Hunger als Folter: Marino Ruga und sein erschütterndes Hamburg-Tagebuch
Es gibt kaum Worte dafür, was Marino Ruga und seine Kameraden in Hamburg durchgemacht haben. Sie waren ständig der Willkür ihrer Bewacher ausgeliefert, die Hunger als Folter einsetzten und die Essensrationen ständig kürzten. Die 20 Monate, die Marino Ruga (1920-2013) in Hamburg verbrachte, waren die schlimmsten seines Lebens. Sein mehr als 80 Jahre alte Tagebuch sorgt gerade für Aufsehen unter Geschichtsinteressierten in Hamburg. Es dokumentiert: Sein Leben und das der 15.000 anderen italienischen Militärinternierten im Zweiten Weltkrieg war geprägt von Schikane, zermürbender Arbeit, bitterer Kälte, vor allem aber von Hunger, Hunger, Hunger.
Es ist der 22. November 1943. Ein Montag. In dem fensterlosen Bunker in Rothenburgsort, in dem er und seine Kameraden eingesperrt sind, sitzt der 23-jährige Marino Ruga auf einer Pritsche und vertraut seinem Tagebuch an: „Ich habe beschlossen, etwas Unterwäsche für Brot zu verkaufen.“ Für das einzige Paar Wollunterhosen, das er noch hat, hätten ihm Zivilisten drei Brote angeboten, schreibt er. Und morgen will er dann seinen Füllfederhalter, danach seinen silbernen Ring eintauschen. Alle seine Gedanken drehen sich nur um das eine Thema: Wie werde ich satt?
Das mehr als 80 Jahre alte Tagebuch des Italieners Marino Ruga (1920-2013) sorgt gerade für Aufsehen unter Geschichtsinteressierten in Hamburg. Es ist jetzt ins Deutsche übersetzt und von der „Projektgruppe Italienische Militärinternierte in Hamburg 1943-45“ als Buch publiziert worden: Es handelt sich um ein einzigartiges Zeitdokument, das in authentischer Weise vom Schicksal der 15.000 italienischen Militärinternierten (IMI) erzählt, die während des Zweiten Weltkriegs in Hamburg festgehalten wurden. Sie zählen heute zu den vergessenen Opfern des Nationalsozialismus. Das Tagebuch dokumentiert: Marino Rugas Leben und das seiner Leidensgenossen war geprägt von Schikane, zermürbender Arbeit, bitterer Kälte, vor allem aber von Hunger, Hunger, Hunger.

Als die Italiener 1943 die Fronten wechselten, rächten sich die Deutschen furchtbar
Marino Ruga wird im Februar 1920 in Varallo Sesia im Piemont geboren. Sein Vater arbeitet als Schrankenwärter bei der italienischen Staatsbahn, seine Mutter ist Hausfrau. Der Sohn verdient seinen Lebensunterhalt zunächst als Landarbeiter, später in einer Porzellanfabrik. Dann wird er 1940 zum Militär einberufen.
Ruga nimmt 1940 am Frankreich-Feldzug der deutschen Wehrmacht teil, wird später in das von italienischen Truppen besetzte Albanien versetzt. Das faschistische Italien Benito Mussolinis und Hitler-Deutschland kämpfen im Zweiten Weltkrieg zunächst Seite an Seite.

Bis zum 8. September 1943. Das ist der Tag, der alles verändert.
Das italienische Volk ist kriegsmüde geworden. Bereits im Juli hat König Viktor Emanuel III. Mussolini entlassen und festnehmen lassen. Nun nutzt der neue Regierungschef Pietro Badoglio die Gelegenheit und schließt Waffenstillstand mit den Alliierten. Aus Sicht der Nazi-Führung ist das Verrat. Die Wut der Deutschen bekommen die italienischen Soldaten zu spüren, die bis dahin Waffenbrüder gewesen sind: Von den 650.000 Italienern, die sich meist widerstandslos entwaffnen und gefangennehmen lassen, werden 11.000 ermordet, die übrigen, darunter Marino Ruga, nach Deutschland gebracht, und zu „Militärinternierten“ erklärt. So können sie ohne Rücksicht auf das Völkerrecht als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden – was mit Kriegsgefangenen nicht ohne weiteres möglich wäre.
Mehr als 600.000 Italiener müssen in Deutschland Zwangsarbeit leisten

