Rebellion in Barmbek: Dutzende Tote auf Hamburgs Straßen beim Umsturzversuch
Alles ist von langer Hand vorbereitet. Pünktlich um 5 Uhr beginnt der Aufstand, der – so haben es sich die Mächtigen im Kreml ausgedacht – aus Deutschland eine Räterepublik machen und Startschuss zur Weltrevolution sein soll. Zu den erbittersten Kämpfen mit zahlreichen Toten kommt es in Barmbek. Genau 100 Jahre sind seither vergangen Ein fast vergessenes Ereignis der Hamburger Geschichte. Wie es zum Hamburger Aufstand gekommen ist, in welcher dramatischen Lage sich Deutschand damals befunden hat und welche ernsten Folgen der Aufstand hat – die MOPO erklärt es.
Alles ist von langer Hand vorbereitet. Pünktlich um 5 Uhr beginnt der Aufstand, der – so haben es sich die Mächtigen im Kreml ausgedacht – aus Deutschland eine Räterepublik machen und Startschuss zur Weltrevolution sein soll. Zu den erbittertsten Kämpfen kommt es in Barmbek. Innerhalb von zwei Tagen sterben 100 Menschen, darunter 18 Polizisten. Ein fast vergessenes Ereignis der Hamburger Geschichte. 100 Jahre sind seither vergangen.
Es ist der Morgen des 23. Oktober 1923. Die Männer der kommunistischen Hundertschaft aus Lokstedt, Langenfelde und Stellingen sind mitten in der Nacht unter einem Vorwand aus den Betten geholt worden. Erst um kurz vor 5 Uhr erfahren sie von ihrem Anführer Hermann Schmidt, worum es wirklich geht: darum, die Polizeiwache 42 an der Müggenkampstraße in Eimsbüttel zu stürmen und die dort lagernden Pistolen und Gewehre zu erbeuten – Waffen für den Kampf um die Macht.
Im Schutze der Dunkelheit nähern sich die Aufständischen der Wache. Fünf Schutzleute sind im Dienst, davon spielen gerade drei Karten – ihre Koppel mit den Pistolenhalftern hängen an der Wand. Die Beamten sind völlig ahnungslos. Während die Aufständischen draußen auf das Signal zum Losschlagen warten, biegt Hauptwachtmeister Hinrich Scharf um die Ecke – er hat gleich Dienstbeginn. Bevor ihm klar wird, was vor sich geht, wird Scharf aus nächster Nähe erschossen. Dann beginnt der Angriff. Schüsse fallen. Eine Handgranate fliegt in Richtung Wache. Ein Polizist sinkt getroffen in sich zusammen, einem seiner Kollegen ist der halbe Hals weggeschossen – er verblutet. Die anderen drei ergeben sich und werden gefesselt.
Pistolen- und Gewehrfeuer sind zu hören
Inzwischen sind überall in der Ferne Pistolen- und Gewehrfeuer und Explosionen zu hören. Das nährt unter den Männern die Zuversicht, dass ihr Aufstand Signalwirkung hat, dass die Massen sich ihnen anschließen und die ersehnte Diktatur des Proletariats unmittelbar bevorsteht. Eine Illusion, wie sich noch zeigen wird …

Krisenjahr 1923: Ruhrbesetzung, Hyperinflation – darauf haben die Feinde der jungen Demokratie nur gewartet
1923 steckt die Weimarer Republik in einer tiefen Krise. Zu Jahresbeginn geht‘s los mit einem Einmarsch französischer und belgischer Truppen ins Ruhrgebiet. Ausbleibende Reparationslieferungen sind für die einstigen Kriegsgegner willkommener Anlass, die Kontrolle über das industrielle Zentrum Deutschlands zu übernehmen. Erz und Kohle haben das Deutsche Reich stark gemacht – und gefährlich. Damit soll es für immer vorbei sein.
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Reichskanzler Wilhelm Cuno, ein parteiloser Wirtschaftsfachmann – bis 1922 war er Chef der Hamburger Reederei Hapag – ruft die Bevölkerung an der Ruhr zum passiven Widerstand auf. Zwei Millionen Menschen treten in den Ausstand. Als Cuno die Notenpresse anwirft, um den Streikenden weiter ihre Löhne zahlen zu können, gibt er der ohnehin angeschlagenen Wirtschaft den Rest: Frisches Geld ohne Gegenwert lässt den Wert der Mark ins Bodenlose stürzen.
Die Inflation steigert sich zur Hyperinflation. Das trifft vor allem die einfache Bevölkerung. Im September kostet ein Brot 118.000 Mark, nur vier Wochen später 800 Millionen. Das Geld ist bald das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt wird. Streiks, Plünderungen und Hungerunruhen erschüttern das Reich über Monate.
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Genau auf diesen Moment haben die Feinde der jungen Demokratie nur gewartet. Im Rheinland und in der Pfalz bekommen Separatisten Auftrieb. In Bayern planen völkische Organisationen einen „Marsch auf Berlin“ und die Errichtung einer Rechtsdiktatur. Adolf Hitler wird am 9. November in München versuchen, die Staatsgewalt an sich zu reißen, was im Kugelhagel endet.

