Anarchie, Prügeleien, Herzinfarkt: Hamburgs wahnsinniger Winterschlussverkauf
Es ist die totale Anarchie, jeden letzten Montag im Januar. Menschenmassen stehen Stunden vor Geschäftsbeginn vor den großen Kaufhäusern, rennen bei Geschäftsöffnung die Verkäufer fast über den Haufen, um sich dann an Wühltischen um die besten Schnäppchen zu zanken. Wahnsinn Winterschlussverkauf! Offiziell gibt es ihn seit fast 20 Jahren nicht mehr. Erinnerung an eine Zeit, in der Menschen mit ausgefahrenen Ellenbogen die Läden stürmten, Verkäuferinnen kurz vorm Nervenzusammenbruch standen und es einen Kunden sogar mit einem Herzanfall niederstreckte.
Es ist die totale Anarchie, jeden letzten Montag im Januar: Menschenmassen stehen Stunden vor Geschäftsbeginn vor den großen Kaufhäusern, rennen bei Geschäftsöffnung die Verkäufer fast über den Haufen, um sich dann an Wühltischen um die besten Schnäppchen zu zanken. Wahnsinn Winterschlussverkauf! Offiziell gibt es ihn seit fast 20 Jahren nicht mehr. Erinnerung an eine Zeit, in der Menschen mit ausgefahrenen Ellenbogen die Läden stürmten, Verkäuferinnen kurz vorm Nervenzusammenbruch standen und es einen Kunden sogar mit einem Herzanfall niederstreckte.
Der 25. Januar 1988 ist so ein Tag, an dem die Gier nach Billigware ein Kaufhaus tief ins Chaos stürzt. Der Winterschlussverkauf (WSV) beginnt: Schon um 5.30 Uhr legen sich die ersten Rabatt-Profis in der Innenstadt vor verschlossenen Türen auf die Lauer. Unter manchen Jeans und Jogging-Anzügen lugt noch der Schlafanzug hervor. Vor Kaufhof an der Mönckebergstraße werden Tee und Brezeln für je zehn Pfennig an die Wartenden verteilt – zur Stärkung. Sie sind voller Adrenalin und wollen nur eines: tolle Sachen für wenig Geld ergattern!

Als die Türen um 8 Uhr endlich öffnen, gibt es kein Halten mehr. Ein Mann ruft: „Weg da, aber schnell“ und bahnt sich den schnellsten Weg zu den Grabbeltischen. Am Tisch mit den herabgesetzten Winterschals wird gleich von zwei Seiten an einem Kopftuch gezerrt. Eine Frau schlägt einem achtjährigen Mädchen im Gewühl mehrfach auf den Kopf. Eine gestresste Verkäuferin verliert die Nerven und fängt an zu schreien.
Und um 8.07 Uhr bricht Kunde Kurt H. zwischen Kleiderständern zusammen – Herzanfall. Ein anderer Kunde versucht, ihn wiederzubeleben. Kurz danach bahnt sich der Notarzt durch das Getümmel und behandelt ihn inmitten von Stoffhosen. Kurt H. kommt ins Krankenhaus.
Den Shoppingrausch stört der Notfall nur kurz. Binnen zweier Stunden sind die 100.000 Artikel für je zehn D-Mark vergriffen. Wer etwas davon ergattern konnte, geht zufrieden und mit einem kleinen Triumphgefühl nach Hause.

Schlussverkäufe haben eine lange Geschichte. 1909 wurde mit dem „Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb“ erstmals die Möglichkeit geschaffen, Produkte vergünstigt an die Allgemeinheit abzugeben. Vorher kamen ausschließlich Werksangehörige und bestimmte öffentliche Bedienstete an die ermäßigten Waren. Von nun an gab es Ende des Sommers und Ende des Winters für je zwei Wochen Sonderkonditionen – allerdings nur für Saisonware.
Der Winterschlussverkauf startete jeweils in der letzten Januarwoche. Das ist vorbei, denn seit der Reform des Wettbewerbsrechts im Jahr 2004 können die Händler jederzeit zum Rotstift greifen.

