Hungerstreik und Werksbesetzung: Der Kampf gegen das Werftensterben in Hamburg
Wenn Holger Mahler heute die Fotos anschaut von dem Arbeitskampf damals, dann ist da wieder dieses Feuer in seinen Augen. 40 Jahre jünger wirkt er plötzlich. Zwar haben die Arbeiter, die 1983 neun Tage lang die Howaldtswerke-Deutsche Werft GmbH (HDW) besetzt hielten, ihr Ziel verfehlt. Sie konnten die Massenentlassungen auf Hamburgs größter Werft nicht verhindern. „Trotzdem waren wir die Sieger“, findet er. „Weil wir uns nicht einfach unserem Schicksal ergeben haben. Wir haben gekämpft und uns so unsere Würde bewahrt.“
Wenn Holger Mahler heute die Fotos anschaut von dem Arbeitskampf damals, dann ist da wieder dieses Feuer in seinen Augen. 40 Jahre jünger wirkt er plötzlich. Zwar haben die Arbeiter, die 1983 neun Tage lang die Howaldtswerke-Deutsche Werft GmbH (HDW) besetzt hielten, ihr Ziel verfehlt. Sie konnten die Massenentlassungen auf Hamburgs größter Werft nicht verhindern. „Trotzdem waren wir die Sieger“, findet er. „Weil wir uns nicht einfach unserem Schicksal ergeben haben. Wir haben gekämpft und uns so unsere Würde bewahrt.“
Nicht nur Holger Mahler, der als Betriebsratsvorsitzender eine zentrale Rolle bei diesem spektakulären Arbeitskampf spielte, sieht das so. Die meisten seiner ehemaligen Kollegen teilen seine Überzeugung. Wer alte HDWler fragt, was sie empfinden, wenn sie an den 12. September 1983 denken, hört fast immer diese Antwort: „Ich bin stolz. Stolz darauf, dass wir es wenigstens versucht haben.“

Und das dürfen sie auch sein. Denn sie haben großen Mut bewiesen. Eine Werksbesetzung – später ein häufig angewendetes Mittel in Arbeitskämpfen – hatte es in Deutschland bis dahin nie gegeben. Es waren die HDW-Arbeiter, die es als Erste wagten.
„Wir haben gekämpft und uns so unsere Würde bewahrt“
In ihrem aussichtslosen Kampf gegen das Werftensterben verbrachten mehrere Hundert Kollegen nicht nur die Tage, sondern auch die Nächte auf dem Werksgelände. Sie schliefen in der Kantine auf Campingpritschen, und oftmals fanden sie gar keine Ruhe, denn die Sorge war immer da, entweder von der Polizei abgeholt oder fristlos gekündigt zu werden – oder beides.
„Ich bin Tag und Nacht für die Firma da gewesen und das fast drei Jahrzehnte lang“, sagte ein Arbeiter damals. „Jetzt bin ich auch Tag und Nacht mit dabei, um diesen Arbeitsplatz zu erhalten.“
Getragen wurden die Arbeiter von der großen Solidarität, die ihnen die Bevölkerung entgegenbrachte. „Bäcker kamen und lieferten uns Brötchen für die ganze Belegschaft“, erzählt Mahler. „Andere brachten Kaffee und Kuchen an den Werkszaun, der ,Old Commercial Room‘ spendierte Labskaus und ein SPD-Arbeitskreis schickte eine Palette serbische Bohnensuppe.“

Geldspenden gab es auch in großer Zahl: Kinder schlachteten ihr Sparschwein. In Schulen ließen Schüler und in Firmen die Kollegen den Hut rumgehen.“ Das lepperte sich. Am Ende waren rund 500.000 Mark beisammen. Geld, das die Streikenden gut gebrauchen konnten, denn da der Arbeitskampf illegal war, gab es von der IG Metall keinen Pfennig.
Im Jahr 1960, als Holger Mahler seine Maschinenschlosserlehre begann, hatte die Zukunft des Schiffbaus in Hamburg noch rosig ausgesehen. „Fünf Großwerften hatten wir in der Stadt mit rund 30.000 Mitarbeitern“, erzählt er. „Weitere 10.000 Menschen waren auf den vielen mittleren und kleineren Werften beschäftigt.“ Ein Pott nach dem anderen lief vom Stapel. Schöne, große und supermoderne Schiffe. Es gab Arbeit ohne Ende. Hamburg war der leuchtendste Stern am internationalen Schiffbauhimmel.
Ölpreiskrise und asiatische Konkurrenz: Wie Hamburgs Werften zugrunde gingen
Doch dieser Stern begann zu sinken. Das große Problem: Die Konkurrenz aus Japan und Korea. Die Schiffe, die in den dortigen Werften gebaut wurden, konnten mithalten, waren gut – und gleichzeitig sehr viel billiger. Vor allem den deutschen Werften ging ein Auftrag nach dem anderen verloren. Die Lage verschlimmerte sich noch durch die Ölpreiskrise 1973 und die Weltwirtschaftskrise Anfang der 80er Jahre. Der Bedarf an Schiffsneubauten sank, und ein Standort nach dem anderen machte dicht.