Und dann sind da noch die Kommunisten, die fünf Jahre nach der gescheiterten Novemberrevolution 1918 immer noch davon träumen, Deutschland in eine Diktatur des Proletariats zu verwandeln. Papiere, die jahrzehntelang in Moskauer Geheimarchiven lagern und erst 1995 von Boris Jelzin für die Öffentlichkeit freigegeben werden, beweisen: Es sind die Sowjetführer in Moskau, darunter vor allem Leo Trotzki, die 1923 den Zeitpunkt für gekommen halten und die Regie führen beim geplanten Umsturz in Deutschland. Vorbild ist die Oktoberrevolution von 1917.
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KPD-Chef Heinrich Brandler, der sich im August noch skeptisch gezeigt und vor übereilten Schritten gewarnt hat, legt im September 1923 in Moskau bei einem Zusammentreffen mit den Führern der Kommunistischen Partei Russlands eine Kehrtwende hin und stimmt den Revolutionsplänen mit einem Mal nicht nur zu, sondern malt die Erfolgsaussichten sogar in rosigen Farben: Er verspricht, 253.000 Kommunisten stünden in Proletarischen Hundertschaften zum Kampf bereit. Aus ihnen könnten im Laufe von sechs bis acht Wochen 15 Divisionen gebildet werden. Das ist zwar purer Zweckoptimismus, aber Moskau schenkt Brandlers Worten nur zu gerne Glauben.
Reichswehr marschiert in Sachsen und Thüringen ein – wie reagieren die Kommunisten?
Und so wird die Maschinerie in Gang gesetzt: Revolutionsexperten und sehr viel Geld werden nach Deutschland geschickt. Leo Trotzki fordert die KPD auf, so schnell wie möglich in die von linken Sozialdemokraten geführten Landesregierungen von Sachsen und Thüringen einzutreten. Das Ziel dabei: Als Regierungsparteien Zugriff auf die Polizeien dieser Länder zu erhalten – vor allem auf deren Waffen. Schließlich sollen in Sachsen und in Thüringen jeweils 50.000 bis 60.000 Arbeiter mit Pistolen und Gewehren ausgestattet werden.

Doch die Reichsregierung unter Gustav Stresemann ahnt, was gespielt wird, und erteilt der Reichswehr Befehl, Sachsen und Thüringen zu besetzen. Generalleutnant Alfred Müller, Militärbefehlshaber von Dresden, lässt am 13. Oktober die Proletarischen Hundertschaften verbieten und unterstellt die sächsische Polizei seinem Befehl. Auf Grundlage einer von Reichspräsident Friedrich Ebert erlassenen Notverordnung wird die SPD/KPD-Regierung in Dresden ihres Amtes enthoben.
Jetzt überschlagen sich die Ereignisse. Die KPD-Zentrale fällt am 20. Oktober den Beschluss, eine für den nächsten Tag in Chemnitz einberufene Arbeiterkonferenz dazu zu nutzen, den Generalstreik auszurufen. Der Plan: Der Widerstand gegen die Reichswehr soll in den bewaffneten Aufstand übergehen. Doch die hochfliegenden Träume vom Sowjetdeutschland zerplatzen, denn die Mehrheit der 450 Delegierten will vom Generalstreik nichts wissen: Es zeigt sich, dass die Kommunisten völlig isoliert sind. Und so wird sie die deutsche Oktoberrevolution im letzten Moment abgeblasen.
Im letzten Moment wird die Revolution abgesagt – aber Hamburgs Kommunisten kämpfen trotzdem
Wieso die Genossen in Hamburg trotzdem losschlagen? Bis heute ist ungeklärt, ob die Entscheidung in Unkenntnis des Ausgangs der Chemnitzer Konferenz fällt oder in bewusster Opposition gegen die später als „rechtsopportunistisch“ gegeißelte Brandler-Zentrale? Hoffen die Hamburger, dass sich die Arbeiter im Rest des Reiches schon anschließen werden, wenn sie erstmal den Anfang gemacht haben?
Wie auch immer: Um 5 Uhr am Morgen des 23. Oktober beginnt der Aufstand. Zur gleichen Zeit wie in der Müggenkampstraße werden in Hamburg und in benachbarten preußischen Gemeinden 26 Polizeireviere angegriffen und 17 entwaffnet. Es sind vor allem Arbeiterviertel, in denen die Aufständischen operieren: Winterhude, Langenhorn, Barmbek, St. Georg, Hammerbrook, Borgfelde-Hamm und Schiffbek, das heutige Billstedt.

