Dieser Star des FC St. Pauli floh vor den Nazis – und ging zur Fremdenlegion
Max Kulik war ein gefeierter Hamburger Fußballer. Mehr als 70 Jahre nach dessen Tod ist einem dreiköpfigen Team des FC St. Pauli-Museums die Sensation gelungen: Sie konnten die eindrucksvolle Biografie des Sportlers rekonstruieren, der zu den Pionieren des Vereins gehörte, aber völlig in Vergessenheit geraten war. Wieso Kulik 1938 aus Hamburg flüchtete und was für eine entbehrungsreihe Odyssee auf ihn wartete – lesen Sie selbst.
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Max Kulik war ein gefeierter Hamburger Fußballer. Mehr als 70 Jahre nach dessen Tod ist einem dreiköpfigen Team des FC St. Pauli-Museums die Sensation gelungen: Sie konnten die eindrucksvolle Biografie des Sportlers rekonstruieren, der zu den Pionieren des Vereins gehörte, aber völlig in Vergessenheit geraten war. Wieso Kulik 1938 aus Hamburg flüchtete und was für eine entbehrungsreihe Odyssee auf ihn wartete – lesen Sie selbst.
„Wir haben seit März praktisch im Staatsarchiv gewohnt“, berichtet Celina Albertz. Die 34-jährige Politikwissenschaftlerin hat sich gemeinsam mit Projektleiter Christopher Radke (36) und Archivar Thomas Glöy (55) ein Vierteljahr lang ganz dem Leben Kuliks gewidmet. So wie Taucher ein Wrack vom Grund des Ozeans heben, so haben die drei Wissenschaftler Kuliks Biografie aus den Tiefen des Vergessens geborgen. Die Ergebnisse ihrer Recherchen werden derzeit im FC St. Pauli-Museum präsentiert.
Kuliks Leben steht stellvertretend für das Schicksal Tausender jüdischer Sportler
Die fesselnde Ausstellung trägt den Titel: „Fußball. Flucht. Exil.“ Dabei steht die Lebensgeschichte Max Kuliks, der fast auf den Tag genau vor 125 Jahren geboren wurde, stellvertretend für das Schicksal tausender jüdischer Sportler, die unterm Hakenkreuz ausgegrenzt, gedemütigt, verfolgt und zur Flucht gezwungen wurden.
Als Kulik am 10. Juni 1898 auf St. Pauli auf die Welt kommt, gehört das Viertel erst seit vier Jahren offiziell zu Hamburg. 70.000 Menschen leben in der ehemaligen Vorstadt „Hamburger Berg“ – mehr als doppelt so viele wie heute. Die Grundstücke sind dicht bebaut, es gibt so gut wie keine Grünflächen.
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Die Kuliks gehören zu einer kleinen Minderheit auf St. Pauli. Nur 2,58 Prozent der Einwohner im Stadtteil sind Juden. Dass der Hamburg-St. Pauli Turnverein trotzdem außerordentlich viele jüdische Mitglieder hat, liegt daran, dass ein jüdisch dominiertes Viertel, nämlich die Neustadt, direkt an St. Pauli grenzt. Nachdem der Verein 1902 auf dem Heiligengeistfeld die größte und modernste Turnhalle Norddeutschlands eröffnet hat, explodiert die Zahl der Neuanmeldungen. Auch viele Juden treten ein.
Die Älteren verunglimpfen den Fußball als „englische Krankheit“
Etwa zu dieser Zeit wird in Hamburg eine neue Sportart populär: Die älteren Sportler nennen sie abfällig die „englische Krankheit“ und verunglimpfen sie als „Fußlümmelei“. Aber es nutzt alles nichts: Der Siegeszug des Fußballs ist nicht aufzuhalten. 1910 tritt die gesamte Spielabteilung des Hamburg-St. Pauli Turnvereins dem Norddeutschen Fußballverband bei – aus diesem Grund gilt heute das Jahr 1910 als offizielles Gründungsjahr des FC St. Pauli, den es als selbstständigen Klub erst seit 1924 gibt.
15 Jahre ist Max Kulik alt, als er 1913 dem Verein beitritt. Der Sohn eines Tapezierers steigt innerhalb weniger Monate von der Jugend- in die 2. Mannschaft auf, wo er sich als Stammspieler auf halbrechter Position etabliert. Ab Februar 1915 gehört Kulik zur Stammelf der 1. Mannschaft, spielt in einem Team mit Wilhelm Koch, dem späteren langjährigen Präsidenten des FC St. Pauli. Die Presse lobt Kuliks Einsatz auf dem Platz und seine technischen Fähigkeiten am Ball. Sein Engagement beschränkt sich aber nicht auf das Spielfeld. Ab Dezember 1915 – er ist jetzt 17 – nimmt er regelmäßig an Vereinsversammlungen teil und übernimmt auch Funktionärsaufgaben.
