Herr über Leben und Tod: Wilhelm Kliem, der Menschenschinder vom KZ-Außenlager
Er war ein Menschenschinder. Einer, der Befriedigung dabei empfand, Herr über Leben und Tod zu sein. Friedrich-Wilhelm Kliem, Chef des KZ-Außenlagers Neugraben, schlug mit Peitschen und Stöcken auf die Gefangenen ein, und zwar so brutal, dass die Schmerzensschreie seiner Opfer selbst noch im entlegensten Teil des Lagers zu hören waren. Das Leiden der inhaftierten Frauen – kaum zu ertragen.
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Er war ein Menschenschinder. Einer, der Befriedigung dabei empfand, Herr über Leben und Tod zu sein. Friedrich-Wilhelm Kliem, Chef des KZ-Außenlagers Neugraben, schlug mit Peitschen und Stöcken auf die Gefangenen ein, und zwar so brutal, dass die Schmerzensschreie seiner Opfer selbst noch im entlegensten Teil des Lagers zu hören waren.
Geboren wurde Kliem am 1. Weihnachtstag 1896 im westfälischen Paderborn. Das erste Drittel seines Lebenslaufs hört sich bürgerlich, fast spießig an. Er besuchte die Volksschule, machte eine Tischlerlehre, bestand die Meisterprüfung. So weit, so normal. Kein Hinweis darauf, was für ein Sadist er tief in seinem Innersten war.
Erst das NS-Regime brachte den Unmenschen in ihm zum Vorschein: Bei Kriegsausbruch wurde Kliem 1939 zur Wehrmacht eingezogen. 1944 wechselte er zur SS, bei der er den Rang eines Hauptscharführers bekleidete. Er wurde zum Konzentrationslager Neuengamme versetzt und übernahm am 18. Oktober 1944 die Leitung des Frauenaußenlagers Neugraben.
Kliem wurde im Oktober 1944 Kommandant des Frauen-KZ Neugraben
Augenzeugen berichten von einer wahren „Schreckensherrschaft“. Kliem ließ Gefangene bewusst hungern und frieren. Bei kleinsten Verstößen benutzte er die Peitsche. Es war eine, deren Lederriemen am Ende mit Metallkugeln bestückt war. Jeder Schlag verursachte höllische Schmerzen.
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Die damals 24-jährige Lotte Lang, selbst Gefangene des Lagers, sagte 1946 vor Gericht gegen ihn aus. Sie beschrieb, wie rücksichtslos Friedrich-Wilhelm Kliem mit den Häftlingen umgegangen war: Die Insassin Erna Fuchs beispielsweise sei derartig brutal von ihm misshandelt worden, dass der breite Ledergürtel, den er dabei benutzte, entzweiging.
Laut Lotte Lang gehörte auch die KZ-Insassin Lea Kurz zu Kliems Opfern: Weil die Frau im Verdacht stand, Kartoffeln gestohlen zu haben, habe Kliem sie grün und blau geschlagen. „Hauptscharführer Kliem war ein solcher Sadist“, so Lotte Lang, „dass es ihm ein besonderes Vergnügen war, mit seinem Gummiknüppel beim Ausgang zu stehen und die Häftlinge in der Frühe mit brutalen Schlägen und Beschimpfungen in die Arbeit zu schicken und am Abend genauso zu empfangen.“
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Schauplatz der Taten: der Falkenbergsweg
Schauplatz dieser furchtbaren Taten: der Falkenbergsweg in Neugraben-Fischbek. Auf der unbebauten Seite der Straße erstreckt sich heute ein Naherholungsgebiet. An den Wochenenden sind Herbstspaziergänger unterwegs, Mountainbiker machen das Gelände unsicher, Hunde tollen herum und Jogger drehen ihre Runden. Wenn es nicht einen Gedenkstein gäbe, der daran erinnert, was für ein Grauen sich an diesem Ort ereignet hat, dann würde es niemand merken.
