Die legendäre Hamburger Radrennbahn – und ihre große Katastrophe
Der schwärzeste Tag in der Geschichte der Grindelbergbahn ist der 12. Juni 1904. Tausende verfolgen an diesem Tag ein Radrennen – es handelt sich um ein sogenanntes Steherrennen: Dank des Windschattens der vorweg fahrenden Motorräder erreichen die Radsportler besonders hohe Geschwindigkeiten. Gefährlich hohe sogar! In einer Kurve passiert es dann: Ein Motorradfahrer verliert die Kontrolle über sein Gefährt. Es folgt eine Katastrophe.
Der schwärzeste Tag in der Geschichte der Grindelbergbahn ist der 12. Juni 1904. Tausende verfolgen an diesem Tag ein Radrennen – es handelt sich um ein sogenanntes Steherrennen: Dank des Windschattens der vorweg fahrenden Motorräder erreichen die Radsportler besonders hohe Geschwindigkeiten. Gefährlich hohe sogar! In einer Kurve passiert es dann: Ein Motorradfahrer verliert die Kontrolle über sein Gefährt. Es folgt eine Katastrophe.
„Mit unheimlicher Schnelligkeit – über 60 km/h – durchsauste der Motorradfahrer mit dem dahinterliegenden Rennfahrer Heiny die Bahn und raste die abschüssige Kurve herunter“, schreibt der Reporter der „Neuen Hamburger Zeitung“.
Ein entsetzlicher Schrei durchzitterte die Luft. Eine Dampfwolke stieg empor
„Dabei hatte Kritschmann sich zu weit nach rechts gehalten. Ein entsetzlicher Schrei durchzitterte die Luft. Eine Dampfwolke stieg empor und verhüllte sekundenlang, was sich zugetragen hat. Dann aber sah man ein wirres Knäuel hart an der Barriere des Fußgängerplatzes. Das Motorrad und Heinys Rad lagen an der Erde, unter ihm wälzten sich mehrere Menschen.“

Während Fahrer Heiny und sein Schrittmacher Kritschmann nur leicht verletzt sind, kommen einige Zuschauer ganz und gar nicht glimpflich davon. Eine Frau Knisch verliert ein Bein, der 15-jährige Willi Emme wird lebensgefährlich verletzt. Die Schuld an der Katastrophe geben die Richter später den Veranstaltern: Sie seien ihrer Sorgfaltspflicht nicht in ausreichender Weise nachgekommen.
Grindelbergbahn befand sich dort, wo heute das Holi-Kino ist
Auch wenn daraufhin verschärfte Sicherheitsvorkehrungen getroffen und die Banden in den Kurven verstärkt werden – der Ruf der Grindelbergbahn ist seit diesem „schwarzen Sonntag“ dahin. Nur zwei Jahre später wird der Betrieb für immer eingestellt, das Areal mit Wohnhäusern überbaut – heute befindet sich dort die Kreuzung Grindelberg/Schlankreye mit dem Holi-Kino und der U-Bahn-Station Hoheluftbrücke in unmittelbarer Nähe.
Die atemberaubend spannende Geschichte dieser längst vergessenen Radrennbahn hat der Hamburger Historiker Lars Amenda erforscht. Er ist auf bisher unveröffentlichte Fotos gestoßen, die ein gewisser Robert Wiesenhavern zwischen 1897 und 1906 aufgenommen hat. Er war ein genauso leidenschaftlicher Radfahrer wie Fotoamateur. Sein Bruder Friedo gründete 1895 in der Hamburger City ein Fotogeschäft, während er selbst einen Fahrradladen betrieb und sogar eine eigene Fahrradmarke kreierte.