Die Italiener erhalten gekürzte Lebensmittelzuteilungen, werden gedemütigt und erniedrigt und nicht selten von der aufgehetzten Bevölkerung mit Steinen beworfen und bespuckt. Unter den zahlreichen Zwangsarbeitern in Nazi-Deutschland sind nur die Lebensumstände der sowjetischen Gefangenen noch menschenunwürdiger als die der sogenannten „Badoglio-Verräter“.
Das könnte Sie auch interessieren: Italiener wurden bespuckt, beschimpft und ausgebeutet
Für Marino Ruga beginnt mit seiner Festnahme in Albanien eine 20 Monate währende Leidenszeit. Zunächst wird er in das Kriegsgefangenenlager Sandbostel (Landkreis Rotenburg/Wümme) überstellt und von dort mit 200 weiteren Kameraden dem Hamburger Wasserwerk in Rothenburgsort zugeteilt. Untergebracht sind die Männer in einem fensterlosen Bunker, der sich direkt neben dem Wasserturm befindet. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang müssen Marino Ruga und seine Kameraden schuften.
Lieber Gefangenschaft als Krieg

In der Gefangenschaft wird Ruga und seinen Kameraden mehrmals ein Angebot gemacht: Dass sie freikommen könnten, wenn sie sich bereit erklärten, einen Eid auf Mussolini zu schwören, der inzwischen mit deutscher Hilfe aus der Haft entflohen ist und in Salò am Gardasee einen von Deutschland abhängigen norditalienischen Marionettenstaat gegründet hat. Als sie vor die Wahl gestellt wurden, habe nicht ein einziger Kamerad seine Hand gehoben, schreibt Ruga. Niemand habe wieder für die Faschisten in den Krieg ziehen wollen. Dann lieber Gefangenschaft.
Rugas Arbeitsplatz bei den Hamburger Wasserwerken sind die Filterbassins auf der Elbinsel Kaltehofe, in denen damals das Elbwasser filtriert wird, bevor es in den Hamburger Haushalten als Trinkwasser aus dem Hahn kommt. Zu den Aufgaben der Zwangsarbeiter gehört es, regelmäßig nassen Sand und Kies mit Hilfe von Loren und Schubkarren zur sogenannten Sandwäsche zu bringen, wo das Filtermaterial gereinigt wird – eine körperlich äußerst anstrengende Arbeit, vor allem im Winter, bei Schnee und Frost. Nichtmal Handschuhe haben die Männer.

Trotz der schweren Bedingungen im Lager führt Ruga anfangs täglich Tagebuch. Er nutzt dafür Hefte, Zettel und was ihm sonst in die Hände fällt. Die wiederkehrenden Themen sind die schwere Arbeit, die Sehnsucht nach den Lieben daheim, die Hoffnung, dass die Gefangenen endlich die Erlaubnis bekommen, Briefe zu schreiben. Vor allem aber: der Hunger. Ganz bewusst kürzen die Bewacher regelmäßig die Rationen, um die Italiener dazu zu bringen, doch noch auf Mussolinis Seite zu wechseln.

