ihrer Schiffe heimlich Waffen zu transportieren, müssen sich sehr vorsehen, denn vor der Deutschen Bucht und auf der Elbe patrouillieren niederländische Kriegsschiffe, deren Aufgabe es ist, die Lieferung von Waffen an Spanien zu verhindern. Jedes Schiff, das verdächtig erscheint, wird aufgebracht, durchsucht und notfalls versenkt.
So erklärt Bracker auch, weshalb sich unter den 1981 aus der Elbe geborgenen Fundstücken der „Hillighe Georg“ mehrere fertig geladene Kanonen befanden: „Die Besatzung des Schiffes hatte sich – so kurz vor Beginn der Reise – bereits auf ein Zusammentreffen mit den Kontrolleuren vorbereitet und war gewillt, sich notfalls mit Waffengewalt zu verteidigen.“
So weit kommt es dann ja bekanntlich nicht. Bevor auch nur der Anker gelichtet wird, geht das Schiff in die Luft. Wie genau die Detonation ausgelöst wird, das wird allerdings wohl für immer ein Rätsel bleiben.
Aber wie es immerhin passiert sein könnte, das schildert Bracker in seinem Roman: Jemand, der verhindern will, dass die Spanier an Schwarzpulver und Musketen kommen, schleicht sich am 2. Juli 1622 an Bord und manipuliert eine Kanone. Als mit ihr dann ein Salutschuss abgegeben wird, kommt es zur Katastrophe.
Zur Ehrenrettung Hamburgs sei noch erwähnt: Die Stadt profitiert nicht nur vom Dreißigjährigen Krieg. Sie trägt auch viel dazu bei, dass das Morden ein Ende hat. Zwölf Jahre lang treffen sich in der Hansestadt immer wieder Unterhändler und bereiten unter Leitung von Senatssyndikus Johann Christoph Meurer die Friedensverträge vor, die schließlich 1648 in Münster unterzeichnet werden. Aus Freude darüber, dass der schreckliche Krieg vorüber ist, läuten in Hamburg am 29. Oktober 1648 eineinhalb Stunden lang alle Glocken.
Historikerstreit: Ein Wrack, aber zwei Theorien
Der Roman von Jörgen Bracker wird am 17. Juli im Museum für Hamburgische Geschichte der Öffentlichkeit vorgestellt. Ralf Wiechmann, stellvertretender Chef des Hauses, wird aus diesem Anlass eine Ansprache halten.
Das ist pikant, denn es fragt sich, was er sagen wird. Wie die MOPO erfuhr, teilt Wiechmann die Theorien seines einstigen Chefs nicht. Natürlich besteht auch für Wiechmann kein Zweifel daran, dass 1622 die „Hillighe Georg“ in Neumühlen explodierte – aber der Historiker ist überzeugt, dass es sich beim Wrack von Wittenbergen um ein anderes Schiff handelt.
Laut Wiechmann haben Untersuchungen des Holzes aus dem Wrack ergeben, dass die für den Bau verwendeten Bäume 1571 gefällt wurden. Gezimmert wurde das Schiff dann wohl um 1580. Laut Wiechmann betrug die Lebenszeit von Schiffen zu jener Zeit nur in äußerst seltenen Fällen 40 Jahre oder mehr.
Außerdem: Alle Gegenstände, die im Wrack von Wittenbergen gefunden wurden – Kanonen, Musketen und Münzen –, stammen aus der Zeit zwischen 1560 und 1580. Das Schiff müsse also nach 1580, aber sicher nicht viel später als 1600 gesunken sein, so Wiechmann.
Wrack von Wittenbergen: Ein Sklavenhändler-Schiff?
Hoch spannend ist das, was der Historiker über das Kupfer an Bord sagt: Die Zusammensetzung einiger Barren aus dem Wrack sei identisch mit dem Kupfer sogenannter Manillen, die auf einem aus dem 16. Jahrhundert stammenden portugiesischen Schiffswrack vor den Kapverdischen Inseln gefunden wurden. Daraus schließt Wiechmann, dass das bei Wittenbergen gefundene Schiff ebenfalls eingebunden war in den Fernhandel mit Afrika.
Bei Manillen – Armreifen aus Kupfer – handelte es sich um die erste allgemein austauschbare Währung Westafrikas. Die Portugiesen, die regen Handel mit dem Königreich Benin trieben, importierten Kupfer aus Deutschland zur Herstellung solcher Manillen und tauschten damit in Afrika Waren ein: Elfenbein, Gewürze, aber auch Gold und Sklaven.
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Laut Wiechmann waren die Manillen zugleich das Rohmaterial für die berühmten Benin-Bronzen. „Die kontinuierliche Einfuhr von Gussmaterial durch europäische Kaufleute trug zum Aufschwung und damit zur Prachtentfaltung der Benin-Kunst bei.“
Waffenschmuggel nach Spanien oder Sklavenhandel in Afrika – jetzt gibt es also zwei Theorien darüber, was es mit dem Schiffswrack von Wittenbergen auf sich hat. Spannend sind sie beide.
Was Professor Bracker zu all dem sagt? Er gibt sich völlig entspannt: „Dass sich Historiker mal kabbeln, das gehört dazu“, sagt er – und betont, dass er an seiner Theorie festhält.
Abschließend noch folgender Hinweis: Die Vorstellung von Jörgen Brackers Roman „1622. Ein erbärmliches Unglück. Valckenbergh und die Waffenschmuggler“ findet am Sonntag, 17. Juli 2022, ab 14 Uhr im Großen Hörsaal des Museums für Hamburgische Geschichte statt. Es liest der Schauspieler Burghart Klaußner. Eintritt frei!