Rund 80 herrliche Fotografien Wiesenhaverns sind erhalten: Sie zeigen das Geschehen auf und abseits der Rennbahn. Zu sehen sind Schiedsrichter in Cut und Zylinder, Radler am Start und zahllose Zuschauer, die sich mit Schirmen und Strohhüten gegen die Sommersonne schützen.
Das Fahrrad ist heute eines der angesagtesten Fortbewegungsmittel überhaupt, schließlich verwandelt Hamburg sich zurzeit in eine Fahrradstadt. Mitte des 19. Jahrhunderts dagegen war es ein Gerät für Freaks: Radfahrer galten anfangs als weltfremde Spinner, wurden von Kindern mit Stöcken und Steinen beworfen, und die Obrigkeit ging restriktiv gegen den „Unfug“ vor, den sie trieben. Am 2. Juli 1869 untersagte Altonas Polizei das „Reiten“ sogenannter Velocipeden auf der Elbchaussee und weitete das Verbot kurze Zeit später „auf alle Trottoirs der Straßen“ aus, auf alle Alleen und auf die Fußgängerwege der Palmaille und der Marktstraße. Bei Zuwiderhandlung drohten drei Taler Geldstrafe oder gar die „Confiscation der Fuhrwerke“.
Innerhalb kürzester Zeit wurde Radfahren unglaublich populär
Aber alle Verbote nützten nichts. Innerhalb der folgenden 30 Jahre nahm die Begeisterung fürs Radfahren geradezu explosionsartig zu. 1869 gründeten Fahrradpioniere den „Altonaer Bicycle-Club“ (ABC), einen der ersten Radsportvereine der Welt. Mitglieder waren ausschließlich Söhne aus gutem Hause, denn nur Reiche konnten sich die sündhaft teuren Drahtesel leisten – ein Hochrad kostete so viel, wie ein Arbeiter in einem ganzen Jahr verdiente.

Eine wahre „Revolution des Fahrrades“ registrierte im September 1896 die „Neue Hamburger Zeitung“ und schrieb: „Wer hätte vor einem Jahrzehnt, ja noch vor drei Jahren geglaubt, dass das Fahrrad eine solche Rolle spielen würde?“ Und 1897 brachte es der Autor eines Radfahrer-Handbuches auf den Punkt: „Vor kurzem noch fragte man skeptisch: ,Was, Sie – radeln!‘ – Heute heißt es: ,Ja, was, ist’s möglich, Sie radeln nicht?! – und im Stillen zieht der mitleidige Frager bereits seine Schlüsse über die offenbar gestörte Gesundheit oder das Spießbürgertum des oder der Gefragten!“
Publikumsmagnet: Sehen und gesehen werden, das war die Devise
In letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war es vor allem die Grindelbergbahn, die dazu beitrug, das Radfahren in Hamburg populär zu machen. Nachdem schon zuvor ähnliche Rennstrecken in München, Bremen und Berlin eröffnet worden waren, wollten Hamburgs Radsportvereine nicht länger zurückstehen und drängten darauf, ebenfalls einen Platz für Wettkämpfe und fürs Training zu bekommen: Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, schlossen sich 1885 der ABC, der Hamburger Bicycle-Club von 1882 und der Cyclisten-Club Hammonia zum „Renn-Verein Hamburg-Altonaer Radfahrer“ zusammen, pachteten das Gelände am Isebekkanal und beauftragten einen Architekten mit dem Bau der 500 Meter langen Bahn. Am 26. Juli 1885 wurde Einweihung gefeiert.

Ähnlich wie die Pferderennen, die es in Hamburg schon einige Zeit davor gab, mauserten sich die Radsport-Veranstaltungen sehr schnell zu echten Publikumsmagneten. Wer in Hamburg was auf sich hielt, kam zu den Rennen, die dreimal jährlich, im Frühjahr, Herbst und Sommer, stattfanden. 15.000 Leute bevölkerten dann das Velodrom. Sehen und gesehen werden – darum ging es. Die Bahn, so schrieben die „Hamburger Nachrichten“, „bot mit den zahlreichen Zelten, dem vielköpfigen Publikum und der auf der Tribüne bemerkbaren, eleganten Toiletten der Damen- und Herrenwelt einen bunt belebten Eindruck dar“.
Dank der Presse wurden Radrennfahrer zu Helden des Publikums
Radfahren und Radsport wurden zunehmend zum Zeichen der neuen, modernen und mobilen Zeit. Die Technik entwickelte sich rasant weiter: Die Hochräder wurden von sogenannten Niederrädern abgelöst, die den heutigen Drahteseln schon sehr ähnlich sahen. Die Kraftübertragung durch eine Fahrradkette statt durch Pedalen an der Achse, die neuartigen Luft- statt der alten Vollgummireifen – all das machte die Räder schneller. Und die Geschwindigkeitsgier des Publikums wurde immer größer. Die Zuschauer verlangten ständig nach neuen Höchstleistungen.