Ruga berichtet, wie er und seine Kameraden in ihrer Not in den Trümmern der zerbombten Häuser von Rothenburgsort nach Nahrungsmitteln suchen. Das Risiko ist groß: Wer beim „Plündern“ in den Ruinen erwischt wird, hat mit harten Strafe zu rechnen. Aber der Hunger ist noch größer als die Angst.
Ruga berichtet in seinem Tagebuch von einem deutschen Vorarbeiter, der ihm regelmäßig Lebensmittel zusteckt, er schildert Misshandlungen und Demütigungen und die ständigen Luftangriffe auf die Stadt. Wer das Tagebuch liest, spürt, dass es vor sein tiefer christlicher Glaube ist, der Ruga in schlimmen Stunden über Wasser hält und ihn trotz Hunger und Entbehrung nicht verzweifeln lässt.
Irgendwann kommt Ruga nur noch einmal wöchentlich dazu, in sein Tagebuch zu schreiben. Nach einigen Monaten hört er ganz damit auf. Er erwähnt, dass er aufgrund des Hungers nicht mehr die Kraft habe und dass er ohnehin immer nur das Gleiche schreiben könne. In seinen Aufzeichnungen klafft eine große Lücke zwischen Mitte Februar 1944 und März 1945. Das ist mehr als die Hälfte seiner Gefangenschaft. Was ihm in dieser Zeit widerfahren ist, ist daher unbekannt.
3. Mai 1945: Die Briten marschieren in Hamburg ein
Am 3. Mai 1945 marschieren die Briten in Hamburg ein, und Marino Rugas Gefangenschaft endet. Bis Ende Juli 1945 ist er im alliierten Displaced-Person-Camp (DP-Camp) in Neugraben untergebracht und wartet ungeduldig auf die Rückkehr in die Heimat. In der Nacht vom 28. auf den 29. Juli 1945 ist es endlich soweit: Sein Zug in Richtung Italien setzt sich in Bewegung.

Wieder zurück in der Heimat wird den IMIs die Anerkennung als Widerstandskämpfer versagt. Von den linken Kräften im neuen Italien werden sie als Angehörige der geschlagenen faschistischen Armee wegen ihres Aufenthalts in Deutschland der Kollaboration verdächtigt, den Rechten gelten sie als Verräter, weil sie sich weigerten, Mussolinis Marionettenstaat zu unterstützen. Weil den ehemaligen Militärinternierten nur wenige Gehör schenken, schließen sie sich in Verbänden zusammen, um ihre Interessen zu vertreten. 1977 erkennt der italienische Staat die Weigerung der IMI, mit Faschisten zu kollaborieren, als widerständige Handlung an.
Lebensmittelverschwendung macht Marino Ruga wütend
Marino Ruga heiratet 1948, arbeitet von 1954 bis zu seiner Pensionierung 1976 in einer Papierfabrik. Er bekommt vier Söhne und eine Tochter. Von ihnen verlangt er stets Aufrichtigkeit und Respekt gegenüber anderen. Sohn Gianni erzählt, sein Vater sei äußerst streng im Umgang mit Essen gewesen. Es durfte nie etwas auf dem Teller zurückbleiben. Er wurde wütend, wenn jemand Lebensmittel verschwendete. Da er über die Zeit seiner Inhaftierung in Nazi-Deutschland nie gesprochen hat, haben die Kinder den Grund dafür nicht so recht verstanden.
Als Anerkennung für seine zahlreichen politischen und sozialen Verdienste wird Ruga 1969 zum „Cavaliere“ (Ritter) der Italienischen Republik ernannt. Er ist Gemeinderatsmitglied und engagiert sich für die Partei Democrazia Cristiana.
Nachdem er 2013 verstorben ist, stößt Sohn Gianni im Nachlass auf die Aufzeichnungen seines Vaters und erfährt, was der in Nazi-Deutschland durchgemacht hat. 2020 verleiht Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella Marino Ruga posthum die „Ehrenmedaille für die zwischen 1943 und 1945 in nationalsozialistische Lager deportierte und internierte italienische Staatsbürger“. 2021 gibt Sohn Gianni die Aufzeichnungen seines Vaters als Buch heraus: „Diario di un geniere“. Das „Tagebuch eines Pioniers“.
Übrigens: Die Bundesrepublik hat bis heute nicht einem der ehemaligen italienischen Militärinternierten eine Entschädigung gezahlt.