Die HDW – 1968 aus einer Fusion von Holdwaldtswerken und Deutscher Werft entstanden – musste darauf reagieren: 1972 wurde das Werk Finkenwerder geschlossen, 1982 war dann auch im Werk Reiherstieg Schluss. In Hamburg hatte die HDW nur noch das Werk Ross. Innerhalb von 15 Jahren war die Zahl der Arbeitsplätze von mehr als 11.000 auf 4600 zusammengeschrumpft.
„Uns im Betriebsrat war klar, dass das immer noch nicht das Ende der Fahnenstange war“, so Holger Mahler. „Wir wussten, wenn wir uns nicht wehren, machen die scheibchenweise so weiter und entsorgen uns irgendwann ganz.“
Das Unheil kam tatsächlich schneller als gedacht: Der letzte Neubau lief am 25. Februar 1983 vom Stapel – die „Karsten Wesch“, ein Mehrzweckfrachtschiff. Danach gab es keine Aufträge mehr, und HDW-Vorstandsvorsitzender Klaus Ahlers ließ wissen: „Wir haben kein Geld, Leute zu bezahlen, für die keine Arbeit da ist.“ Im Frühjahr 1983 dann der Schock: Da erfuhr die HDW-Belegschaft aus der Zeitung, dass allein in Hamburg 2000 Jobs gestrichen werden sollten – eine Zahl, die später auf knapp 1400 reduziert wurde.
„Dreh’n sie uns die Lichter aus, holen wir den Hammer raus“

Die Reaktion der Beschäftigten: grenzenlose Wut. Vor allem auf das Management, das es jahrelang versäumt hatte, andere Arbeit für die Werft an Land zu ziehen. Um zu beweisen, dass eine Sanierung auch ohne Entlassungen möglich ist, arbeiteten IG Metall und Betriebsrat einen alternativen Plan aus. Kernidee: die Erweiterung der Produktpalette. Wieso nur auf Schiffbau setzen? Warum nicht den Einstieg wagen in fortschrittliche ökologische Technologien? Etwa in den Bau von Fernwärmenetzen oder von Wasseraufbereitungsanlagen mit Sonnenkollektoren?
Spannende Ideen – die der Vorstand aber vom Tisch wischte. Das staatseigene Unternehmen – zu 74,9 Prozent gehörte die Werft dem Bund, zu 25,1 Prozent dem Land Schleswig-Holstein – hielt an den Entlassungen fest.

„Dreh‘n sie uns die Lichter aus, holen wir den Hammer raus!“ Das war die Antwort der Werftarbeiter. Es kam zu Warnstreiks, Beschäftigte zogen zu Tausenden in Arbeitskleidung und mit Transparenten durch Hamburgs City. Sehr aktiv waren auch die Frauen der HDW-Beschäftigten. Sie schlossen sich mit den Frauen der ebenfalls von Entlassung bedrohten Arbeiter des MAN-Kesselbaus zusammen und machten Schlagzeilen, als sie an den Landungsbrücken in einen dreitägigen Hungerstreik traten.
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Der 12. September 1983: HDW-Belegschaft stimmt für Werksbesetzung

Gerade diese letzte, besonders öffentlichkeitswirksame Aktion der Frauen bestärkte die Werftarbeiter darin, nun selbst das Äußerste zu wagen: Am 12. September 1983 stimmte die Belegschaft auf einer Betriebsversammlung fast einstimmig für die Besetzung. „Ich hatte geahnt, wie es ausgeht“, so Holger Mahler schmunzelnd, „und deshalb morgens schon meine Campingliege in den Kofferraum gepackt. Bis auf eine Nacht war ich die ganze Zeit im Betrieb.“
Die Nachricht von der Werftbesetzung war in Windeseile im ganzen Land rum. Praktisch jede Zeitung berichtete, jeden Abend schafften es die HDW’ler in die Tagesschau. So erfuhren auch die Sänger Hannes Wader und Wolf Biermann davon – und entschlossen sich spontan, ein Solidaritätskonzert in der HDW-Kantine zu geben. „Die Kollegen waren begeistert von den Auftritten. So viel Unterstützung machte wirklich Mut, sage ich Ihnen“, erinnert sich Holger Mahler.