Der Plan ist, die Stadt von Westen, Norden und Osten einzukreisen. Anschließend wollen die Revolutionäre ins Zentrum vordringen, um die Schaltstellen der Macht zu besetzen. Doch das gelingt nicht. Die Zahl der Kämpfer ist zu klein, um alle Polizeireviere gleichzeitig anzugreifen. An die Kasernen an der Bundesstraße trauen sich die Aufständischen gar nicht erst heran. Einzelne Wachen werden rechtzeitig gewarnt und leisten erheblich Widerstand.
Selbst in den Polizeiwachen, die den Revolutionären in die Hände fallen, ist der Spuk in der Regel schnell vorbei. Die Wache in der Müggenkampstraße beispielsweise ist schon am Mittag des ersten Tages befreit. Bis zum Abend ist die Polizei fast überall in der Stadt Herr der Lage. Die Aufständischen schaffen es nicht, auch nur eine einzige öffentliche Einrichtung zu besetzen.
Die Aufständischen haben keinen Rückhalt: Republiktreue Arbeiter verteidigen die Demokratie
Vor allem aber: Die Masse der Arbeiter schließt sich den Revolutionären nicht an. Republiktreue Arbeiter helfen sogar mit, den Aufstand niederzuschlagen. 800 Freiwillige, meist Sozialdemokraten der „Vereinigung Republik“, einem republikanischen Wehrverband, melden sich als Hilfspolizisten und bewachen den Freihafen, so dass die Polizeikräfte zur Unterdrückung des Aufruhrs eingesetzt werden können.
Nur in Barmbek und Schiffbek gelingt es den Revoluzzern, sich festzusetzen. Beide Stadtteile sind stark kommunistisch geprägt. Die Bewohner versorgen die Kämpfer mit Nahrung, Getränken und Tabak. Männer, Frauen und Kinder fällen an rund 60 Stellen Bäume, reißen Laternen und Straßenbahnmasten aus der Verankerung und legen sie quer über die Fahrbahnen. Zwei Versuche der Polizei, mithilfe von Panzerwagen in das Viertel einzudringen und den Widerstand zu brechen, scheitern. Die Einheiten der Ordnungspolizei werden jedes Mal zurückgedrängt.

Die Aufständischen fühlen sich als Sieger. Umso größer ist das Entsetzen, als sie am Abend erfahren, dass die Revolution abgesagt ist und dass im ganzen Reich allein sie es sind, die auf den Barrikaden stehen. Es gibt keinen Generalstreik in Sachsen und Thüringen. Es ist auch keine Hilfe aus Sowjetrussland unterwegs. Alles war umsonst.
Daraufhin schleichen die Kämpfer so unauffällig davon, dass niemand etwas merkt. Die Polizei ist am Morgen des zweiten Tages – es ist Mittwoch, der 24. Oktober – sehr erstaunt, dass sie, als sie mit ihrem Großangriff startet, auf praktisch keine Gegenwehr mehr trifft. Nur vereinzelt fallen noch Schüsse. Nach einer Stunde ist Barmbek in ihrer Hand. Am Nachmittag ist auch in Schiffbek die Ordnung wiederhergestellt.
Der Aufstand bricht zusammen: 100 Tote, darunter 17 Polizisten und 24 Kommunisten

Die Bilanz des Aufstands: Rund 100 Menschen sind tot, darunter 17 Polizisten, 24 Kommunisten und 60 unbeteiligte Passanten. 983 Aufständische werden in den nächsten Tagen bei Razzien festgenommen und vor Gericht gestellt. Richter verhängen Hunderte Freiheits- und in mehreren Fällen auch Todesstrafen, die allerdings nicht vollstreckt werden.
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Hugo Urbahns, Hamburgs KPD-Chef, wird zu zehn Jahren Festungshaft verurteilt, kommt jedoch dank seiner Abgeordnetenimmunität frei. Ernst Thälmann und Hans Kippenberger, die beiden anderen Drahtzieher des Aufstands, verstecken sich, gehen in den Untergrund. Thälmann, der 1925 zum KPD-Chef aufsteigt, wird 1944 im KZ Buchenwald ermordet. Kippenberger fällt 1937 in der Sowjetunion Stalins Säuberungen zum Opfer und wird erschossen.
Der Hamburger Aufstand hat weitreichende Folgen: In Moskau wird Stalin nach Lenins Tod 1924 neuer starker Mann. Er rückt von der Idee der Weltrevolution ab und vertritt die These, dass der Sozialismus auch in nur einem Land aufgebaut werden könne. In Deutschland hat der Hamburger Aufstand den Gegensatz zwischen KPD und SPD verschärft. Ein gemeinsamer Kampf gegen den Nationalsozialismus ist am Ende der Weimarer Republik deshalb nicht mehr möglich.

Unser Tipp: Mehr zum Thema Kommunistenaufstand können Sie lesen im MOPO-Geschichtsmagazin „Unser Hamburg“. Außerdem: Noch ist noch bis zum 7. Januar im Museum für Hamburgische Geschichte eine Ausstellung zum Thema zu sehen: „Hamburg 1923 – Die bedrohte Stadt“.