„Es scheint, dass sie Spaß daran haben, uns leiden zu sehen“
Das Tagebuch Marinos Rugas ist jetzt ins Deutsche übersetzt worden und von der „Projektgruppe Italienische Militärinternierte in Hamburg 1943-45“ als Buch herausgegeben worden. Hier einige Auszüge daraus:
Donnerstag, 11. November 1943: Sankt Martin ist ein trauriger Tag mit Regen und Kälte, und obendrein musste ich noch damit beginnen, weitere Ziegelsteine am Fluss zu entladen. Allgemeine Beschwerde aller Männer über die Unmöglichkeit zu arbeiten. Einschüchterungen und Drohungen von deutscher Seite, aber sie mussten sich damit abfinden. In der Tat geben sie uns am Nachmittag Handschuhe, um unsere bereits aufgeschürften Hände zu schützen… Sie haben uns heute Abend mitgeteilt, dass wir bald zweimal in der Woche nach Hause schreiben können. Hoffen wir: bald.
Samstag, 13. November 1943: In der Ferne hört man Flugzeuglärm und Explosionen. Heute Mittag haben sie uns keine Suppe ausgegeben, und das wird auch an allen folgenden Samstagen so sein. Um 20 Uhr trat für etwa eine Dreiviertelstunde ein Teil der städtischen Flugabwehr in Aktion. Aber keine Bombardierung.
Sonntag, 14. November 1943: Wie soll ein Mensch mit zehn Kartoffeln, einem kleinen Blechnapf Brühe, einem Stück Brot und einem Löffel Marmelade leben? Es ist besser, nicht darüber zu sprechen… Ich habe wieder um eine Untersuchung wegen meines Fußes gebeten und zwei Tage Stubendienst bekommen. Aber um einen gesegneten Teller Gemüsesuppe zu erhalten, gehe ich trotzdem zur Arbeit raus.
Mittwoch, 17. November 1943: Habe einen Franzosen zum Handeln mit dem Silberring gefunden, der mir dafür zehn Zigaretten und ein Kilo Brot gab. Letzteres passt sehr, da die uns zustehende Ration von eineinhalb Kilo für fünf Personen ab heute auf sechs Personen aufgeteilt wurde. Es verschlechtert sich anstatt besser zu werden.
Samstag, 20. November 1943: Auch heute mussten wir von nur einem Schöpflöffel Suppe, fünf Kartoffeln und der Brotration leben, die jetzt wieder zu einem Laib für neun geworden ist.
Samstag, 27. November 1943: Auf Anordnung der Regierung ist es verboten, uns Italiener irgendetwas weiterzuverkaufen. So wollen sie uns zwingen, in die deutsche SS einzutreten. Es gibt mitfühlende Menschen, die uns heimlich zur Hilfe kommen.
Sonntag, 5. Dezember 1943: Da ich heute am Sonntag frei habe, nutzte ich den Tag zu einem Erkundungsgang in den Ruinen der umliegenden Gebäude. Die Toten, die man während dieser Unternehmung sieht, beeindrucken nicht mehr. Die Tour war kurz und völlig zufriedenstellend, denn ich fand etwas Käse, ein verbranntes, aber essbares Brot und etwas Fett und Dosen mit gesalzenem Fisch, hervorragend zum Würzen von Gemüse und Suppen.
Freitag, 17. Dezember 1943: Ein schwarzer Tag in jeder Hinsicht. Der Hunger stieg ins Unermessliche. Wir essen wieder nur einmal am Tag, wie in der ersten Zeit. Das, was man empfindet, ist unbeschreiblich; man würde verrückt werden, wenn man nur daran denkt. Aber es scheint, dass sie Spaß daran haben, uns leiden zu sehen, und man kann nicht viel sagen, sonst sagen sie zu uns, wir sollen für Mussolini kämpfen gehen.
Sonntag, 26. Dezember 1943: Auch heute sollte ein eher ruhiger Tag sein, aber für vier Menschen war er das ganz und gar nicht. Diese Kerle haben sich nicht nur von der Unterkunft entfernt, sondern zwei haben sich von der deutschen Polizei in den Trümmern auf der Suche nach Gegenständen oder Speisen erwischen lassen. Die beiden anderen waren auf der Suche nach Brennstoff herumgeschlendert. Die vier Pechvögel wurden für einige Stunden an einen Pfosten gebunden und ohne Essen und Zigaretten gelassen.