1917 – schon seit drei Jahren tobt der Erste Weltkrieg – wird Kulik Soldat und erlebt blutige Gemetzel in Frankreich und Belgien. Er gehört dem Hanseatischen Infanterie-Regiment 76 an, das über eine eigene Regiments-Fußball-Mannschaft verfügt, in der er häufig Seite an Seite mit dem berühmten HSV-Stürmer Tull Harder spielt, der später als SS-Mann Aufseher im Konzentrationslager Neuengamme werden wird.
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Nach Ende des Krieges studiert Kulik in Berlin und Hamburg Medizin. Zum Hamburg-St. Pauli Turnverein kehrt er nicht mehr zurück, sondern gehört ab 1920 dem Eimsbütteler Turnverein (ETV) an, wo er seine sportlich erfolgreichsten Jahre erlebt. Er hat einen festen Platz in der Startelf und wird von der Hamburger Sportpresse regelmäßig als einer der talentiertesten Spieler gefeiert. Er ist 1921 mit dabei, als der ETV überraschend den österreichischen Meister Rapid Wien – damals die beste Mannschaft Europas – mit 2 : 1 schlägt. Eine Sensation!
Sie sollen Schuld sein an der Niederlage – dabei haben Tausende Juden an der Front gekämpft
Das gesellschaftliche Klima verändert sich nach 1918 rasant – auch in den Sportvereinen. Juden erleben in der jungen Weimarer Republik fast täglich Anfeindungen. Jüdischen Fußballfunktionären wird vorgeworfen, „aus Gier“ die verpönte Professionalisierung des Fußballs voranzutreiben. Große Teile der Bevölkerung geben den Juden die Schuld an der deutschen Niederlage im Krieg, was die rund 100.000 jüdischen Männer, die für Deutschland an der Front gekämpft haben – darunter Kulik – , als Schlag ins Gesicht empfinden müssen.
1923 erhält er seine Zulassung als Arzt, findet im Freimaurer-Krankenhaus an der Sternschanze seine erste Anstellung und veröffentlicht zwischen 1923 und 1926 diverse sportmedizinische Fachaufsätze in nationalen und internationalen Fachblättern. Er hält auch Vorträge – etwa im April 1926 beim HSV über den „gesundheitlichen Wert des Fußballspiels vom sportärztlichen Standpunkt aus“. Schließlich eröffnet er 1926 in Eimsbüttel seine eigene Arztpraxis.
Im Freimaurer-Krankenhaus tritt Kulik seine erste Stelle als Arzt an
Ausgrenzung und Entrechtung von Juden gehören nach Adolf Hitlers Machtübernahme im Januar 1933 zum Alltag: Sportvereine nehmen keine Juden mehr in ihre Reihen auf und schließen jüdische Mitglieder aus. Im April 1933 erscheint der letzte Artikel Kuliks in der Vereinszeitung des ETV. Im Jahr danach verlässt er gezwungenermaßen den Klub. Fußball spielt er nun nur noch in der sogenannten Sportgruppe Schild, einem Verein, der zum Reichsbund jüdischer Frontsoldaten gehört.
In das Haus an der Schlankreye, in dem Kulik seine Arztpraxis betreibt, zieht 1935 Ernst Jensen ein, Chef der NSDAP-Ortsgruppe Schäferkamp: ein übler Antisemit, der alles daran setzt, Kulik zu schaden. Weil Jensen Kuliks Patienten attackiert und bedrängt, brechen die Praxis-Einnahmen weg.
1936 heiratet Max Kulik die Französin Louise Charlotte Hübner. Sie ist keine Jüdin, deshalb muss die Hochzeit in Nizza stattfinden – die NS-Rassengesetze verbieten jetzt Eheschließungen zwischen Juden und „Ariern“. Max Kulik fasst den Entschluss, Nazi-Deutschland zu verlassen. Die Beschaffung der nötigen Papiere ist allerdings kompliziert und teuer. Allein für die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“, die die Nazis den auswanderungswilligen Juden abknöpfen, muss Kulik 15.000 Reichsmark aufbringen.