Auch der Start des WSV am 30. Januar 1989 geriet übrigens außer Kontrolle. Hunderte Menschen warten am Morgen vor Kaufhof in der Mönckebergstraße. Schon um 7.52 Uhr öffnen sich die Türen. „Eigentlich wollten wir erst um 8 Uhr öffnen, aber wir hatten Angst um unsere Scheiben“, sagt der Kaufhaus-Chef. Kräftige Mitarbeiter aus der Fleisch-Abteilung hatten noch versucht, die Leute zurückzuhalten – doch sie wurden einfach überrannt.
Eine Verkäuferin, seit 23 Jahren im Job, ist von grabschenden Arme umzingelt und bekommt Panik. „Helft mir! Die sind wie Bestien! Die erdrücken mich gleich!”, ruft sie. Dann bricht sie in Tränen aus.
Winterschlussverkauf 1989: 500 Uhren in 30 Minuten verkauft
Die arme Frau wird nach Hause geschickt und schwört sich, nie wieder am ersten Tag des Schlussverkaufs zu arbeiten. Nach einer halben Stunde sind 500 Uhren ausverkauft. In ihrer Gier nach Schäppchen reißen und rupfen die Leute an den Waren herum. „In der Schuhabteilung sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen“, steht am nächsten Tag in der MOPO. Das Alsterhaus verkauft an diesem Tag in drei Stunden 5000 Meter Seide und 500 Dreierpackungen mit Strumpfhosen. Karstadt in Altona wird in einer Stunde 1000 Kissen los.

Für viele Menschen sind die Schlussverkäufe eine große Sache, auf die sie regelrecht hinfiebern, vor allem in den 50er, 60er und 70er Jahren. Im Januar 1977 informiert die MOPO gleich auf einer Doppelseite über das bevorstehende Ereignis, Handels-Experten geben Tipps, ein Psychologe erklärt die Lust am Shopping-Rausch und Verkäuferin Margitta bittet die Kunden via MOPO: „Seien Sie doch mal ein bisschen freundlich.“
Auch hier wird zusammengerafft, was geht. Hauptsache, billig. Ein MOPO-Reporter schreibt am nächsten Tag verwundert: „Blusen, Pullover oder Hosen probieren sie gar nicht an. Ein kritischer Blick auf Größe und Farbe genügt ihnen oft für die spontane Kaufentscheidung!”

Im Januar 1964 freuten sich die Hamburger über Preisnachlässe zwischen 20 und 70 Prozent. Ein Bekleidungsgeschäft in der Innenstadt warb mit Winterkleidern für sieben D-Mark (3,50 Euro) und Herrenanzügen aus Wolle für 39,75 Mark (20 Euro). Viele Hamburger machten sich auf den Weg in die City. „Gegen Mittag schwoll der Strom der Käufer geradezu beängstigend an, obwohl diesmal nur wenige Geschäftsleute mit ihren sonst üblichen knalligen Werbegags locken“, beobachtete ein MOPO-Reporter.

Immer höchst begehrt sind Stoffe. Um vor dem Andrang nicht überrannt zu werden, stellten sich die Verkäufer im Januar 1959 in einem Hamburger Innenstadt-Kaufhaus kurzerhand auf Tische – und schnitten die Bahnen aus luftiger Höhe zu.

Seit 19 Jahren ist der WSV Geschichte. Auch viele der Hamburger Kaufhäuser, vor denen damals Menschenmassen in aller Frühe der Öffnung entgegenfieberten, gibt es nicht mehr – zum Beispiel Karstadt in Altona oder Kaufhof in der Mönckebergstraße. Viele Hamburger erinnern sich trotzdem noch immer gern an diese Wahnsinns-Tage Ende Januar, die voller Adrenalin und kleiner Triumphe waren.