Jubel und wehende Fahnen: Hamburg steht kopf, als der Kriegsheld zu Besuch ist
Überall wehen Fahnen. Die Kinder haben schulfrei. Rechts und links der Straßen stehen die Menschen dichtgedrängt. Jeder will möglichst weit vorne sein, um die beste Sicht zu haben. Manche klettern sogar auf die Dächer der Straßenbahnen. Alle jubeln und winken, als sein Wagen in Sichtweite kommt. Denn der Mann, der am 4. Mai 1926 seinen Antrittsbesuch in der Hansestadt macht, ist ein Volksheld.
Überall wehen Fahnen. Die Kinder haben schulfrei. Rechts und links der Straßen stehen die Menschen dichtgedrängt. Jeder will möglichst weit vorne sein, um die beste Sicht zu haben. Manche klettern sogar auf die Dächer der Straßenbahnen. Alle jubeln und winken, als sein Wagen in Sichtweite kommt. Denn der Mann, der am 4. Mai 1926 seinen Antrittsbesuch in der Hansestadt macht, ist ein Volksheld.
Paul von Hindenburg ist nach dem Tod von Friedrich Ebert (SPD) 1925 zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches gewählt worden. Sein Sieg war eine große Überraschung und vor allem für Sozialdemokraten ein großer Schock. Denn Hindenburg ist glühender Monarchist, lehnt die Demokratie, die er nun repräsentieren soll, tief im Innersten ab. Aber er ist ungemein populär, seit er 1914 im Ersten Weltkrieg in der Schlacht von Tannenberg die Russen schlug.

Das kostet Überwindung: Sozialdemokraten müssen dem General des Kaisers die Hand schütteln
Hamburg wird 1926 von einer Koalition aus SPD, Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und Deutscher Volkspartei (DVP) regiert. Vor allem für die Sozialdemokraten ist die Visite des Reichspräsidenten eine große Herausforderung. Bürgerschaftspräsident Rudolf Roß und Polizeisenator Adolph Schönfelder kommen nicht umhin, dem Mann, der immer ihr erbittertster Gegner war, die Hand zu schütteln: dem General des Kaisers. Das kostet Überwindung.
Selbst im „roten“ Hamburg hatte Hindenburg bei der Wahl zum Reichspräsidenten am 26. April 1925 mehr Stimmen als der Gegenkandidat Wilhelm Marx, sogar in Arbeitervierteln. Auch Anhänger der SPD stehen an den Straßen Spalier und wedeln mit ihren Fähnchen, während der Wagen des Reichspräsidenten durch Hamburgs Straßen kurvt.

Aber es jubeln nicht alle gleich: Der Teil der Bevölkerung, der hinter der Weimarer Republik steht, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, wedelt Schwarz-Rot-Gold, die anderen mit Schwarz-Weiß-Rot, den Farben des Kaiserreichs. So hat entlang der Esplanade das sozialdemokratische „Reichsbanner“ Spalier gebildet und die Straße in ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen getaucht. Am Ende der Esplanade, wo die Lombardsbrücke beginnt, ändert sich das Bild schlagartig: Dort haben die Kriegervereine, der „Stahlhelm“, Korpsstudenten sowie Jugendorganisationen bürgerlicher Parteien Aufstellung genommen – und deshalb sind die alten Farben vorherrschend.
Der Flaggenstreit zeigt, wie tief gespalten die Weimarer Republik ist

Der Wettstreit der Fahnen hat einen ernsten Hintergrund: Just zu der Zeit, als Hindenburg Hamburg besucht, ist der sogenannte Flaggenstreit entbrannt. Der Hamburger Handels- und Schifffahrts-Senator Wilhelm Burchard (DVP) hatte in Berlin beim Reichskanzler Hans Luther angeregt, eine neue Flaggenverordnung zu erlassen, und stieß auf Interesse: Demnach soll künftig bei deutschen Vertretungen im Ausland neben der schwarz-rot-goldenen Reichs- auch die kaiserliche schwarz-weiß-rote Fahne aufgezogen werden, die immer noch als Handelsfahne in Gebrauch ist.
Für alle Anhänger der Republik ein Affront. Mit Spannung wird erwartet, ob Hindenburg seinen Hamburg-Besuch dazu nutzt, die neue Verordnung in Kraft zu setzen. Wenn ja, könnte das zu Protesten führen, denn die Sozialdemokraten wollen Schwarz-Weiß-Rot am liebsten ganz abschaffen. Hindenburg sagt klugerweise kein Wort zu diesem Thema. Noch nicht.