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Kulik fasst den Entschluss, Deutschland zu verlassen – eine Odyssee beginnt
Im Februar 1938 wird Max Kulik von der Gestapo festgenommen und im KZ Fuhlsbüttel inhaftiert. Er hat großes Glück: Da er bereits über ein gültiges Visum für Frankreich verfügt, kommt er schon nach wenigen Tagen wieder frei – mit der Auflage, Deutschland sofort zu verlassen. Er wird später zu Papier bringen, ihn habe die Haft seelisch, geistig und körperlich gebrochen.
Im April 1938 fliehen Max Kulik und seine Frau mit dem Auto nach Frankreich. In Paris sucht er vergeblich eine Arbeit. Die wenigen Ersparnisse sind bald aufgebraucht. Um sich über Wasser zu halten, verkaufen die Kuliks alles, was sie zu Geld machen können.
In Frankreich meldet sich Kulik zur Fremdenlegion
Besonders schlimm wird die Lage, als der Zweite Weltkrieg ausbricht und die französische Regierung „feindliche Ausländer“ aus Angst vor Spionage in Lager interniert – darunter auch Kulik. Um das Lager verlassen zu können, tritt er „freiwillig“ in die Fremdenlegion ein, wird nach Nordafrika geschickt und leidet dort unter den antisemitischen Vorurteilen, die unter den Kommandeuren der Legion weit verbreitet sind.
Nachdem die deutsche Wehrmacht Frankreich besetzt hat, wird die Fremdenlegion demobilisiert. Sämtliche deutschen Legionäre werden in Nordafrika interniert. Wie es Kulik gelingt, nach Frankreich zurückzukehren, ist unbekannt. Im Frühjahr 1941 befindet er sich jedenfalls in Marseille und versucht wie tausende andere Gefüchteter, ein Visum für die USA und ein Ticket für die Überfahrt zu ergattern.
Im Juni 1941 erreicht Kulik auf abenteuerlichen Umwegen New York. Nach dem Kriegseintritt der USA werden – ähnlich wie 1939 in Frankreich – sämtliche deutschen Flüchtlinge zu „gefährlichen Feinden“ erklärt, so groß ist die Angst vor Hitlers „fünfter Kolonne“. Besonders feindselig werden jüdische Flüchtlinge an der Westküste behandelt, deshalb kehrt Kulik 1942 nach New York zurück, wo er 1943 eine Arztpraxis eröffnet.
1941 erreicht Max Kulik auf Umwegen die USA
1954 – Kulik ist inzwischen US-Staatsbürger – stellt er bei der Stadt Hamburg einen Wiedergutmachungsantrag. Es dauert vier Jahre, bis ihm „wegen Schadens im beruflichen Fortkommen“ eine Entschädigung in Höhe von 15.077 Mark zugesprochen wird. Inzwischen ist er sehr krank, muss wegen eines schweren Herzleidens beruflich kürzertreten. 1959 stirbt er im Alter von 61 Jahren und wird auf dem jüdischen Maimonides Cemetery in Brooklyn beigesetzt.
Max Kulik selbst hat keine Kinder. Doch die Familie seines Bruders, die in den USA lebt – sie nennen sich inzwischen „Coolig“ – , ist hocherfreut über die großen Anstrengungen, die das Forscherteam des FC St. Pauli-Museums unternommen hat, um die Geschichte ihres Verwandten vor dem endgültigen Vergessen zu bewahren. „Wir sind in ständigem Austausch mit den Nachfahren“, erzählt Celina Albertz. „Wir konnten ihnen sogar Dinge über Max Kulik berichten, von denen sie nie gehört hatten. Im August wollen sie nach Hamburg kommen und sich die Ausstellung persönlich anschauen.“
Biographien von weiteren 200 jüdischen Sportlern werden erforscht
Das „Projekt Max Kulik“ ist erst der Anfang: Die Forscher des FC St. Pauli sind aktuell dabei, die Biografien von weiteren 200 vergessenen ehemaligen jüdischen Sportlern zu „heben“. Was sie antreibt? Die Überzeugung, dass es heute „wichtiger ist denn je, Erinnerung lebendig zu halten und daraus Schlüsse für Gegenwart und Zukunft zu ziehen“. Wir leben schließlich in Zeiten, in denen Antisemitismus, Rassismus und rechte Gewalt wieder stark zunehmen.
Die Ausstellung „Fußball. Flucht. Exil“ ist bis zum 27. August im FC St. Pauli-Museum (Heiligengeistfeld 1) zu sehen: freitags von 15 bis 19 Uhr, samstags von 11 bis 19 Uhr und sonntags von 10 bis 15 Uhr.