Dank der Presse wurden aus den Rennfahrern Stars, ja Helden. Vorbei die Zeiten, als Amateure gegeneinander antraten und es gerade mal eine goldene Uhr oder silberne Aschenbecher als Preise für die Bestplatzierten gab. Jetzt gingen Profis an den Start, die gut von den hochdotierten Preisgeldern leben und sich ganz aufs Radfahren konzentrieren konnten. Jugendliche fieberten mit bei den Rennen und hängten sich Bilder ihrer Favoriten an die Wand – lange bevor der Fußball sich durchsetzte und ähnliche angehimmelte Stars hervorbrachte.
Eins der herausragendsten Rennen in der Geschichte der Grindelbergbahn war das um den „Großen Preis von Hamburg“ im Sommer 1897. Veranstalter: die „Neue Hamburger Zeitung“, die sich von dem Wettbewerb Auflagensteigerungen und zusätzliche Werbeeinnahmen versprach. Preisgelder von insgesamt 6000 Mark lockten Fahrer aus dem In- und Ausland an. Die großen Rad-Idole jener Zeit nahmen teil: etwa der Franzose Paul Bourillon, aber auch die beiden deutschen Stars August Lehr und Willy Arend. Das Interesse an dem Rennen war so groß, dass die Schaulustigen nicht nur die Rennbahn selbst bevölkerten, sondern sogar auf den Dächern der Häuser ringsherum standen, um von dort das Spektakel zu verfolgen.
So war es nur eine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kam
„Der Entscheidungslauf wurde über die ganze letzte Runde im Spurt, der sich auf der Geraden zu einem mörderischen Endgefecht zuspitzte, gefahren“, schrieb die „Neue Hamburger Zeitung“ über das entscheidende 2000-Meter-Rennen. Am Ende überquerten Arend und Bourillon für viele Beobachter gleichzeitig als Erste die Ziellinie. Der Zielrichter erklärte jedoch Arend zum Sieger – was für Jubelstürme im Publikum und vergebliche Proteste der Franzosen sorgte. Unter den Klängen der deutschen Nationalhymne fuhr der Sieger die Bahn ab, danach intonierte die Kapelle die Marseillaise.

Auf der Grindelbergbahn ließ sich aus nächster Nähe verfolgen, wie sich die Gunst des Publikums innerhalb weniger Jahre von den Amateuren ab- und den Profis zuwandte. Immer beliebter wurden lange Steherrennen, die ein höheres Tempo versprachen. Besonders populär wurden Radrennen, bei denen Motorräder knatternd als Schrittmacher vorwegfuhren. Die Gefahr, die von diesen Maschinen ausging, wurde lange unterschätzt. So war es nur eine Frage der Zeit, bis es zur Katastrophe kam.
Wie bereits zu Beginn ausgeführt: Am 14. Juni 1904 geschah es. Ein Motorrad raste ins Publikum und verletzte zwei Menschen schwer. Der Veranstalter nahm das Unglück nicht etwa zum Anlass, das Rennen abzubrechen. Es wurde einfach fortgesetzt. Der Krankenwagen war direkt neben der Bahn abgestellt, um die Verletzten aufzunehmen. Zig Leute mussten mit aller Kraft die Zugpferde festhalten, denn sie wären sonst wegen der Motorräder, die alle 30 Sekunden an ihnen vorbeisausten, durchgegangen. Über diesen desaströsen Umgang mit der Katastrophe berichtete die Presse ausführlich. Der Ruf der Bahn litt darunter schwer.

Bizarres Wettrennen: Pferd gegen Rennrad
In der Zeit, in der keine Rennen stattfanden, war die Fläche im Inneren der Grindelbergbahn anderweitig vermietet: Plätze für Tennisspieler gab es, Fußballvereine trugen ihre Begegnungen aus, eine Zeitlang gab es sogar eine Eisbahn. Manchmal wurde auch die Rennstrecke selbst vermietet: beispielsweise an damals populäre Wild-West-Shows. So waren mehrfach „Texas-Jack“ und seine Cowboys zu Gast. Eine ganz besondere Attraktion stellte es dar, wenn der berühmte Westmann sich hoch zu Ross ein Rennen mit einem der Stars der Radfahrszene lieferte. Das Duell „Pferd gegen Rennrad“ ging übrigens jedes Mal zugunsten des Drahtesels aus.

Anderswo in Hamburg entstanden bald darauf deutlich modernere Radrennbahnen. Die Konkurrenz war so groß, dass sich der Betrieb der Grindelbergbahn wirtschaftlich nicht mehr darstellen ließ – und daher kam 1906 das Aus. Hamburg wuchs damals rapide – die Stadt durchstieß 1910 die Millionen-Einwohner-Grenze. Und so schluckt die nach Flächen hungernde Stadt das damals noch an der Peripherie gelegene Areal im Nullkommanichts.
Unser Buchtipp: „Grindelbergbahn – Radsport und Gesellschaft in Hamburg 1885-1906“ von Lars Amenda, 120 S., Hardcover, ISBN 978-3-949139-07-9, 19,80 Euro