Zehn Stunden dauert der Aufenthalt in Hamburg. Am frühen Nachmittag trifft er am Dammtorbahnhof mit einem Schnellzug aus Berlin ein. Er trägt nicht die kaiserliche Uniform, sondern den zivilen Rock. Auf dem Kopf keine Pickelhaube, sondern einen Zylinder.
Die Stadt macht dem Gast ein Geschenk: die Hindenburgstraße
Im offenen Wagen geht es bei langsamer Fahrt Richtung Rathaus. Der Rathausmarkt ist schwarz vor Menschen. Vor dem Rathaus hat eine Hundertschaft der kasernierten Ordnungspolizei Aufstellung genommen, deren Front Hindenburg abschreitet.
Der Reichspräsident macht zunächst eine zweistündige Hafenrundfahrt auf dem Staatsdampfer „Hamburg“ und kehrt abends zurück zum Rathaus, wo es einen Festempfang gibt. Die Stadt Hamburg macht dem Gast eine ganze Straße zum Geschenk: Die Straße, die vom Borgweg über den Stadtpark durch Alsterdorf führt, wird in Hindenburgstraße umbenannt. Der Beschenkte bedankt sich, lobt: „Hamburg war von jeher eine Brücke, die unser Vaterland mit der Welt verbindet.“

Dreimal erscheint der Reichspräsident an diesem Abend auf dem Balkon und winkt den Massen zu, bevor er gegen 22 Uhr die Rückreise antritt. An den Straßen zum Dammtor sind Fackeln entzündet. Am Jungfernstieg kommt es zu einem Zwischenfall. Rufe ertönen: „Nieder mit dem Massenmörder!“ Hindenburg lässt sich von dem Zwischenfall nicht weiter aus der Ruhe bringen. Einem Begleiter murmelt er zu: „Die Leute haben ja von ihrem Standpunkt aus ganz recht.“
Hindenburg-Gegner brüllen: „Nieder mit dem Massenmörder!“
Es ist drei Minuten nach elf Uhr, als sich der Nachtzug in Bewegung setzt. Als er morgens gegen sechs Uhr im Lehrter Bahnhof eintrifft, ist die Bombe geplatzt: Die Zeitungen berichten schon über die neue Flaggenverordnung. Die antidemokratische schwarz-weiß-rote Fahne darf ab sofort neben der schwarz-rot-goldenen gehisst werden. Ein Akt mit Symbolkraft. Die Folge ist eine Regierungskrise. In Hamburg wie in Berlin. Reichskanzler Luther tritt zurück, die Flaggenverordnung jedoch bleibt. Noch steht die Weimarer Republik auf festem Fundament. Noch.
Als vier Jahre später im Zuge der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosenzahlen in die Höhe schnellen und rechts- wie linksextremistische Parteien immer größeren Zulauf erhalten, zerbricht die SPD-geführte Große Koalition in Berlin, und da es den demokratischen Parteien im Reichstag nicht gelingt, Kompromisse einzugehen und eine neue Regierung zu bilden, entmachtet sich das Parlament selbst.

Aufgrund von Sonderrechten, die die Weimarer Verfassung dem Reichspräsidenten gewährt, kann Hindenburg von da an sogenannte Präsidialkabinette einsetzen, die sich nicht mehr auf eine parlamentarische Mehrheit, sondern allein auf seine Autorität stützen. Am 30. Januar 1933 ernennt Hindenburg Adolf Hitler, dessen Partei bei den Reichstagswahlen im November des Vorjahres auf 33,1 Prozent der Stimmen gekommen war, zum Reichskanzler.
Der Mann, dem die Hamburger 1926 begeistert zugewunken haben, wird damit zum Totengräber der ersten deutschen Demokratie. Hindenburg macht sich zum Steigbügelhalter des Mannes, der nur wenige Jahre später die ganz Welt ins Verderben stürzt.