Vor Ort ist die MOPO mit Stephan Kaiser von der Geschichtswerkstatt Süderelbe verabredet, der über die Geschichte des KZ-Außenlagers Neugraben gut Bescheid weiß. Ohne ihn hätten wir die stummen Zeugen sicher übersehen: Von der Latrine und der Wasch- und Küchenbaracke sind noch die Fundamente erhalten, die allerdings längst von Pflanzen, Geäst und Wurzeln überwuchert sind. „Irgendwo hier“ sagt Kaiser, „müsste es noch einen Luftschutzbunker geben. Ältere Leute erzählen, dass sie nach dem Krieg darin gespielt haben. Aber den Eingang haben wir noch nicht entdeckt.“
Das Lager wurde ursprünglich für Hitlers gigantomanische „Führerstadt“-Pläne errichtet
Als das Barackenlager Falkenbergsweg gebaut wurde, dachte niemand an ein KZ. Stephan Kaiser erzählt, das Lager sei entstanden, weil die Nazis den Plan verfolgten, Hamburg in eine gigantomanische Führerstadt zu verwandeln: mit riesigem Gauhochhaus und einer Brücke so mächtig wie die Golden Gate in San Francisco. Sie sollte die Elbe von Teufelsbrück bis zum sogenannten Opferberg in Neugraben überspannen. Um dieses Mammutbauwerk aus dem Boden zu stampfen, sollten aus dem ganzen Reich 12.000 Arbeitskräfte herbeigeschafft werden. Das Lager war dazu gedacht, Bauarbeiter unterzubringen, die mit dem Bau von Wohnungen für diese Arbeitskräfte beginnen sollten.
Doch der Zweite Weltkrieg machte einen Strich durch die „Führerstadt“-Pläne. Gebraucht wurde das Barackenlager aber trotzdem, und zwar als Unterkunft für die vielen Zwangsarbeiter, die aus den von der Wehrmacht besetzten Gebieten herbeigeschafft wurden: Franzosen, Belgier, Litauer und Niederländer waren hier einquartiert und ab September 1943, als Italien Waffenstillstand mit den Alliierten schloss und so vom Verbündeten zum Feind wurde, auch sogenannte „Italienische Militärinternierte“ (IMI).
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Dann, im Jahr 1944, rückte die SS an und verwandelte das Areal direkt oberhalb des Fremdarbeiterlagers in ein Außenlager des KZ Neuengamme. Am 13. September 1944 trafen 500 meist aus Tschechien stammende jüdische Frauen ein, die zuvor in Auschwitz als „arbeitsfähig“ selektiert und dann nach Hamburg verfrachtet worden waren, statt – wie die meisten anderen – gleich in die Gaskammer geschickt zu werden.
Für die 500 Jüdinnen war das KZ Neugraben die Hölle auf Erden
Nun gab es zwei Lager direkt nebeneinander. Die Fremdarbeiter im vorderen Teil konnten sich relativ frei bewegen, konnten Briefe schreiben, Pakete empfangen, Kontakt zu ihren Familien daheim halten. Das Leben im benachbarten KZ-Lager dagegen war völlig anders: Die jüdischen Frauen durften sich nur in dem von Stacheldraht umzäunten Lagerkomplex bewegen. Dort lebten sie in zwei Wohnbaracken, die unterteilt waren in Räume von knapp 40 Quadratmetern für jeweils 22 bis 26 Frauen. Die Einrichtung bestand aus hölzernen Etagenbetten mit Strohsäcken, einem Tisch und einem Ofen.
Die Devise der Nazis lautete: Vernichtung durch Arbeit
Frühmorgens mussten die Frauen zum Zählappell auf dem Lagerplatz antreten. Unter Aufsicht älterer ehemaliger Zollbeamter und vier junger SS-Aufseherinnen wurden die ausgemergelten Frauen in zerlumpter KZ-Häftlingskleidung dann kolonnenweise durch die umliegenden Wohngebiete zu ihren Arbeitsorten geführt. Oftmals waren es stundenlange Fußmärsche bis dorthin.
Die Frauen mussten hart arbeiten. Sie wurden eingesetzt beim Bau von Behelfsheimen für Ausgebombte, beim Straßen- und Bunkerbau und beim Ausschachten von Gräben für Wasserleitungen. Nach schweren Luftangriffen auf Industrieanlagen im Hafen war es ihre Aufgabe, in Harburg und Moorburg beim Räumen von Trümmern zu helfen. Kurz vor Ende des Krieges, als die britischen Truppen immer näher kamen, mussten sie außerdem Panzergräben ausheben. Sämtliche Arbeiten verrichteten die Frauen ohne Handschuhe oder sonstigen Arbeitsschutz. Viele von ihnen hatten nicht mal Schuhe oder warme Kleidung – trotz winterlicher Temperaturen.