Hilfe für die Werftarbeiter kam auch vom Hamburger Senat. Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) legte ein eigenes Konzept zur Rettung der Werft vor. Die Stadt sei bereit, dem Unternehmen mit Millionenbeträgen unter die Arme zu greifen, falls der Schiffneubau in Hamburg erhalten bleibt. Dohnanyi und sein Bremer Amtskollege Hans Koschnick (SPD) forderten die Bundesregierung auf, zusätzliche Hilfen für deutsche Werften bereitzustellen. Unterdessen organisierte die Hamburger SPD zusammen mit der IG Metall vor den Toren von HDW ein großes Solidaritätsfest mit Würstchenbuden, Clowns und Sinfonieorchester. 5000 Hamburger kamen.
HDW-Arbeiter wurden getragen von der großen Solidarität der Bevölkerung
Nichts ließen die HDWler unversucht. Betriebsratschef Holger Mahler, IG-Metall-Bezirkssekretär Frank Teichmüller und IG-Metall-Bezirksleiter Otto vom Steeg reisten sogar nach Bonn, um Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg (CDU) im persönlichen Gespräch davon zu überzeugen, der HDW noch eine Chance zu geben. Doch der „Eisklotz aus dem Norden“ (O-Ton Mahler) schüttelte nur mit dem Kopf. „Er sagte zu uns, die Entlassungen müssten sein, um den Restbetrieb zu retten.“

Montag, 19. September 1983: Der Tag der Entscheidung. In Salzgitter kam der HDW-Aufsichtsrat zusammen. Das Wunder, auf das die Arbeiter hofften, blieb aus: Nach zwölfstündiger Sitzung gab das Gremium grünes Licht für das Sanierungskonzept des Vorstandsvorsitzenden Ahlers, der daraufhin der Belegschaft ein Ultimatum stellte: „Ab Dienstagabend wird wieder gearbeitet, andernfalls werden die Besetzer fristlos gekündigt und auf Schadenersatz verklagt!“
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Was jetzt? Trotzdem weitermachen? Viele Arbeiter waren dafür. Aber bei der Betriebsversammlung stimmte dann doch eine Mehrheit für das Ende des Streiks. Der Kampf war verloren. Erwachsene Männer schlugen die Hände vors Gesicht und weinten. Trauer legte sich wie ein schwarzes Tuch über den Betrieb. Friedhofsstimmung. Neun Tage Werksbesetzung waren umsonst.

Knapp 1400 Arbeiter verlieren ihren Job – und die anderen bald danach auch
1400 Werftarbeiter verloren wie angedroht ihren Job. Und von wegen die Entlassungen würden dazu beitragen, den Restbetrieb zu erhalten…: Nachdem 1986 Blohm + Voss das Werk Ross übernommen hatte, kam es erneut zu Entlassungen, Kurzarbeit musste angemeldet werden. 1989 schließlich gingen ganz die Lichter aus. Betriebsstilllegung. Damit war es besiegelt: das Schicksal des einst größten Hamburger Arbeitgebers.
Und wie ging es für Holger Mahler weiter? Bei der Übernahme des Werks Ross wollte Blohm + Voss den streitlustigen Betriebsratsvorsitzenden nicht weiter beschäftigen – die Bosse hatten wohl Angst vor neuen Werksbesetzungen. Mahler wurde Personalchef der Beschäftigungsgesellschaft Ökotech, die für ehemalige HDW-Arbeiter gegründet wurde. Später leitete er als Geschäftsführer den Verein für Traditionsschiffe, der sich um die Restaurierung etwa der „Cap San Diego“ und der „Rickmer Rickmers“ kümmerte und beim Aufbau des Hafenmuseums half.

Inzwischen ist Mahler 77 Jahre alt, Rentner und außerdem Vorsitzender des Fördervereins Hafenkultur. Wenn er sich was wünschen dürfte, was wäre das? „Dann möchte ich nochmal zurück ins Jahr 1983“, sagt er grinsend. „Und ich würde alles wieder genauso machen.“
Unser Tipp: Im Museum der Arbeit, Wiesendamm 3 in Barmbek, gibt es noch bis zum 3. Oktober die Fotoausstellung „Streik! Fotogeschichten von Arbeitskämpfen“. Dabei geht es unter anderem um die HDW-Werksbesetzung 1983.