Das Ziel der SS lautete: Vernichtung durch Arbeit. Die Gefangenen wurden trotz der schweren Tätigkeit völlig unzureichend ernährt. Die Insassin Lotte Lang berichtete 1946 im Prozess gegen die Bewacher: „Die Mahlzeiten waren absolut nicht ausreichend. Frühstück: ein sehr schlechter Kaffee. Mittags: nichts. Zum Abendessen gab es eine sehr dünne Suppe, ca. 200 Gramm Brot, 2 Gramm Margarine und eine dünne Scheibe Wurst.“
Bei solch einem Speiseplan war klar: Wer überleben wollte, musste sich zusätzlich Lebensmittel organisieren. In Abfallbehältern und in den Kellern zerbombter Häuser suchten die Frauen nach Essbarem – wenn denn die Aufseher das zuließen. Während die Zöllner meist die Augen zudrückten, waren die SS-Aufseherinnen äußerst streng, schlugen und ohrfeigten die Gefangenen schon bei kleinsten Vergehen.
Selbst bei geringsten Vergehen prügelte Kliem die Frauen grün und blau
Der Kontakt zwischen Zivilisten und den KZ-Häftlingen war streng untersagt. Die meisten Deutschen hatten Angst, in Kontakt mit den Frauen zu treten. In einzelnen Fällen kam es aber vor, dass Anwohner die Frauen aus Mitleid in ihre Küche einluden und ihnen eine warme Mahlzeit gaben. Manchmal versteckten Anwohner oder Passanten Essen bei den Arbeitsstellen hinter Bäumen oder Mülleimern.
Hatten die Frauen ein Stück Brot oder ein paar Kartoffeln ergattert, hing alles davon ab, wie scharf sie bei der Rückkehr ins Lager durchsucht wurden. Fand Lagerleiter Kliem etwas bei ihnen, schäumte er vor Wut, ließ die Delinquentinnen niederknien und gab ihnen 25 Schläge mit einem Gummischlauch oder einem Knüppel. Eine Zeugin berichtet, dass Kliem einmal auf ein junges Mädchen so brutal eingedroschen habe, dass es starb.
Am 8. Februar 1945 wurde das Frauenaußenlager Neugraben aufgelöst. Die Häftlinge wurden in das Außenlager Tiefstack verlegt. Kliem blieb auch dort Lagerleiter. Das übrige Personal zog ebenfalls mit um.
Allerdings wurde das Lager Tiefstack schon nach kurzer Zeit wieder aufgelöst. Im Zuge der Räumung des KZ Neuengamme und seiner 86 Außenlager wurden die Frauen am 7. April 1945 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt, das eine Woche später, am 15. April 1945, von britischen Truppen befreit wurde. Wie viele von den 500 Häftlingen aus Neugraben das NS-Regime überlebten, ist nicht bekannt. In Bergen-Belsen starben viele Gefangene auch noch in den Tagen nach der Befreiung – an Hunger, Krankheiten und Entkräftung.
Kliem wurde 1946 vor Gericht gestellt: Nach neun Jahren wegen guter Führung entlassen
Und Friedrich-Wilhelm Kliem? Wurde er bestraft? Die Briten verhafteten den Menschenschinder von Neugraben im November 1945 und stellten ihn im Juli 1946 bei den Neuengamme-Prozessen im Hamburger Curio-Haus wegen Misshandlung von Gefangenen vor Gericht. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Sechs Zollbeamte und drei SS-Aufseherinnen bekamen Zuchthausstrafen zwischen sechs Monaten und drei Jahren.
Bereits nach neun Jahren wurde Kliem 1955 wegen guter Führung vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt. Er verschwand einfach von der Bildfläche.
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Und was wurde aus dem KZ-Außenlager in Neugraben? Nach dem Krieg diente es als Wohnunterkunft für sogenannte „Butenhamburger“: Familien, die während des Krieges evakuiert worden waren und nun in die Heimat zurückkehrten, lebten dort. Die alte SS-Baracke wurde als Kindertagesheim genutzt. Erst 1976 wurde das Lager abgerissen.